Anerkennung allein einer psychischen Gesundheitsstörung als Arbeitsunfall
Beinaheunfall eines Lokführers
Unfallbegriff
Schockreaktionen
Tatbestand:
Streitig ist, ob ein Ereignis - mit einer psychischen Gesundheitsstörung - als Arbeitsunfall anzuerkennen ist.
Laut D-Arztbericht vom ... 2011 nahm der 1962 geborene und als Fahrdienstleiter bei der D. beschäftigte Kläger am 25. November
2011 gegen 10:35 Uhr einen Beinahe-Pkw-Zug-Unfall wahr. Da er entsprechendes nicht das erste Mal erlebt habe, habe ihn das
Ereignis überfordert und innerlich beunruhigt. Seitens des Städtischen Klinikums D. wurde der Verdacht einer traumatischen
Belastungsstörung geäußert.
Im Nachschaubericht vom 28. November 2011 hielt die D-Ärztin Dipl.-Med. P. fortbestehende innere Unruhe ("stehe wie neben
mir") sowie Schlafstörungen fest. Eine psychologische/psychotherapeutische Mitbehandlung sei dringend erforderlich. Arbeitsunfähigkeit
des Klägers liege voraussichtlich bis zum 9. Dezember 2011 vor. Auf telefonische Nachfrage (einer Rechtsvorgängerin) der Beklagten
teilte die Ärztin am 2. Dezember 2011 ergänzend mit, es habe am 25. November 2011 keine Verletzten gegeben, da der Pkw in
der Schranke hängen geblieben und der Fahrer ausgestiegen sei. Im März 2003 habe sich ein ähnliches Ereignis zugetragen, als
ein Zug mit einem Auto zusammengestoßen und ein Toter zu beklagen gewesen sei.
Nach der betrieblichen Unfallanzeige vom 28. November 2011 seien durch das Ereignis vom 25. November 2011 in D. beim Kläger
die Vorfälle vom 6. März 2003 (tödlicher Bahnunfall) sowie vom 23. September 2009 (Fastzusammenstoß zweier Züge) wieder in
der Erinnerung hervorgerufen worden.
Nach einem Vermerk (einer Rechtsvorgängerin) der Beklagten vom 2. Dezember 2011 habe der Kläger telefonisch mitgeteilt, er
habe aus dem Flachstellwerk die Durchfahrt des Zuges gestellt und die Schranke geschlossen. Dann habe er gesehen, wie ein
Auto unter der Schrankenanlage geklemmt habe. Der Zug sei dann vorsichtig am Auto vorbei gefahren, so dass nur am Auto und
der Schranke eine leichte Beschädigung aufgetreten sei. Der Fahrer des Pkw sei schon vorher ausgestiegen. Beim Ereignis im
März 2003 sei er selbst zwar nicht zugegen gewesen, habe jedoch seine Frau abgelöst, die ebenfalls als Fahrdienstleiterin
beschäftigt sei. Im September 2009 habe er als Fahrdienstleiter den Zusammenstoß zweier Züge verhindert.
Mit Bescheid vom 2. Dezember 2011 lehnte die Beklagte einen Anspruch auf Leistungen aus der gesetzlichen Unfallversicherung
aus Anlass des Geschehens vom 25. November 2011 ab, da ein eigentliches Unfallereignis im Sinne der gesetzlichen Unfallversicherung
als Ursache eines psychischen Gesundheitsschadens nicht stattgefunden habe. Der Kläger selbst habe sich zu keinem Zeitpunkt
in einer lebensbedrohlichen Situation befunden. Allein die Vorstellung eines Unfallereignisses sei für das Vorliegen eines
erforderlichen äußeren Ereignisses unzureichend. Es habe sich vielmehr um eine berufstypische Belastung gehandelt.
