Beitragsnachforderung für Mitarbeiter von Kundentoiletten; Maßgeblichkeit des tarifvertraglich geschuldeten Arbeitsentgelts;
Zuordnung zu den Tarifverträgen des Gebäudereiniger-Handwerks; Täuschung beim Verwendungszweck des Trinkgeldes
Tatbestand:
Die Beteiligten streiten über eine Beitragsnachforderung i.H.v. 118.218,87 €, die der beklagte Rentenversicherungsträger für
die Jahre 2005 bis 2008 aufgrund eines aus seiner Sicht anzuwendenden allgemeinverbindlichen Tarifvertrages geltend macht.
Die Klägerin ist Inhaberin eines als "Reinigungsservice" bezeichneten Unternehmens (im Folgenden: Reinigungsservice), bei
dem die (ehemaligen) Beigeladenen zu 21) bis 43) - die Beigeladenen zu 25) und 36) sind zwischenzeitlich verstorben - beschäftigt
waren. Das Geschäftsmodell des Reinigungsservice besteht darin, vertraglich den Betrieb von Kundentoiletten in Einrichtungen
mit hoher Kundenfrequenz, wie in Kaufhäusern, Einkaufszentren oder Flughäfen, zu übernehmen. Hierzu schloss er Pacht- oder
Dienstleistungsverträge mit den Betreibern dieser Einrichtungen (im Folgenden: Auftraggeber), in denen er sich verpflichtete,
die Toilettenräume hygienisch sauber und in einwandfreiem Zustand zu halten, Verbrauchsgegenstände wie Toiletten- und Handtuchpapier
sowie Seife - teilweise auf Kosten der Auftraggeber - bereitzuhalten sowie in größeren Abständen eine Grundreinigung der gesamten
Anlagen durchzuführen. Einige dieser Verträge sahen Pachtzahlungen des Reinigungsservice an die Auftraggeber, andere Vergütungen
der Auftraggeber an den Reinigungsservice, wieder andere eine Unentgeltlichkeit im Verhältnis zwischen Auftraggeber und Reinigungsservice
vor. Allen diesen Verträgen gemein sind Regelungen, wonach von den Nutzern der Toiletten (Kunden) keine Entgelte verlangt
werden durften; teilweise war der Reinigungsservice jedoch ausdrücklich berechtigt, Behältnisse für Trinkgelder, gegebenenfalls
nebst entsprechenden Hinweisschildern, aufzustellen. Das vom Reinigungsservice zu stellende Personal, darunter die Beigeladenen
zu 21) bis 43), wurde ausschließlich aus diesen Trinkgeldeinnahmen bezahlt. Zwischen dem Reinigungsservice und seinen Beschäftigten
(darunter zahlreichen Altersrentnerinnen) wurden keine als solche bezeichneten Arbeitsverträge geschlossen. Die Klägerin ließ
die Beschäftigten vielmehr einen mit "Aushilfen - Personaldaten" überschriebenen Vordruck ausfüllen, dem u.a. die wesentlichen
Angaben zur Person sowie zu den wesentlichen Arbeitsbedingungen zu entnehmen sind. Die auszuübende Arbeit wird darin mit unterschiedlichen
Formulierungen ("Reinigungskraft", "Beaufsichtigung Kundentoiletten u. Verwaltung d. Trinkgelder", "Betreuung Toiletten/Reinigung",
"Reinigung Toiletten", "Betreuung von Kundentoiletten", "Servicekraft - WC Bereich", "Trinkgeldaufsicht", "Reinigung von Kundentoiletten
+ Trinkgeldaufsicht") beschrieben. Ferner war eine wöchentliche Arbeitszeit ab 6 und bis 25 Stunden bei einem "Einsatz nach
Bedarf" vorgesehen. Das vereinbarte Arbeitsentgelt bewegte sich zwischen 93 € und 360 € monatlich.
Aufgrund einer in der Zeit vom 24. November 2009 bis 25. Februar 2010 durchgeführten Betriebsprüfung für die Jahre 2005 bis
2008 erhob die Beklagte gegenüber der Klägerin mit Bescheid vom 1. März 2010, bestätigt durch den Widerspruchsbescheid vom
30. Juli 2010, eine Beitragsnachforderung in Höhe von 118.218,87 €. Zur Begründung führte die Beklagte u.a. aus, bei dem Betrieb
der Klägerin handele sich um einen Reinigungsbetrieb, der in den betrieblichen Geltungsbereich der allgemeinverbindlichen
Tarifverträge für die gewerblich Beschäftigten in der Gebäudereinigung falle. Die - hauptsächlich geringfügig - Beschäftigten
erhielten für ihre Arbeitsleistung einen Stundenlohn von 3,60 €. Nach dem allgemeinverbindlichen Lohn-Tarifvertrag für das
Gebäudereinigungshandwerk seien für den geprüften Zeitraum jedoch - in Abhängigkeit vom jeweiligen Einsatzort - Mindeststundenlöhne
zwischen 6,18 € und 8,15 € zu zahlen. Aufgrund der Nachberechnungen hinsichtlich des Mindestlohns lägen die Entgelte einiger
Beschäftigter über den Geringfügigkeitsgrenzen, so dass bei Überschreiten Versicherungspflicht vorliege.
Im Klageverfahren hat die Klägerin behauptet, ihr Unternehmen erbringe Reinigungsarbeiten nur in geringem Umfang. Zum überwiegenden
Teil ihrer Arbeitszeit würden die Mitarbeiter "den Teller bewachen" und quasi als Automaten handeln. An einigen Objekten,
etwa dem Taxistand des Flughafens T, dem Z oder dem A, würden die Mitarbeiter "mangels Betrieb" oftmals stundenlang lesen
oder fernsehen. Die Grundreinigung von Objekten würde entweder von einer beauftragten Gebäudereinigungsfirma oder dem Angestellten
S K (Sohn der Klägerin), ausgeführt. Die Klägerin hat wortgleiche, nicht unterschriebene "Erklärungen an Eides statt" von
drei Mitarbeiterinnen - darunter der Beigeladenen zu 22) - eingereicht.
Die Beigeladene zu 23) hat vorgebracht, sie habe qualifizierte Reinigungsarbeiten zu verrichten. Die Angestellten seien während
der Betriebszeit dazu angehalten, die Toilettenräume in ordentlich reinem Zustand zu halten, Toilettenpapier nachzulegen und
sich um andere Verbrauchsmaterialien zu kümmern.
Das Sozialgericht hat mit Urteil vom 29. August 2012 die Klage abgewiesen, weil die Beklagte die im Prüfzeitraum tarifvertraglich
vorgesehenen Mindestentgelte zutreffend als maßgebliche Bemessungsgrundlage für die Beiträge zur Sozialversicherung zugrunde
gelegt habe. Der Betrieb der Klägerin sei dem Geltungsbereich der einschlägigen Tarifverträge zuzuordnen, weil zu den dort
ausgeübten Tätigkeiten unstreitig solche der Gebäudereinigung im Sinne von § 1 Abs. 2 Satz 1 Nrn. 2 und 7 des Lohn-Tarifvertrages
(LTV 2003) vom 4. Oktober 2003 bzw. des Rahmen-Tarifvertrages (RTV 2003) gehörten. Dass es sich um einen Reinigungsbetrieb
handele, ergebe sich schon aus dem Namen des Betriebes sowie den vertraglich geschuldeten und tatsächlich ausgeübten Leistungen
des Betriebs der Klägerin und deren Mitarbeiterinnen. Die Toilettennutzer gäben deswegen Trinkgeld, weil vom Toilettenpersonal
mühevolle Reinigungsleistungen erbracht und erwartet würden. Die konkrete Tätigkeit der beschäftigten Arbeitnehmer sei nach
§ 1 Abs. 3 der Tarifverträge für die Tarifbindung unerheblich. In keinem der genannten Verträge mit den Auftraggebern gebe
es für die Klägerin eine Aufgabe, einen Trinkgeldteller zu bewachen. Im Übrigen seien die von der Klägerin im Prüfzeitraum
geleisteten Entgelte zwischen 3,60 € und 4,50 € evident sittenwidrig zu niedrig.
Gegen dieses ihr am 6. September 2012 zugestellte Urteil richtet sich die Berufung der Klägerin vom 25. September 2012, zu
deren Begründung sie vorträgt: Das Urteil des Sozialgerichts sei aufzuheben und der Rechtsstreit sei in der Hauptsache an
eine andere Kammer des Sozialgerichts zurückzuverweisen, da durch die Teilnahme einer Praktikantin an der Beratung und Abstimmung
der Kammer das Beratungsgeheimnis verletzt worden sei.
Nach der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts (BAG) komme es bei der Prüfung von Mischbetrieben entscheidend darauf an,
mit welchen Aufgaben die Arbeitnehmer des Betriebes überwiegend beschäftigt gewesen seien. Weder die Beklagte noch das Sozialgericht
hätten sich tatsächlich mit der Frage auseinandergesetzt, ob die Arbeitnehmer der Klägerin tatsächlich Arbeiten ausgeführt
hätten, die den betrieblichen Geltungsbereich des RTV umfassten. Keine der Ziffern nach § 1 Abs. 2 Ziffer 1 bis 7 des maßgeblichen
Tarifvertrages sei erfüllt. Nach der Rechtsprechung des BAG handele es sich bei Toilettenanlagen in Kaufhäusern und auf dem
Flughafen nicht um "öffentliche" im Sinne des Tarifvertrages, da diese Toilettenanlagen nur einem beschränkten Personenkreis
(nämlich den Kunden bzw. den Fluggästen) zur Verfügung stünden.
Die Klägerin beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 29. August 2012 sowie den Bescheid der Beklagten vom 1. März 2010 in der Gestalt
des Widerspruchsbescheides vom 30. Juni 2010 aufzuheben.
Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Sie hält die angefochtene Entscheidung für zutreffend.
Die Beigeladenen haben sich nicht zur Sache geäußert.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf den übrigen Inhalt der Gerichtsakten
und der beigezogenen Verwaltungsakte der Beklagten, die Gegenstand der mündlichen Verhandlung waren, Bezug genommen.
Entscheidungsgründe:
Die zulässige Berufung ist unbegründet. Zu Recht hat das Sozialgericht die Klage abgewiesen. Die angefochtenen Bescheide sind
rechtmäßig.
A. Der Senat kann offenlassen, ob das sozialgerichtliche Urteil deshalb an einem Verfahrensmangel leidet, weil an der Beratung
der Kammer auch eine studentische Praktikantin teilgenommen hat. Selbst wenn ein Verfahrensmangel vorläge, zwänge dieser den
Senat nicht zur Zurückverweisung an das Sozialgericht, weil die Voraussetzungen des §
159 Sozialgerichtsgesetz (
SGG) nicht vorliegen: Das Sozialgericht hat in der Sache entschieden (vgl. §
159 Abs.
1 Nr.
1 SGG). Es ist auch weder behauptet noch anderweitig ersichtlich, dass wegen der - insoweit zu unterstellenden - Verletzung des
Beratungsgeheimnisses eine erforderliche umfassende und aufwändige Beweisaufnahme unterblieben ist (vgl. §
159 Abs.
1 Nr.
2 SGG). Andere Zurückverweisungstatbestände existieren nicht. Der Verfahrensmangel wäre auch nicht entscheidungserheblich, weil
die materiellrechtliche Entscheidung des Sozialgerichts nicht zu beanstanden ist (Rechtsgedanke des §
170 Abs.
1 Satz 2
SGG).
B. Die gegen die Bescheide der Beklagten vom 1. März 2010 und 30. Juni 2010 gerichtete Anfechtungsklage ist zulässig, aber
unbegründet. Diese Bescheide sind nicht zu beanstanden. Die Klägerin hat die im Bescheid vom 1. März 2010 als "KV", "PV, "RV"
und "BA" gekennzeichneten Beiträge zur Kranken-, Pflege- und Rentenversicherung sowie zur Bundesagentur für Arbeit und die
als "U1" und "U2" gekennzeichneten Umlagebeiträge nach dem Lohnfortzahlungsgesetz für die Differenz zwischen dem tatsächlich gezahlten Lohn und dem für allgemeinverbindlich erklärten Mindestlohn zu tragen.
I. Rechtsgrundlage für die Nachforderung ist § 28p Abs. 1 Satz 5 des Sozialgesetzbuchs/Viertes Buch (
SGB IV). Danach erlassen die Träger der Rentenversicherung im Rahmen der Prüfung bei den Arbeitgebern Verwaltungsakte zur Versicherungspflicht
und Beitragshöhe in der Kranken-, Pflege- und Rentenversicherung sowie nach dem Recht der Arbeitsförderung einschließlich
der Widerspruchsbescheide gegenüber den Arbeitgebern; insoweit gelten §
28 h Abs.
2 SGB IV sowie § 93 i.V.m. § 89 Abs. 5 Sozialgesetzbuch/Zehntes Buch (SGB X) nicht. Hierzu prüfen die Träger der Rentenversicherung bei den Arbeitgebern gemäß §
28 p
SGB IV, ob diese ihre Meldepflichten und ihre sonstigen Pflichten nach diesem Gesetzbuch, die im Zusammenhang mit dem Gesamtsozialversicherungsbeitrag
stehen, insbesondere die Richtigkeit der Beitragszahlungen, ordnungsgemäß erfüllen.