Hiergegen erhob der Kläger am 30. Dezember 2011 Widerspruch und führte zur Begründung unter dem 31. Januar 2012 aus, der Unfallbegriff
setze nicht zwingend einen physischen Vorgang voraus. Vielmehr könne z.B. auch ein Schockzustand infolge eines äußeren Ereignisses
einen Unfall darstellen. Nach Schließung der Schranke habe er wahrgenommen, dass sich ein Pkw trotz herannahenden Zuges auf
den Bahnübergang zubewegt habe und in der Schranke steckengeblieben sei. Dass der Pkw-Fahrer das Auto vor der Zugdurchfahrt
verlassen habe, habe er aus seiner Perspektive nicht erkennen können. Durch das Ereignis sei auch eine psychische Gesundheitsstörung
verursacht worden. Es könne auch nicht als typische berufliche Belastung bezeichnet werden, sondern habe eine extreme Ausnahmesituation
dargestellt, die ihn in einen Schockzustand versetzt und die zwei früheren Erlebnisse wieder hervorgerufen habe. Im Übrigen
habe das Bundessozialgericht (BSG) in seinen Entscheidungen vom 29. November 2011 (B 2 U 10/11 R und B 2 U 23/10 R) nochmals klargestellt, dass auch Beinahe-Unfälle Arbeitsunfälle sein könnten.
Mit Widerspruchsbescheid vom 26. März 2012 wies die Beklagte den Widerspruch als unbegründet zurück und führte hierzu vertiefend
aus, der betroffene Pkw habe objektiv nicht auf den Schienen gestanden. Die gesamte Gefahrensituation habe mithin nur der
Vorstellung des Klägers entstammt und sei mithin auf dessen Überängstlichkeit im Sinne einer inneren Unruhe zurückzuführen.
Hinsichtlich der früheren beiden unbekannten Ereignisse sei zu beachten, dass jeder Versicherungsfall für sich Gegenstand
gesonderter Feststellungsverfahren sei; eine Zusammenrechnung des Einflusses verschiedener Arbeitsunfälle sehe das Recht der
gesetzlichen Unfallversicherung nicht vor. Überdies setze eine Retraumatisierung eine schwere Bedrohungssituation voraus,
die hier zu relativieren sei. Denn vorliegend sei der Kläger - im Unterschied zu den vom BSG entschiedenen S-Bahnfahrerfällen - nicht direkt in den Beinahe-Unfall verwickelt, sondern lediglich Dritter gewesen, der
das Geschehen beobachtet habe.
Am 4. April 2012 hat der Kläger vor dem Sozialgericht (SG) Magdeburg Klage erhoben und nochmals darauf verwiesen, dass er aus seiner Position nicht habe erkennen können, dass der
Pkw unter der Schranke geklemmt habe. Vielmehr sei er von einem sich in Richtung Gleisanlage bewegenden Objekt und einer sicheren
Kollision zwischen Zug und Pkw ausgegangen. Erst nach dem 25. November 2011 sei er vom Bahnarzt als betriebsuntauglich eingestuft
worden. Bei der Untersuchung am 14. März 2011 habe noch Diensttauglichkeit bestanden. Am 2. Oktober 2013 habe der Bahnmedizinische
Dienst auf Dauer Betriebsuntauglichkeit attestiert.
Das SG hat den Reha-Entlassungsbericht der Kurklinik B. vom 16. Mai 2012 über den stationären Aufenthalt des Klägers vom 26. März
bis 30. April 2012 beigezogen, aus dem auf psychischem Fachgebiet die Diagnose mittelgradige depressive Episode hervorging.
Seit dem Ereignis im November 2011 leide der Kläger, der vor seiner Tätigkeit als Fahrdienstleiter auch als Notfallmanager
der Bahn gearbeitet habe, unter Antriebs-, Konzentrations- und Gedächtnisproblemen, innerer Unruhe, Augenzucken, Vibrieren
am Rücken sowie Zittern. Noch habe er keine Selbstmordgedanken. Es sei ihm lange Zeit gelungen, berufliche und private Belastungen
(Tod des Sohnes drei Tage nach der Geburt infolge Lungenentzündung im Jahr 1986, Tod des 37jährigen Halbbruders infolge Hirntumors
im Jahr 2010) zu kompensieren. Zu seiner eigenen Überraschung habe letztlich das Ereignis von November 2011 zu einer Dekompensation
geführt. Die gedankliche Vorwegnahme des Unfalls habe erhebliche Verunsicherung, Unruhe und Ängste ausgelöst sowie aus Sicht
des Klägers eine Wesensänderung im Sinne einer aggressiven Verhaltensweise bewirkt. Das Empfinden, mit seiner Problematik
unverstanden und abgeschoben zu werden, verstärke die Symptome. Bei noch verbliebenen Restbeschwerden erfolge die Entlassung
zunächst weiterhin als arbeitsunfähig. Zu empfehlen sei eine stufenweise Wiedereingliederung in die zuletzt ausgeübte Tätigkeit.