Nach §
28e Abs.
1 SGB IV hat der Arbeitgeber den Gesamtsozialversicherungsbeitrag an die Einzugsstelle - dies ist gemäß §
28h SGB IV die Krankenkasse - zu zahlen. Nach §
28d SGB IV werden die Beiträge in der Kranken-, Pflege- und Rentenversicherung für einen kraft Gesetzes versicherten Beschäftigten sowie
der Beitrag aus Arbeitsentgelt aus einer versicherungspflichtigen Beschäftigung nach dem Recht der Arbeitsförderung als Gesamtsozialversicherungsbeitrag
gezahlt.
Bemessungsgrundlage für den Gesamtsozialversicherungsbeitrag (§
28d Satz 1
SGB IV) ist das Arbeitsentgelt aus der versicherungspflichtigen Beschäftigung (§ 226 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 Sozialgesetzbuch/Fünftes Buch; § 57 Abs. 1 Sozialgesetzbuch/Elftes Buch; § 162 Nr. 1 Sozialgesetzbuch/Sechstes
Buch; § 342 Sozialgesetzbuch/Drittes Buch). Desgleichen ist das Arbeitsentgelt Bemessungsgrundlage der Umlagebeiträge ("Umlage
U2") für die Mittel zur Durchführung des Ausgleichs der Arbeitgeberaufwendungen in Kleinbetrieben nach §
14 Mutterschutzgesetz i.V.m. § 10 Abs. 1 Nr. 1 und 2 Lohnfortzahlungsgesetz. Für die Feststellung der Höhe des Arbeitsentgeltes und damit auch der Beitragshöhe gilt das Entstehungs- und nicht das Zuflussprinzip.
Dies ist zwischen den Beteiligten mit Recht nicht umstritten. Maßgeblich ist daher das (tarifvertraglich) geschuldete Arbeitsentgelt.
II. Die Höhe des geschuldeten Arbeitsentgelts ergibt sich hier aus insoweit allgemeinverbindlichen Tarifverträgen für den
Bereich der Gebäudereinigung.
1. Für den Zeitraum 1. Januar 2004 bis 29. Februar 2008 ergibt sich das maßgebliche tarifvertragliche Arbeitsentgelt der Beigeladenen
zu 21) bis 43) aus dem LTV für die gewerblich Beschäftigten in der Gebäudereinigung vom 4. Oktober 2003 und der Bekanntmachung
des Bundesministeriums für Wirtschaft und Arbeit über die Allgemeinverbindlicherklärung (AVE) eines Tarifvertrages für das
Gebäudereinigerhandwerk vom 21. April 2004 (BAnz 2004 Nr. 80, S. 9370).
Nach § 5 Abs. 1 TVG in der bis zum 7. November 2006 geltenden Fassung konnte das (damalige) Bundesministerium für Wirtschaft und Arbeit einen
Tarifvertrag nach näheren gesetzlichen Maßgaben für allgemeinverbindlich erklären. Mit der AVE erfassen die Rechtsnormen des
Tarifvertrags in seinem Geltungsbereich auch die bisher nicht tarifgebundenen Arbeitgeber und Arbeitnehmer (§ 5 Abs. 4 TVG). Mit seiner o.g. Bekanntmachung erklärte das Bundesministerium für Wirtschaft und Arbeit den LTV mit Wirkung zum 1. April
2004 für allgemeinverbindlich. Der Geltungsbereich dieses LTV betraf nach seinem § 1:
I. Räumlich
Das Gebiet der Bundesrepublik Deutschland.
II. Betrieblich
Alle Betriebe, die folgende, der Gebäudereinigung zuzurechnenden Tätigkeiten ausüben:
1. Reinigung, pflegende und schützende Nachbehandlung von Außenbauteilen an Bauwerken aller Art,
2. Reinigung, pflegende und schützende Behandlung von Innenbauteilen an Bauwerken aller Art, Gebäudeeinrichtungen, haustechnischen
Anlagen sowie von Raumausstattungen und Verglasungen,
3. Reinigung und Pflege von maschinellen Einrichtungen sowie Beseitigung von Produktionsrückständen,
4. Reinigung und Pflege von Verkehrsmitteln, von Verkehrsanlagen und -einrichtungen sowie von Beleuchtungsanlagen,
5. Reinigung von Verkehrs- und Freiflächen einschließlich der Durchführung des Winterdienstes,
6. Durchführung von Dekontaminationsmaßnahmen,
7. Durchführung von Desinfektions- und Schädlingsbekämpfungsmaßnahmen sowie von Arbeiten der Raumhygiene.
Die Betriebe fallen, soweit von ihnen oder in ihnen Gebäudereinigungsleistungen überwiegend erbracht werden, als Ganzes unter
diesen Tarifvertrag.
III. Persönlich
Alle Beschäftigten, die eine nach den Vorschriften über die Rentenversicherung der Arbeiter, gemäß dem 6. Buch des Sozialgesetzbuches
(
SGB VI), versicherungspflichtige Tätigkeit ausüben, einschließlich derjenigen, die gemäß §
8 (
SGB IV) eine geringfügige Beschäftigung ausüben, sowie die Auszubildenden.
Nach § 2 LTV galten für die Lohngruppe 1 folgende Stundensätze:
|
ab 01.04.2004
|
ab 01.01.2005
|
Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern, Thüringen, Sachsen-Anhalt, Sachsen
|
6,18 €
|
6,36 €
|
übrige Bundesländer
|
7,68 €
|
7,87 €
|
Die Beschreibung der Lohngruppe 1 ("Innen- und Unterhaltungsreinigungsarbeiten") findet sich in § 7 Ziff. 3.2 des RTV für
die gewerblichen Beschäftigten in der Gebäudereinigung vom 4. Oktober 2003. Die Eingruppierung richtet sich nach der überwiegenden
Tätigkeit, maßgeblich ist ausschließlich die tatsächlich ausgeübte Tätigkeit (§ 7 Ziff. 3.1.1). Dieser Tarifvertrag, dessen
Geltungsbereich identisch ist mit dem des LTV, ist allgemeinverbindlich seit dem 1. April 2004 aufgrund der AVE vom 19. März
2004 (BAnz. 2004 Nr. 66 S. 7093; vgl. Maier, NZA 2008, 1170f).
2. Für die ferner streitgegenständliche Zeit ab dem 1. März 2008 ergibt sich das maßgebliche tarifvertragliche Arbeitsentgelt
aus der Verordnung über zwingende Arbeitsbedingungen im Gebäudereinigerhandwerk vom 27. Februar 2008 (GebäudeArbbV, BAnz.
2008 Nr. 34, S. 762).
Rechtsgrundlage dieser am 1. März 2008 in Kraft getretenen Verordnung (§ 2) ist nach ihrer Eingangsformel § 1 Abs. 3a Arbeitnehmer-Entsendegesetz (AEntG; hier in der bis zum 23. April 2009 geltenden Fassung). Nach dessen Satz 1 kann das Bundesministerium für Arbeit und Soziales,
wenn ein Antrag auf AVE eines Tarifvertrages nach § 1 Absatz 1 oder Absatz 3 Satz 1 AEntG gestellt worden ist, unter den dort genannten Voraussetzungen durch Rechtsverordnung ohne Zustimmung des Bundesrates bestimmen,
dass die Rechtsnormen dieses Tarifvertrages auf alle unter den Geltungsbereich dieses Tarifvertrages fallenden und nicht tarifgebundenen
Arbeitgeber und Arbeitnehmer Anwendung finden. Unter den Geltungsbereich eines Tarifvertrages nach Absatz 1 oder Absatz 3
fallende Arbeitgeber mit Sitz im Inland sind u.a. verpflichtet, ihren Arbeitnehmern mindestens die in der Rechtsverordnung
vorgeschriebenen Arbeitsbedingungen zu gewähren (§ 1 Abs. 3a Satz 4, 1. Halbs. AEntG in der o.g. Fassung). § 1 GebäudeArbbV erstreckt diese Rechtsfolge auf die in der Anlage zur Verordnung aufgeführten Rechtsnormen des Tarifvertrages
zur Regelung der Mindestlöhne für gewerbliche Arbeitnehmer in der Gebäudereinigung im Gebiet der Bundesrepublik Deutschland
(TVMindestlohn) vom 9. Oktober 2007. Dieser Tarifvertrag, dessen Geltungsbereich nach seinem § 1 mit dem des o.g. RTV übereinstimmt,
sah im Hinblick auf die Lohngruppe 1 für Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern, Thüringen, Sachsen-Anhalt, Sachsen einen Mindestlohn
i.H.v. 6,58 € und für die übrigen Bundesländer i.H.v. 8,15 € vor (§ 2 Ziff. 1). Nach Ziff. 2 dieser Vorschrift umfasst die
Lohngruppe 1 folgende Tätigkeiten:
Innen- und Unterhaltsreinigungsarbeiten, insbesondere Reinigung, pflegende und schützende Behandlung von Innenbauteilen an
Bauwerken und Verkehrsmitteln aller Art, Gebäudeeinrichtungen, haustechnischen Anlagen und Raumausstattungen;
Reinigung und Pflege von maschinellen Einrichtungen sowie Beseitigung von Produktionsrückständen;
Reinigung von Verkehrs- und Freiflächen einschließlich der Durchführung des Winterdienstes
Die Arbeitnehmer werden aufgrund ihrer überwiegenden Tätigkeit in eine Lohngruppe dieses Tarifvertrages eingruppiert. Für
die Eingruppierung ist ausschließlich die ausgeübte Tätigkeit maßgebend (§ 2 Ziff. 3 Sätze 1 und 2 TVMindestlohn).
III. Das Unternehmen der Klägerin fällt in den betrieblichen Geltungsbereich der o.g. Tarifverträge, weil es Reinigungsleistungen
nach § 1 Abs. II Ziff. 2 und 7 LTV, § 1 Abs. II Ziff. 2 und 7 RTV und § 1 Ziff. 2 TVMindestlohn (im Folgenden: betrieblicher
Geltungsbereich) erbringt.
1. Was den betrieblichen und fachlichen Geltungsbereich von Tarifverträgen angeht, ist grundsätzlich nicht auf wirtschaftliche
Gesichtspunkte oder den Verwendungszweck von Arbeitsprodukten abzustellen, sondern allein auf die überwiegend in dem betreffenden
Betrieb zu leistende Arbeit (BAG, Urteil vom 17. Februar 1971 - 4 AZR 71/70 -, juris). Anzuknüpfen ist insoweit an die Merkmale, die dem Betrieb sein Gepräge geben, nicht aber seinen wirtschaftlichen
Zweck oder die arbeitstechnische Verwendung. Auch die Satzungen der tarifvertragsschließenden Koalitionen können berücksichtigt
werden (Treber, in: Schaub, 15. A., S. 2345). Werden die von den Tarifvertragsparteien verwendeten Begriffe nicht im Tarifvertrag
selbst definiert, ist davon auszugehen, dass sie den Begriff in dem Sinne gebraucht haben, wie er dem allgemeinen Sprachgebrauch
und dem der beteiligten Kreise entspricht, wenn nicht sichere Anhaltspunkte für eine abweichende Auslegung gegeben sind. Auf
handelsrechtliche oder gewerberechtliche Kriterien kommt es dabei nicht an (BAG, Urteil vom 25. Januar 2006 - 4 AZR 622/04 -, juris). In den verbleibenden Fällen ist auf den allgemeinen Sprachgebrauch abzustellen, der nach Grammatiken, Lexika und
Wörterbüchern, ggf. auch berufskundlichem Schrifttum (BAG, Urteil vom 10. Juni 2009 - 4 AZR 77/08 -, juris) zu erschließen ist.
2. Hieran gemessen stellt der Reinigungsservice einen Betrieb dar, der überwiegend die "Reinigung, pflegende und schützende
Behandlung von Innenbauteilen an Bauwerken aller Art, Gebäudeeinrichtungen, haustechnischen Anlagen sowie von Raumausstattungen"
(Ziff. 2 der o.g. tarifvertraglichen Regelungen) sowie "Arbeiten der Raumhygiene" (Ziff. 7 der o.g. tarifvertraglichen Regelungen)
ausübt. Kundentoiletten, d.h. sanitäre Anlage in Form von Toiletten nebst der dazugehörigen (Vor-)Räume, stellen sowohl Innenbauteile
eines Bauwerks als auch Gebäudeeinrichtungen dar. Sie zu reinigen, pflegend zu behandeln und die (Raum-)Hygiene in einem einwandfreien
Zustand zu (er-)halten, hat sich die Klägerin in sämtlichen dem Senat vorgelegten Verträgen mit ihren Auftraggebern verpflichtet.