In ihrem auf Anforderung des SG erstellten Befundbericht vom 11. Februar 2013 hat die Fachärztin für Neurologie und Psychiatrie S. die Diagnosen Synkope
und Anpassungsstörung gestellt. Aus ihren beigefügten Berichten vom 9. Dezember 2010 sowie 6. Juni 2012 gingen ein zweimaliges
Kollabieren des Klägers während der Nachtschicht am 20. September 2010 (ergänzend Libidostörungen und Belastung durch den
Tod des Halbbruders) bzw. in Bezug auf den 25. November 2011 eine Unruhe am Auge, eine Leere im Kopf ("geflasht wie im standby,
aber innerlich auf Hochtouren") sowie ein unruhiger Schlaf ohne Träume hervor. Die geschilderte Symptomatik erfülle nicht
die Kriterien einer posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS), da flashbacks fehlten, jedoch diejenigen einer Anpassungsstörung.
Prinzipiell sei im Verlauf nicht davon auszugehen, dass der "Fast-Unfall" Auslöser der aktuellen Beschwerden sei. Sofern unter
der verordneten Medikation keine wesentliche Besserung eintrete, sei auch ein Rentenbegehren zu bedenken.
In dem vom Kläger vorgelegten Bericht vom 14. Juni 2013 stellte Dipl.-Psych. S. auf Grundlage seiner Befunderhebung vom 5.
Juni 2012 die Diagnose unfallbedingte Anpassungsstörung mit Angst und depressiver Störung (F43.22) sowie Symptomen einer PTBS
(F43.1). Nach Beendigung seines Dienstes am 25. November 2011 habe der Kläger am nächsten Morgen das Gefühl von "Krabbelkäfern
unter der Haut" verspürt, sein linkes Auge habe gezuckt und sein gesamter Körper gezittert. Er sei ohne Antrieb und verlangsamt
gewesen. An den Folgetagen habe ein erhöhtes Schlafbedürfnis bestanden; die Gedächtnisleistung sei beeinträchtigt.
Mit Gerichtsbescheid vom 20. Oktober 2014 hat das SG die Klage abgewiesen und hierzu in den Gründen ausgeführt: Der Kläger habe keinen Anspruch auf die Feststellung von Unfallfolgen,
da das Ereignis vom 25. November 2011 keine Gesundheitsstörung wesentlich verursacht habe. Eine PTBS sei von keinem Facharzt
diagnostiziert worden; die Stellungnahme eines Diplompsychologen könne eine ärztliche Diagnose nicht ersetzen. Es seien jedenfalls
keine Anhaltspunkte dafür ersichtlich, dass das Geschehen vom 25. November 2011, bei dem der Kläger selbst keiner Lebensgefahr
ausgesetzt gewesen sei, eine außergewöhnliche Bedrohung katastrophalen Ausmaßes dargestellt habe, die bei fast jedem eine
tiefe Verzweiflung habe hervorrufen können.
Gegen den ihm am 23. Oktober 2014 zugestellten Gerichtsbescheid hat der Kläger am 13. November 2014 beim Landessozialgericht
Sachsen-Anhalt Berufung eingelegt und unter ausführlicher Schilderung des Ereignisablaufs vom 25. November 2011 insbesondere
hervorgehoben, dass aus seiner Sicht keine fahrdienstlichen Maßnahmen mehr existierten, um die als sicher vorhergesehene Kollision
zu unterbinden. Zusammengekauert habe er auf den Knall des Zusammenpralls gewartet, zu dem es jedoch nicht gekommen sei. Vielmehr
habe der Zug wie gewöhnlich gebremst und am Bahnsteig gehalten, da sich die Schranke in den Scharnieren der Heckklappe des
Pkw "festgebissen" habe. Der Zusammenprall sei nur deshalb ausgeblieben, weil der Pkw es nicht durch die Schranke geschafft
habe. Ein Bedienen der Schrankenanlage sei nicht möglich gewesen; die Schranke habe mit Hilfe mehrerer Anwesender manuell
hochgedrückt werden müssen. Letztlich habe er durch das Ereignis vom 25. November 2011 seinen Beruf verloren, wie der bahnmedizinische
Dienst eingeschätzt habe.