Diese Arbeiten stehen daher im Zentrum der betrieblichen Tätigkeit des Reinigungsservice und geben ihm sein Gepräge. Etwas
anderes hat die Klägerseite auch zu keinem Zeitpunkt behauptet. Insbesondere fehlt es an jeglichem Vortrag, dass und ggf.
welche Arbeiten, die einer anderer Branche als dem Reinigungsgewerbe zuzuordnen wären, im Betrieb der Klägerin erbracht wurden.
Dass die Klägerin selbst ihr Unternehmen als der Gebäudereinigungsbranche zugehörig ansieht, hat sie im Übrigen - worauf das
Sozialgericht zu Recht hinweist - auch durch die Namenswahl ("Reinigungsservice") zum Ausdruck gebracht.
3. Die gegen die Anwendung der o.g. Tarifverträge gerichteten Einwendungen der Klägerin gehen an der Sache vorbei. Auf die
Rechtsprechung des BAG zur Anwendung von Tarifverträgen auf sog. Mischbetriebe, d.h. Betriebe mit mehreren arbeitstechnischen
Betriebszwecken, kommt es schon deshalb nicht an, weil der Reinigungsservice kein Mischbetrieb ist. Das desweiteren zitierte
Urteil des BAG vom 15. November 2006 (Az.: 10 AZR 769/05, juris) bezieht sich zum einen auf den nur bis zum 31. März 2004 geltenden und somit hier nicht einschlägigen RTV für die
gewerblichen Beschäftigten im Gebäudereiniger-Handwerk vom 16. August 2000; es enthält im Übrigen nur die Feststellung, dass
Kundentoiletten eines Flughafens keine "öffentlichen Toiletten" i.S.d. Erschwerniszuschläge vorsehenden Regelungen dieses
Tarifvertrages sind, betrifft aber - entgegen der klägerischen Darstellung - nicht die Frage, ob dieser Tarifvertrag überhaupt
auf die Reinigung von Kundentoiletten anwendbar war.
IV. Die Beklagte hat die Beschäftigten der Klägerin, darunter die Beigeladenen zu 21) bis 43), zutreffend der Lohngruppe 1
zugeordnet, weil sie überwiegend Arbeiten der Innen- und Unterhaltsreinigung i.S.v. § 7 Ziff. 3.2 des RTV bzw. § 2 Ziff. 2
TVMindestlohn verrichteten.
1. Macht ein Tarifvertrag - wie hier - die Eingruppierung von der überwiegend ausgeübten Tätigkeit abhängig, kommt es zunächst
darauf an festzustellen, ob der Arbeitnehmer eine einheitlich zu bewertende Gesamttätigkeit, eine überwiegend auszuübende
Teiltätigkeit oder mehrere selbständige Teiltätigkeiten zu erbringen hat. Die so ermittelten Bereiche sind tariflich zu bewerten
(BAG, Urteil vom 25. August 1993 - 4 AZR 577/92 -, juris, m.w.N.). Dabei ist nicht jeder Arbeitsschritt (hier: einer Arbeitnehmerin in der Gebäudereinigung) tariflich eigenständig
zu bewerten. Ob ihre Tätigkeit eine einheitlich zu bewertende Gesamttätigkeit ist oder sie aus mehreren jeweils eine Einheit
bildenden Einzeltätigkeiten besteht, die tariflich jeweils gesondert zu bewerten sind und daraus die überwiegende Gesamttätigkeit
zu bilden ist, richtet sich nach den gesamten Umständen des Einzelfalles. Für eine zusammenfassende Betrachtung von Tätigkeiten
können gesetzliche Bestimmungen, Verwaltungsvorschriften, Geschäftsverteilungspläne, Anschauungen innerhalb einer Behörde
oder eine behördliche Übung, aber auch der enge Zusammenhang der dem Angestellten übertragenen Aufgaben herangezogen werden.
Bei der Bestimmung der Einzeltätigkeiten hat das Tatsachengericht einen Beurteilungsspielraum (BAG, aaO.; Urteil vom 25. September
2013 - 4 AZR 99/12 -, juris, m.w.N.).
2. Hieran gemessen ist die Zuordnung der Beigeladenen zu 21) bis 43) zur Lohngruppe 1 nicht zu beanstanden.
a. Da es nach § 7 Ziff. 3.1.1 RTV 2003 bzw. § 2 Ziff. 3 Sätze 1 und 2 TVMindestlohn nur auf die tatsächlich ausgeübte Tätigkeit
ankommt, sind die sehr unterschiedlichen vertraglichen Bezeichnungen der von den Beschäftigten des Reinigungsservice zu verrichtenden
Arbeiten irrelevant. Ungeachtet der divergierenden Formulierungen sind dem Vorbringen der Klägerin darüber hinaus keine Anhaltspunkte
zu entnehmen, dass die Tätigkeiten der vom hiesigen Verfahren betroffenen Beschäftigten in entscheidungserheblichem Umfang
variieren. Lediglich die jeweils zum Betriebsschluss eingesetzte Mitarbeiterin hatte, anders als die vor ihr im Laufe eines
Arbeitstages tätigen, das eingenommene Geld zu zählen und einen Einnahmezettel auszufüllen. Diese Besonderheit betraf jedoch
grundsätzlich jede der zum Zeitpunkt des Betriebsendes eingesetzten Beschäftigten; dass sie von einer besonderen Qualifikation
oder Vertrauensstellung abhing, ist nicht erkennbar.
Ansonsten ergeben sich aus dem Vortrag der Klägerin folgende Teilaufgaben: regelmäßige Reinigung der Sanitäranlagen, Nachfüllen
von Seife und Toilettenpapier, Beaufsichtigung des eingenommenen Geldes oder der von Kunden kurzzeitig anvertrauten Gegenstände,
Unterstützung hilfebedürftiger, z.B. behinderter Toilettennutzer. Weitere "Tätigkeiten" wie Lesen, Fernsehen oder "Schwätzchen
halten" sind in die Gesamtbetrachtung nicht einzustellen, weil sie offenkundig lediglich der zeitlichen Überbrückung und dem
Füllen von Zeiten ohne sonstige Aufgabe dienen; solche typischen Freizeitaktivitäten stellen keine betrieblichen, vertraglich
geschuldeten oder arbeitsrechtlich relevanten ausgeübten Tätigkeiten dar, auch wenn sie während der Arbeitszeit ermöglicht
werden.
b. Kern dieser Teilaufgaben war offenkundig, die Kundentoiletten zu reinigen, sie dadurch in einem hygienisch einwandfreien
Zustand zu halten und Verbrauchsgegenstände wie Toilettenpapier und Seife nachzufüllen bzw. bereit zu halten. Hierzu hatte
sich die Klägerin ihren Auftraggebern gegenüber vertraglich verpflichtet, und zur Erfüllung dieser Verpflichtungen, d.h. als
Erfüllungsgehilfen i.S.v. §
278 BGB, setzte sie die Beschäftigten ein (dies in einem ähnlichen Fall ebenfalls bejahend: BGH, Beschluss vom 12. September 2012
- 5 StR 363/12 -, juris). Dabei waren die Reinigungsaufgaben nicht gering. Wie sich den eingereichten Verträgen der Klägerin mit Subunternehmern
entnehmen lässt, umfasste die lediglich in größeren Abständen durchzuführende Grundreinigung die Fliesenböden einschließlich
des untersten Bereichs der Wandfliesen. Die vertraglich mit den Auftraggebern vereinbarte täglich durchzuführende Unterhaltsreinigung
umfasste somit nicht nur die Toilettenanlagen an sich (Toilettenschüssel, -brille, ggf. -deckel, Urinale), sondern z.B. auch
Waschbecken und Spiegel. In den Verträgen kommen insoweit hohe Anforderungen der Auftraggeber an Sauberkeit, Hygiene und Ordnung
zum Ausdruck. Angesichts dessen stellen sich bei wertender Betrachtung die anderen von der Klägerin benannten Teilaufgaben
(Beaufsichtigung des eingenommenen Geldes oder der von Kunden kurzzeitig anvertrauten Gegenstände, Unterstützung hilfebedürftiger,
z.B. behinderter Toilettennutzer) als untergeordnete, dienende Tätigkeiten dar. So erscheint es z.B. lebensfern anzunehmen,
die Beschäftigten hätte die Entfernung von Exkrementen oder das Nachfüllen von Toilettenpapier unterbrechen dürfen, um die
Einkaufstaschen einer Kundin oder das eingenommene Geld zu beaufsichtigen.
c. Aufgrund dessen handelte es sich um eine einheitliche Gesamttätigkeit, die in der - z.T. mit den Auftraggebern wörtlich
so vereinbarten - Unterhaltsreinigung der Kundentoiletten bestand. Dieser Begriff der Unterhaltsreinigung ist mit dem tarifvertraglichen
gemäß Lohngruppe 1 identisch.
Die Tarifvertragsparteien haben davon abgesehen, den Begriff der Unterhaltsreinigung innerhalb des RTV näher zu bestimmen.
Es handelt sich auch um keinen in der Rechtsterminologie feststehenden Begriff. Deshalb ist die branchenspezifische Auffassung
für die Auslegung des Tätigkeitsmerkmales von Bedeutung (BAG, Urteil vom 30. Januar 2013 - 4 AZR 272/11 -, juris, m.w.N.). Das BAG ist bisher schon davon ausgegangen, dass die "Unterhaltsreinigung ... begrifflich schlechthin
das Reinigen und Pflegen eines Objektes zu dessen Unterhaltung zum Inhalt" hat. Unterhaltsreinigungsarbeiten sind "fortlaufende
und kontinuierl. auszuführende Reinigungsarbeiten, die dem Erhalt, dem Schutz und der Pflege von Gegenständen dienen, wobei
hierunter nicht nur Gebäude zu verstehen sind" (BAG, aaO., m.w.N.). Der Begriff der Gebäudereinigung erfasst u.a. die Ausstattung
von Räumen als Gegenstand einer Unterhaltsreinigung (BAG, aaO., m.w.N.). Nach § 1 Abs. II Ziff. 2 RTV sind der Gebäudereinigung
die "Reinigung, pflegende und schützende Behandlung von Innenbauteilen an Bauwerken aller Art, Gebäudeeinrichtungen, haustechnischen
Anlagen sowie von Raumausstattungen und Verglasungen" zuzurechnen. Die erläuternden Beschreibungen zur Lohngruppe 1 in § 2
Ziff. 2 TVMindestlohn bestätigen dies.
d. Dass die Reinigung von Sanitärbereichen zum Kernbereich der Gebäudereinigung zählt, ergibt sich im Übrigen aus den rechtlichen
Vorgaben für diesen Beruf. Das "Behandeln von Sanitärbereichen" ist nach dem von der Kultusministerkonferenz vom 25. März
1999 beschlossenen Rahmenlehrplan für den Ausbildungsberuf Gebäudereiniger/Gebäudereinigerin eines von insgesamt 11 Lernfeldern
und umfasst 100 von insgesamt 840 Unterrichtsstunden. Der Prüfungsbereich "Hygiene, Sanitär und Gesundheit" fließt zu rd.
einem Drittel in die Gesellenprüfung ein (§ 8 der Verordnung über die Berufsausbildung zum Gebäudereiniger/zur Gebäudereinigerin).
Damit übereinstimmend geht die Beigeladene zu 1) in ihren Informationen zum Beruf "Gebäudereiniger/in" davon aus, dass zu
den Aufgaben von Gebäudereiniger/innen nicht nur die Reinigung und Pflege sanitärer Einrichtung zählt, sondern darüber hinaus
auch der "Hygiene- und Sanitärservice" (http://berufenet.arbeitsagentur.de/berufe/berufId.do?_pgnt_act=goToAnyPage&_pgnt_pn=0&_pgnt_id=resultShort&status=T01).
e. Auf Zeiten der sog. Trinkgeldbewachung kommt es somit nicht an. Dieser Begriff ist ohnehin irreführend. Denn zum einen
handelt es sich bei dem von den Toilettennutzern hingegeben Geld nicht um Trinkgeld im rechtlichen Sinn (hierzu sogleich unter
g. aa.). Zum anderen diente der Aufenthalt der Beschäftigten in unmittelbarer Nähe des sog. Trinkgeldtellers nicht dessen
Bewachung. Die Klägerseite hat zu keiner Zeit behauptet, es habe die Gefahr bestanden, das von den Kunden hingegebene Geld
werde entwendet. Es ist aus Sicht des Senats auch nicht ernsthaft zu befürchten, dass an einem stark frequentierten Ort wie
dem Eingangsbereich der Kundentoilette z.B. eines Einkaufszentrums Münzgeld von eher geringem Wert gestohlen wird, zumal wenn
der Teller in regelmäßigen Abständen bis auf wenige Münzen von den Beschäftigten der Klägerin geleert wird. Das Neben-dem-Teller-Sitzen
verfolgt offensichtlich einen anderen Zweck: Durch die Anwesenheit der Beschäftigten entsteht ein Sozialkontakt, der seinerseits
eine Verknüpfung zwischen der gereinigten, hygienischen Toilette und dem hierfür als verantwortlich angesehenen Personal herstellt.