Aus den insoweit vom Kläger vorgelegten Unterlagen ergibt sich, dass Dipl.-Psych. E. unter dem 13. Dezember 2012 seine weitere
Ungeeignetheit für die Tätigkeit als Fahrdienstleiter bescheinigt hatte. Entsprechendes attestierte die Fachärztin für Allgemeinmedizin
K. unter dem 18. Februar 2013. Abschließend ist der Kläger am 2. Oktober 2013 von der Fachärztin für Innere Medizin und Arbeitsmedizin
Dipl.-Med. K. als dauerhaft dienstuntauglich beurteilt worden. Diese Einschätzung hatte der Facharzt für Innere Medizin und
Sozialmedizin Dr. Z. unter dem 16. Oktober 2014 nochmals bestätigt.
Der Kläger beantragt,
den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Magdeburg vom 20. Oktober 2014 und den Bescheid der Beklagten vom 2. Dezember 2011
in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 26. März 2012 aufzuheben und das Ereignis vom 25. November 2011 als Arbeitsunfall
mit dem Schaden einer mehrdimensionalen psychosomatischen Störung (mit Elementen nach ICD-10 F45.1, F34.1, F44 und F41.9)
festzustellen.
Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Sie verteidigt die Entscheidung des SG und verweist nochmals darauf, dass nach den Ausführungen des BSG im Urteil vom 29. November 2011 (B 2 U 23/10 R) bei einem nur eingebildeten Vorgang der Unfallbegriff schon nicht erfüllt sei. Dem Kläger, der sich 80 m entfernt vom Gleis
befunden habe, sei bekannt gewesen, dass der Abstand zwischen der Schranke und dem ersten Gleis 6 m betrage und ein unter
der Schranke eingeklemmtes Fahrzeug unmöglich von einem Zug habe erfasst werden können.
Der Senat hat von dem Facharzt für Neurologie und Psychiatrie Dr. B. das Gutachten vom 10. Januar 2017 eingeholt. Diesem gegenüber
hat der Kläger u.a. ergänzend erklärt, er sei zwischen 1993 und 1996 auch als Notfallmanager eingesetzt und insoweit vier-
bis fünfmal vor Ort aktiv gewesen. Der Sachverständige hat eine mittelgradige psychosomatische Störung im Sinne einer Mischung
der Diagnosen F45.1 (somatische Belastungsstörung), F34.1 (Dysthymie), F44 (Konversionsstörung) und F41.9 (nicht näher bezeichnete
Angststörung) diagnostiziert sowie im Ergebnis eingeschätzt, diese sei bis zum 9. Dezember 2011 mit Wahrscheinlichkeit als
unfallbedingt anzusehen. Seit dem 10. Dezember 2011 komme dem Ereignis vom 25. November 2011 dagegen keine wesentliche ursächliche
Bedeutung mehr zu, sondern sei nur noch Anknüpfungspunkt der bestehenden neurotischen Störung des Klägers. Zwischen dessen
beklagtem und dem erkennbaren Leidensdruck bestehe eine deutliche Diskrepanz. Im Rahmen der Exploration habe der Kläger zu
keinem Zeitpunkt besonders betroffen, ängstlich oder angespannt gewirkt, auch nicht während der Schilderung des Ereignisses
vom 25. November 2011. Eine Beeinträchtigung der Auffassungs- und Umstellungsfähigkeit, Merkfähigkeit, des Antriebs oder des
Gedächtnisses sei nicht nachweisbar. Andererseits habe beim Kläger vor dem Ereignis vom 25. November 2011 auch keine krankheitswertige
seelische Störung bzw. eine außergewöhnliche psychische Verletzbarkeit bestanden. Das Geschehen vom 25. November 2011 sei
grundsätzlich geeignet gewesen, mehr oder weniger ausgeprägte seelische Beschwerden zu verursachen. Es habe sich bei ihm jedoch
um keinen Vorgang außergewöhnlicher Bedrohung oder katastrophenartigen Ausmaßes gehandelt, der bei fast jedem Angst, Schrecken
und Hilflosigkeit habe hervorrufen können. Insoweit fehle es an der Eingangsvoraussetzung einer PTBS. Zudem entsprächen die
vom Kläger geschilderten Beschwerden auch nicht der bei einer solchen Gesundheitsstörung zu erwartenden Symptomatik, zumal
sie mit deutlichem zeitlichen Abstand begonnen hätten und teilweise progredient seien. Damit bestünden an der ursächlichen
Bedeutung sekundärer Belastungsfaktoren außerhalb des Ereignisses vom 25. November 2011 (z.B. gescheiterte Wiedereingliederung
in das vorherige Berufsleben, diverse Erkrankungen der Ehefrau, schädigungsunabhängige Gesundheitsstörungen des Klägers wie
degenerative Wirbelsäulenveränderungen, unfallbedingte HWS-Schädigung 2001, chronische Magen-Darm-Beschwerden seit 2001, Sicca-Syndrom
der Augen) keine vernünftigen Zweifel. Auch die rechtlichen Auseinandersetzungen in der Folge des Ereignisses vom 25. November
2011 stellten relevanten Stressoren dar, die gut geeignet seien, eine progrediente seelische Fehlentwicklung zu begründen.