Hieraus wiederum resultiert ein gewisser sozialer Druck auf die Toilettennutzer, sich erkenntlich zu zeigen.Der Aufenthalt
der Beschäftigten der Klägerin in unmittelbarer Nähe des Trinkgeldtellers wirkt daher typischerweise als Aufforderung an die
Kunden, sich der sozialen Erwartung entsprechend zu verhalten. Weil die Schaffung eines solchen sozialen Drucks in anderen
Branchen, in denen die Zuwendung eines Trinkgelds stark verbreitet ist (z.B. in der Gastronomie, im Hotelgewerbe oder bei
Taxifahrten), unüblich ist, erscheint die vom Sozialgericht vorgenommenen Qualifizierung des sog. Trinkgeldbewachens als moderne
Bettelei als naheliegend.
f. Aber auch dann, wenn die Zeiten der Trinkgeldbewachung einbezogen würden, rechtfertigte dies kein anderes Ergebnis. Insbesondere
wären diese Zeiten nicht nur als (ggf. geringer zu vergütende) Arbeitsbereitschaft zu werten. Arbeitsbereitschaft wird in
Zeiten wacher Aufmerksamkeit im Zustand der Entspannung geleistet und unterscheidet sich darin von der sog. Vollarbeit, die
von den Beschäftigten ständige Aufmerksamkeit und Arbeitsbelastung verlangt (BAG, Urteile vom 17. Juli 2008 - 6 AZR 505/07 -, und 28. Januar 2004 - 5 AZR 530/02 -; BGH, Beschluss vom 12. September 2012 - 5 StR 363/12 -; jeweils juris). Von den Beschäftigten der Klägerin war ständige Aufmerksamkeit gefordert, um entstandene Verschmutzungen
zügig zu entfernen. Legt man den klägerischen Vortrag zugrunde, war sie aber auch im Hinblick auf den Trinkgeldteller notwendig:
Die klägerseitig insoweit behauptete Bewachungsaufgabe kann gerade nicht in einem - auf bloße Arbeitsbereitschaft hinweisenden
- Zustand der Entspannung erfüllt werden.
g. Unabhängig hiervon dürften die Zeiten, die die Beschäftigten der Klägerin mit der "Bewachung" des Trinkgeldes verbrachten,
auch aus einem weiteren Grund nicht in die erforderliche Gesamtbetrachtung einzubeziehen sein. Denn es spricht viel dafür,
dassdas Verhalten der Klägerin in Zusammenhang mit dem Trinkgeldteller einen Betrug i.S.v. §
263 Strafgesetzbuch darstellt(hierzu unter aa.). Dies schließt es aus, die damit zusammenhängenden Tätigkeiten bei der Prüfung, ob ein gesetzlich
angeordneter Mindestlohn zu zahlen ist, zugunsten der Klägerin zu berücksichtigen (hierzu unter bb.).
aa. Wer in der Absicht, sich oder einem Dritten einen rechtswidrigen Vermögensvorteil zu verschaffen, das Vermögen eines anderen
dadurch beschädigt, dass er durch Vorspiegelung falscher oder durch Entstellung oder Unterdrückung wahrer Tatsachen einen
Irrtum erregt oder unterhält, wird mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder mit Geldstrafe bestraft (§
263 Abs.
1 StGB). Diese Voraussetzungen sind im vorliegenden Fall erfüllt.
(1) Die Klägerin hat den Toilettennutzern durch das von ihr veranlasste Aufstellen eines Trinkgeldtellers, ggf. ergänzt durch
eine entsprechende Bitte um Trinkgeld auf einem in ihrem Auftrag aufgestellten Hinweisschild, eine falsche Tatsache vorgespiegelt
und sie dadurch getäuscht. Die vorgespiegelte Tatsache besteht im Verwendungszweck des Trinkgeldes.
(a) Trinkgeld ist ein Geldbetrag, den ein Dritter ohne rechtliche Verpflichtung dem Arbeitnehmer zusätzlich zu einer dem Arbeitgeber
geschuldeten Leistung zahlt (§ 107 Abs. 3 Satz 2 Gewerbeordnung - GewO -). Diese (arbeitsrechtliche) Legaldefinition deckt sich nicht nur mit dem allgemeinen Sprachgebrauch, sondern auch mit dem
steuerrechtlichen Begriff des Trinkgeldes. Nach §
3 Nr. 51 Einkommenssteuergesetz (
EStG) sind steuerfrei Trinkgelder, die anlässlich einer Arbeitsleistung dem Arbeitnehmer von Dritten freiwillig und ohne dass
ein Rechtsanspruch auf sie besteht, zusätzlich zu dem Betrag gegeben werden, der für diese Arbeitsleistung zu zahlen ist.
(b) Diesem Verwendungszweck dient das von der Klägerin vereinnahmte "Trinkgeld" nicht. Die von den Nutzern der Kundentoiletten
hingegebenen Beträge fließen den Arbeitnehmern der Klägerin nämlich nicht zusätzlich zu ihrem vertraglich vereinbarten Arbeitsentgelt
zu. Vielmehr wird dieses einzig und allein aus dem "Trinkgeld" finanziert.
Es besteht kein Erfahrungssatz und auch keine allgemeine Übung dahin, dass bei einer für den Nutzer erkennbar kostenlos erbrachten
Leistung - wie hier der Toilettennutzung -freiwillig hingegebene Geldbeträge stets dem Arbeitgeber zufließen, der hinter dem
erkennbar vor Ort agierenden Personal steht. Bei sozialtypischer Betrachtung ist gerade das Gegenteil der Fall, wie die o.g.
Vorschriften der GewO und des
EStG belegen. Ebenso wenigist die Hingabe von Geldbeträgen speziell an Reinigungskräfte bei kostenloser Inanspruchnahme öffentlich
zugänglicher Toilettenanlagen stets mit der Erwartung verbunden, das Geld diene (nur) dem Unterhalt der Anlage. In diesem
Fall wäre gerade die Erhebung eines bestimmten Nutzungsentgelts typisch. Schon gar nicht kann ein genereller Wille der Leistenden
angenommen werden, das an Toilettenanlagen freiwillig hingegebene Geld solle für die Bezahlung zusätzlichen Personals verwendet
werden, welches im Wesentlichen nur für das Einsammeln des Geldes vorgehalten wird, woran der Besucher naturgemäß kein Interesse
haben kann(ArbG Gelsenkirchen, Teilurteil vom 21. Januar 2014 - 1 Ca 1603/13 -, juris). Angesichts dessen liegt im Aufstellen eines Sammeltellers - zumal wenn die Beschäftigten der Klägerin in dessen
unmittelbarer Nähe sitzen - die Aufforderung an die Toilettennutzer, ein Trinkgeld zugunsten des Reinigungspersonals zu hinterlassen.