Der Kläger meint, alle bei ihm vorhandenen psychischen Auswirkungen stünden mit dem Erlebnis vom 25. November 2011 in Verbindung.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf den Inhalt der Gerichtsakten
sowie der beigezogenen Verwaltungsakten der Beklagten Bezug genommen. Diese Unterlagen waren Gegenstand der mündlichen Verhandlung
und Entscheidungsfindung des Senats.
Entscheidungsgründe:
Die nach §
143 Sozialgerichtsgesetz (
SGG) statthafte, form- und fristgerecht eingelegte (§
151 Abs.
1 SGG) und auch ansonsten zulässige Berufung hat im Sinne des Ausspruchs Erfolg.
Der Bescheid der Beklagten vom 2. Dezember 2011 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 26. März 2012 beschwert den
Kläger entsprechend den §§
157,
54 Abs.
2 Satz 1
SGG insoweit, als er Anspruch auf die Feststellung des Ereignisses vom 25. November 2011 als Arbeitsunfall hat.
Arbeitsunfälle sind nach §
8 Abs.
1 Satz 1 Siebtes Buch Sozialgesetzbuch - Gesetzliche Unfallversicherung (
SGB VII) Unfälle von Versicherten infolge einer den Versicherungsschutz nach den §§
2,
3 oder 6
SGB VII begründenden Tätigkeit (versicherte Tätigkeit). Unfälle sind zeitlich begrenzte, von außen auf den Körper einwirkende Ereignisse,
die zu einem Gesundheitsschaden oder zum Tod führen (§
8 Abs.
1 Satz 2
SGB VII). Für die Anerkennung eines Unfalls als Arbeitsunfall ist danach in der Regel erforderlich, dass die Verrichtung des Versicherten
zur Zeit des Unfalls seiner versicherten Haupttätigkeit zuzurechnen ist (sachlicher bzw. innerer Zusammenhang), sie zu dem
zeitlich begrenzten, von außen auf den Körper einwirkenden Ereignis - dem Unfallereignis - geführt hat, und dieses Unfallereignis
einen Gesundheitserstschaden oder den Tod des Versicherten verursacht hat (z.B. BSG, Urteil vom 4. September 2007 - B 2 U 24/06 R - SozR 4-2700 § 8 Nr. 24; Urteil vom 5. September 2006 - B 2 U 24/05 R - SozR 4-2700 § 8 Nr. 18; jeweils m.w.N.).
Diese Voraussetzungen sind hier erfüllt.
Zunächst stand der Kläger während seiner Fahrdienstleitertätigkeit am 25. November 2011 als Beschäftigter gemäß §
2 Abs.
1 Nr.
1 SGB VII unter dem Schutz der gesetzlichen Unfallversicherung. Ebenso ist unstrittig, dass sich das streitige Geschehen im Rahmen
dieser versicherten Tätigkeit ereignete, mit ihr also im sachlichen Zusammenhang stand.
Entgegen der Ansicht der Beklagten stellte das Geschehen vom 25. November 2011 auch ein "von außen auf den Körper einwirkendes
Ereignis" im Sinne von §
8 Abs.
1 Satz 2
SGB VII dar.
Zwar hat das BSG in der von der Beklagten zitierten Entscheidung vom 20. November 2011 (B 2 U 23/10 R) angedeutet, dass bei einer nur "eingebildeten" Gefahr infolge (innerer) "Überängstlichkeit" des Versicherten Zweifel am
Unfallbegriff bestehen könnten. Mit dessen Legaldefinition in §
8 Abs.
1 Satz 2
SGB VII sollte nach dem ausdrücklich erklärten gesetzgeberischen Willen aber nur die in der Rechtsprechung etablierte Begrifflichkeit
übernommen werden (siehe BT-Drucks. 13/2204, S. 77). Für diese war seit Jahrzehnten geklärt, dass das Erfordernis der äußeren
Einwirkung lediglich der Abgrenzung gegenüber Gesundheitsbeeinträchtigungen aus inneren Ursachen bzw. infolge Selbstschädigungen
dient (statt aller nur BSG, Urteil vom 18. März 1997 - 2 RU 8/96 - juris). Hieran hat die Rechtsprechung stets festgehalten und betont, dass für das Vorliegen eines Unfalls noch nicht einmal
ein äußerliches, mit den Augen zu sehendes oder gar besonderes, ungewöhnliches Geschehen erforderlich ist. Vielmehr sind alle
Hergänge geschützt, die in einem inneren Zusammenhang mit der versicherten Tätigkeit ablaufen. Eine Differenzierung in nicht
versicherte "übliche" und versicherte "unübliche" Geschehnisse ist weder dem Wortlaut noch dem Regelungszweck des §
8 Abs.
1 SGB VII zu entnehmen (siehe nur BSG, Urteil vom 15. Mai 2012 - B 2 U 16/11 R - BSGE 111, 52; Urteil vom 17. Februar 2009 - B 2 U 18/07 R - SozR 4-2700 § 8 Nr. 31; Urteil vom 12. April 2005 - B 2 U 27/04 R - BSGE 94, 269). Entscheidend für den Unfallbegriff sind demnach ein versichertes ("äußeres") Ereignis als Ursache und ein Gesundheits(erst)schaden
als Wirkung (siehe nochmals BSG, Urteil vom 18. März 1997 - 2 RU 8/96 - a.a.O.). Dabei kann der Gesundheitserstschaden nach einhelliger Ansicht in Rechtsprechung und im Schrifttum sowohl durch
eine äußere physische Einwirkung (z.B. Verletzung beim Aufschlagen des Körpers auf den Boden nach Sturz) als auch durch äußere
psychische Belastungen verursacht werden (vgl. schon BSG, Urteil vom 18. Dezember 1962 - 2 RU 189/59 - BSGE 18, 173; Urteil vom 18. Dezember 1979 - 2 RU 77/77 - juris, Auslachen durch Mitschüler wegen Versagens im Schulunterricht mit nachfolgendem Sprung aus dem Fenster; KassKomm-Ricke,
Stand März 2018, §
8 SGB VII Rn. 24a, m.w.N.; Krasney in: ders./Becker/Burchardt/Kruschinsky/Heinz/Bieresborn,
SGB VII, Stand Januar 2018, §
8 Rn. 10, m.w.N.; Bereiter-Hahn/Mehrtens, Gesetzliche Unfallversicherung, Stand Januar 2018, §
8 SGB VII Rn. 11.2, m.w.N.; Wagner in: jurisPK-
SGB VII, 2. Aufl. 2014, Stand Januar 2018, §
8 Rn. 113; Ziegler in: LPK-
SGB VII, 5. Aufl. 2017, §
8 Rn. 150).
Gemessen daran beinhaltete das Geschehen vom 25. November 2011 jedenfalls keinen betrieblichen Vorgang, der sich nicht von
den üblichen Routinegeschäften eines Fahrdienstleiters abhob. Die äußere betriebsbedingte Einwirkung auf die Psyche des Klägers
lag bereits darin, dass aus seiner Position keine fahrdienstlichen Maßnahmen mehr existierten, um die als sicher vorhergesehene
Kollision zwischen dem herannahenden Zug und dem - letztlich unter der Schranke stecken gebliebenen - Pkw zu unterbinden.