Damit aber täuscht die Klägerin die Toilettennutzer über den Verwendungszweck des von ihnen hingegebenen Geldes.
(2) Durch diese Täuschungshandlung wird bei den Kunden ein Irrtum erweckt. Dieser besteht darin, dass sie davon ausgehen,
das "Trinkgeld" komme den Arbeitnehmern zusätzlich zu dem ihnen arbeitsvertraglich geschuldeten Entgelt zu. In diesem Zusammenhang
ist unerheblich, aus welchem Grund - Anerkennung/Dank für eine saubere Toilette, Ansporn hierfür, Entschädigung für eine unangenehme,
sozial wenig anerkannte Tätigkeit - die Toilettennutzer ein "Trinkgeld" zurücklassen.
(3) Aufgrund dieses Irrtums verfügen die Nutzer der Kundentoiletten über ihr Vermögen, indem sie Geld in den bereit gestellten
Teller legen. Unerheblich ist, ob sie den gleichen Betrag - in Form eines vertragliche Bindungen erzeugenden Nutzungsentgelts
- auch überlassen hätten, wenn sie den wahren Sachverhalt (Finanzierung des Arbeitsentgelts allein aus dem "Trinkgeld") gekannt
hätten.
Zwar fehlt es an der erforderlichen Kausalität zwischen Irrtum und Verfügung, wenn der Getäuschte dieselbe Verfügung auch
ohne den Irrtum vorgenommen hätte, dieser also für die Verfügung nicht zumindest mitbestimmend war. Dies ist z.B. der Fall,
wen ein Patient vortäuscht, gesetzlich krankenversichert zu sein, jedoch in jedem Fall ins Krankenhaus aufgenommen worden
wäre. Demgegenüber ist eine Kausalität unproblematisch zu bejahen, wenn - wie hier - alleiniges Motiv der Verfügung die Täuschung
war, jedoch hypothetisch denkbar wäre, dass der Verfügende auch bei Kenntnis der wahren Sachlage, aber dann aus anderen Motiven
die gleiche Verfügung getroffen hätte, im hiesigen Fall die Nutzer der Kundentoilette denselben Betrag also auch hingegeben
hätten, wenn er als Entgelt für die Toilettennutzung gefordert worden wäre. Es reicht daher aus, dass - wie im vorliegenden
Fall - das durch Täuschung geschaffene Motiv für den Verfügenden mitbestimmendwar (Schönke/Schröder - Perron,
Strafgesetzbuch, 29. A., §
263 Rd. 77 m.w.N.).
(4) In Höhe des hingegeben Betrages ist den Kunden ein Vermögensschaden entstanden. Ein solcher liegt vor, wenn das Gesamtvermögen
nach der Verfügung geringer ist als zuvor (Perron, aaO., Rd. 99, m.w.N.). Ist sich der Verfügende indes der Vermögensminderung
bewusst, muss, weil eine bewusste Selbstschädigung keine Betrugsstrafbarkeit auslöst, bei der einseitigen Hingabe von Vermögenswerten
die Verfehlung eines sozial anerkannten Zwecks hinzutreten (sog. Bettel- oder Spendenbetrug, vgl. Perron, aaO., Rd. 101ff).
Der von den Toilettennutzern mit einem Trinkgeld verfolgte Zweck, das Vermögen der Arbeitnehmer zusätzlich zu der ihnen zustehenden
Vergütung zu bereichern, wird im Falle der Klägerin nicht erreicht, weil das "Trinkgeld" ausschließlich dazu dient, deren
Finanzbedarf zur Bezahlung der Arbeitsentgelte und ggf. Anschaffung der Verbrauchsmaterialien zu befriedigen. Das "Trinkgeld"
stellt im Ergebnis ein verkapptes Entgelt für die Toilettennutzung dar und hat Lohncharakter (vgl. BGH, Beschluss vom 12.
September 2012 - 5 StR 363/12 -, juris).
(5) Die Klägerin dürfte mit Vorsatz bezüglich allen vier o.g. Tatbestandsmerkmalen gehandelt haben, insbesondere auch im Hinblick
auf die o.g. Zweckverfehlung. Dieser Eindruck drängt sich dem Senat nach den ihm aus den Akten bekannten Tatsachen auf. Denn
die Klägerin hätte, wie sie im Widerspruchsverfahren hervorgehoben hat, feste Entgelte für einen Toilettengang von den Kunden
nicht erhalten. Damit hat sie unumwunden eingeräumt, dass nur das Aufstellen eines Tellers, verbunden ggf. mit einem Hinweis,
jedenfalls mit der o.g. Fehlvorstellung der Kunden über den Zweck des hinterlassenen Geldes, ihr überhaupt Einnahmen verschafft.
Bei ihr dürfte schließlich auch die Absicht bestanden haben, sich einen rechtswidrigen Vermögensvorteil zu verschaffen. Ohne
die o.g. Verfügungen der Kunden wäre ihr Vermögen geringer. Auf diese Vermögensmehrung hatte sie keinen Anspruch, weil sie
ein Entgelt für die Toilettennutzung nach den vertraglichen Vereinbarungen mit ihren Auftraggebern gerade nicht verlangen
durfte.Der beabsichtigte Vermögensvorteil war somit rechtswidrig.
bb. Soweit sich die Klägerin durch das Aufstellen von Trinkgeldtellern im streitgegenständlichen Zeitraum strafbar machte,
dürftesie daraus nicht anderweitige rechtliche Vorteile ziehen. Zwar fehlt es an ausdrücklichen Regelungen, welchen Einfluss
strafbares Verhalten auf die Anwendbarkeit von Mindestlöhnen hat oder haben kann. Der Grundsatz der Einheitlichkeit der Rechtsordnung
fordert jedenfalls, dass ein Arbeitgeber, der sich - wie die Klägerin - durch die Art seines Geschäftsmodells strafbar verhalten
dürfte, hierdurch keine Vorteile in anderen Rechtsbereichen erlangen darf. Dies wäre jedoch der Fall, wenn die von den Beschäftigten
der Klägerin mit dem Bewachen der "Trinkgeld"-Teller verbrachte Zeit zu deren Gunsten nicht auf die tarifvertraglich maßgeblichen
Arbeitszeitanteile angerechnet werden dürfte und die Klägerin deshalb nicht die Entgelte nach dem TVMindestlohn zahlen müsste.
V. Fehler in der Berechnung der Beitragsnachforderung sind weder vorgetragen noch anderweitig ersichtlich.
Die Revision ist nicht zuzulassen, weil Zulassungsgründe nach §
160 Abs.
2 SGG nicht ersichtlich sind.