Dem lag mit der eingetretenen Beschädigung der Schrankenanlage und des Pkw´s auch ein tatsächlich nachweisbarer, äußerer betriebsbezogener
Unfallvorgang und keine Vorstellung allein in der Phantasie des Klägers infolge "Überempfindlichkeit" zugrunde. Hieran ändert
auch der Umstand nichts, dass sich das Flachstellwerk nach dem Vorbringen der Beklagten 80 m vom Gleis entfernt befindet und
der Abstand zwischen der Schranke sowie dem ersten Gleis 6 m beträgt. Denn dass der lediglich im Bereich der Heckklappe unter
den Schrankenanbauten eingeklemmte Pkw den Gleiskörper wegen des bereits ausgestiegenen Fahrzeugführers objektiv nicht mehr
erreichen konnte, war dem Kläger zwar im Nachhinein, nicht aber während des maßgeblichen Geschehens bewusst. Das hat er bereits
in seiner ersten authentischen Hergangsschilderung im Rahmen der Widerspruchsbegründung betont. Entsprechendes ist für den
Senat unter Berücksichtigung des Abstandes der Position des Klägers zur Schranke im Augenblick, als er den Zug wegen des angrenzenden
Waldstücks erst kurz vor dem Bahnübergang wahrnahm und dessen Entfernung zum Pkw nach dem ebenfalls unangegriffenen Berufungsvortrag
des Klägers nur maximal 25 m betrug, auch nachvollziehbar.
Im Übrigen sind Sachverhalte, in denen ein Versicherter bei ex post-Betrachtung objektiv keiner (körperlichen) Gefahr ausgesetzt
war (z.B. Bedrohung mit einer - allenfalls bei näherer Inspektion als solche erkennbaren - Spielzeug-/Schreckschusspistole
im Rahmen eines Banküberfalls), gerade nicht von vornherein dem Schutzbereich der gesetzlichen Unfallversicherung entzogen.
Im Gegenteil kann ein versichertes psychisches Trauma insbesondere auch dann vorliegen, wenn betriebsbedingte äußere Umstände
beim Versicherten die nachvollziehbare Vorstellung bewirken, sich in einer gefährlichen Situation zu befinden, so dass insbesondere
Schockreaktionen vom Unfallversicherungsschutz erfasst sind (vgl. BSG, Urteil vom 8. Dezember 1998 - B 2 U 1/98 R - juris; o.g. Literaturangaben). Dies gilt umso mehr, als nicht jede als traumatisch (mit-)bedingt in Betracht kommende psychische
Gesundheitsstörung der ICD-10 eine (weitergehende) objektive Gefahrenlage für den Betroffenen voraussetzt. Es kommt daher
nicht (mehr) entscheidend darauf an, ob der hinter seinem Schreibtisch Schutz suchende Kläger überhaupt von umherfliegenden
Teilen hätte in Mitleidenschaft gezogen werden können.
Beim Kläger ist auf Grundlage des gerichtlichen Sachverständigengutachtens auch eine psychosomatische Gesundheitsstörung gesichert,
die nach den überzeugenden Darlegungen von Dr. B. - zumindest bis zum 9. Dezember 2011 - mit hinreichender Wahrscheinlichkeit
als im Wesentlichen (mit-)ursächlich auf das Ereignis vom 25. November 2011 zurückzuführen ist.
Hinreichende Wahrscheinlichkeit liegt vor, wenn mehr für als gegen eine Verursachung spricht und ernste Zweifel ausscheiden,
so dass darauf die richterliche Überzeugung gegründet werden kann. Die bloße Möglichkeit einer Verursachung genügt dagegen
nicht. Erst wenn feststeht, dass ein bestimmtes Ereignis eine naturwissenschaftliche Ursache für einen Erfolg ist, stellt
sich in einem zweiten Schritt die Frage nach einer wesentlichen Verursachung des Erfolgs durch das Ereignis. Diese Grundsätze
gelten in Bezug auf alle als Gesundheitserstschäden geltend gemachten Erkrankungen und damit auch für psychische Störungen.
Insoweit darf gerade nicht von vornherein darauf abgestellt werden, wie ein "normaler" Versicherter reagiert hätte. Ebenso
wie bei körperlichen Auswirkungen eines Unfalles ist auch bei Vorgängen im Bereich der Psyche nicht unter Anlegung eines generalisierenden
Maßstabs darauf abzustellen, ob die Auswirkungen des Unfalls auch bei einem durchschnittlichen Menschen erfahrungsgemäß gleiche
oder ähnliche Folgen gehabt hätten. Vielmehr ist maßgeblich, welche Auswirkungen der Unfall, d.h. dessen psychische Belastung,
gerade beim betroffenen Versicherten infolge der Eigenart seiner Persönlichkeit gehabt hat (siehe BSG, Urteil vom 9. Mai 2006 - B 2 U 1/05 R - SozR 4-2700 § 8 Nr. 17; Urteil vom 12. April 2005 - B 2 U 27/04 R - a.a.O.; Urteil vom 8. Dezember 1998 - B 2 U 1/98 R - s.o.; Urteil vom 18. Dezember 1986 - 4a RJ 9/86 - BSGE 61, 113).
Ausgehend hiervon ist das Geschehen vom 25. November 2011 zunächst als naturwissenschaftliche Bedingung der psychosomatischen
Störung des Klägers wirksam geworden, da es ohne gleichzeitiges Entfallen der bei ihm aufgetretenen psychischen Beschwerden
nicht hinweggedacht werden kann. Dies hat Dr. B. ausdrücklich festgestellt und überzeugend damit begründet, dass das Unfallereignis
nach aktuellen medizinischwissenschaftlichen Erkenntnissen geeignet gewesen ist, beim Kläger ein psychisches Trauma zu verursachen.
Daneben wird die Kausalbeziehung zwischen dem Ereignis und der psychosomatischen Störung des Klägers durch den zeitlichen
Zusammenhang und dessen Verhalten wahrscheinlich gemacht. So sind beim Kläger sofort am Morgen nach dem Ereignis vom 25. November
2011 innere Unruhe, ein Kribbelgefühl unter der Haut, ein Zucken des linken Auges, ein Zittern des gesamten Körpers sowie
ein verminderter Antrieb und ein erhöhtes Schlafbedürfnis aufgetreten, wie er übereinstimmend sowohl gegenüber Dipl.-Med.
P. als auch bei Dipl.-Psych. S. angegeben hat. Unmittelbar am Folgetag hat der Kläger dann den Därztlichen Notdienst des Städtischen
Klinikums D. aufgesucht, um dort eine Überforderung und innere Beunruhigung durch das zwei Tage zurückliegende Ereignis zu
schildern.
Umgekehrt liegen keine belastbaren Anknüpfungstatsachen dafür vor, dass das Ereignis vom 25. November 2011 zur Verursachung
einer psychosomatischen Störung naturwissenschaftlich nicht geeignet war oder dieses als rechtlich unwesentliche, so genannte
Gelegenheitsursache anzusehen ist. Denn beim Kläger ist auf psychischem Gebiet schon keine derart überragende Schadensanlage
vollbeweislich gesichert, die den Schluss zuließe, die psychosomatische Störung hätte durch jedes Alltagsereignis ausgelöst
werden können (vgl. hierzu nochmals BSG, Urteil vom 9. Mai 2006 - B 2 U 1/05 R - a.a.O.). Insbesondere hat Dr. B. insoweit festgestellt, dass beim Kläger vor dem Geschehen vom 25. November 2011 keine
krankheitswertige seelische Störung bzw. eine außergewöhnliche psychische Vulnerabilität bestand. Abweichende medizinische
Beurteilungen existieren nicht.
Sind damit im Ergebnis alle Merkmale eines Arbeitsunfalls erfüllt, war der Berufung stattzugeben.
Die Kostenentscheidung beruht auf §
193 SGG und berücksichtigt, dass die gesamten bis heute andauernden Auswirkungen der von Dr. B. diagnostizierten psychischen Erkrankung
des Klägers keine Unfallschäden sind. Vielmehr begründen Belastungsfaktoren außerhalb des Ereignisses vom 25. November 2011
die progrediente psychische Fehlentwicklung beim Kläger - über den 9. Dezember 2011 hinaus - nach den sachverständigen Darlegungen
maßgeblich (u.a. gescheiterte Wiedereingliederung in die Tätigkeit als Fahrdienstleiter, Erkrankungen der Ehefrau, degenerative
Wirbelsäulenveränderungen des Klägers und unfallbedingte HWS-Schädigung 2001, chronische Magen-Darm-Beschwerden seit 2001,
Sicca-Syndrom der Augen sowie rechtliche Auseinandersetzungen in der Folge des Geschehens vom 25. November 2011).
Die Revision war zuzulassen, weil der Senat die Voraussetzungen der Feststellung eines Ereignisses als Arbeitsunfall bei (allein)
psychischen Einwirkungen im Sinne von §
160 Abs.
2 Nr.
1 SGG für noch nicht abschließend geklärt hält.