Feststellung eines Arbeitsunfalls und Gewährung einer Verletztenrente
Verfahrensrüge im Nichtzulassungsbeschwerdeverfahren
Verfahrensmangel der fehlenden Vertretung eines partiell Prozessunfähigen im zweiten Rechtszug (vorliegend verneint)
Begriff der Prozessunfähigkeit
Gründe:
I
In der Hauptsache begehrt der Kläger die Feststellung eines Arbeitsunfalls und die Gewährung von Verletztenrente.
Der 1972 geborene Kläger war ab 1989 als Gas- und Wasserinstallateur tätig. 2006 unterzog er sich einer Bandscheibenoperation.
Im Mai 2018 gab er gegenüber der beklagten Berufsgenossenschaft an, während einer Wiedereingliederung im Jahre 2009 beim Aufstemmen
bzw Anheben eines Kanalschachtdeckels erneut einen Bandscheibenvorfall erlitten zu haben. Die Beklagte lehnte es ab, das Ereignis
als Arbeitsunfall anzuerkennen und dem Kläger Verletztenrente zu gewähren, weil er weder den Tag noch den Hergang des angeblichen
Unfalls genauer schildern könne und bei der Krankenkasse, seinen Ärzten und dem Arbeitgeber kein Unfall aktenkundig sei (Bescheid
vom 12.9.2018; Widerspruchsbescheid vom 5.11.2018). Das SG hat die Klage abgewiesen (Gerichtsbescheid vom 16.9.2019). Das LSG hat die Berufung durch den Berichterstatter ohne mündliche
Verhandlung zurückgewiesen, weil nicht im Vollbeweis belegt sei, dass der Kläger einen Arbeitsunfall erlitten habe. Seine
Angaben zum Unfallzeitraum und -hergang seien teilweise widersprüchlich, stimmten nicht mit dem medizinischen Behandlungsverlauf
überein und seien insgesamt unschlüssig, sodass erhebliche Zweifel am Vorliegen eines Unfallereignisses bestünden (Urteil
vom 26.5.2020).
Mit seiner Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision rügt der Kläger, im Berufungsverfahren (jedenfalls partiell) prozessunfähig
und deshalb nicht vorschriftsmäßig durch einen besonderen Vertreter vertreten gewesen zu sein (§
547 Nr 4
ZPO iVm §
202 Satz 1
SGG). Er habe sich 2014 ein Schädel-Hirn-Trauma mit kognitiven und psychischen Einschränkungen zugezogen und leide seitdem unter
hirnorganisch bedingten Störungen des Denkens, der Auffassung und der Aufmerksamkeit. Zwischenzeitlich habe er unter Betreuung
gestanden; der Hausarzt attestiere einen hirnorganischen Abbauprozess sowie Demenz. Bereits aus seinen handschriftlichen,
teils unleserlichen, teils unverständlichen Einlassungen im Klage- und Berufungsverfahren lasse sich die fehlende Prozessfähigkeit
ableiten.
Der Senat hat von Amts wegen ein Sachverständigengutachten des niedergelassenen Facharztes für Psychiatrie, Psychotherapie
und Psychosomatische Medizin B vom 18.5.2021 nebst ergänzender Stellungnahme vom 27.9.2021 eingeholt. Das Gutachten kommt
zu dem Ergebnis, die freie Willensbildung und Entscheidungsfähigkeit des Klägers sei nie aufgehoben gewesen, sodass keine
Zweifel an seiner Prozessfähigkeit bestünden. Es liege keine Geistesstörung vor, die sich auf die Wahrnehmung seiner Rechte
im Berufungsverfahren ausgewirkt habe. Mit Schriftsatz vom 25.10.2021 hat der Kläger den Sachverständigen wegen Besorgnis
der Befangenheit abgelehnt.
II
Die Beschwerde ist zulässig (A.), aber als unbegründet zurückzuweisen (B.). Das Ablehnungsgesuch gegen den Sachverständigen
B ist ebenfalls zurückzuweisen (C.).
A. Die Beschwerde ist zulässig, insbesondere formgerecht begründet. Wird eine Nichtzulassungsbeschwerde darauf gestützt, dass
ein Verfahrensmangel vorliege, auf dem die angefochtene Entscheidung beruhen könne (§
160 Abs
2 Nr
3 Halbsatz 1
SGG), müssen bei der Bezeichnung des Verfahrensmangels (§
160a Abs
2 Satz 3
SGG) die den Verfahrensmangel (vermeintlich) begründenden Tatsachen substantiiert dargetan werden. Darüber hinaus ist - mit Ausnahme
absoluter Revisionsgründe (§
202 Satz 1
SGG iVm §
547 ZPO) - die Darlegung erforderlich, dass und warum die Entscheidung des LSG ausgehend von dessen materieller Rechtsansicht auf
dem Mangel beruhen kann, also die Möglichkeit einer Beeinflussung des Urteils besteht. Indem der Kläger substantiiert behauptet
(dazu BGH Urteil vom 5.12.1995 - XI ZR 70/95 - juris RdNr 13), im Berufungsverfahren (jedenfalls partiell) prozessunfähig gewesen zu sein, hat er eine Verletzung des
§
71 Abs
1 SGG hinreichend bezeichnet. Darlegungen dazu, dass die Entscheidung des LSG auf dem geltend gemachten Verfahrensmangel beruhen
kann, sind gemäß §
202 Satz 1
SGG iVm §
547 Nr 4
ZPO entbehrlich (absoluter Revisionsgrund).
B. Die zulässige Verfahrensrüge ist indes unbegründet, weil der formgerecht gerügte Verfahrensmangel der fehlenden Vertretung
(§
202 Satz 1
SGG iVm §
547 Nr
4 ZPO) eines (partiell) Prozessunfähigen (§
71 Abs
1 SGG, §
104 Nr
2 BGB) im zweiten Rechtszug nicht vorliegt. Nach §
71 Abs
1 SGG ist ein Beteiligter prozessfähig, soweit er sich durch Verträge verpflichten kann. Vertragliche Verpflichtungen kann nur
eingehen, wer Willenserklärungen wirksam abgeben kann (Angebot bzw Annahme, §§
145 ff
BGB). Willenserklärungen Geschäftsunfähiger sind hingegen nichtig (§
105 Abs
1 BGB), sodass Geschäftsunfähige auch prozessunfähig sind. Nach Vollendung des 7. Lebensjahres (§
104 Nr 1
BGB) ist geschäftsunfähig, wer sich in einem die freie Willensbestimmung ausschließenden Zustand krankhafter Störung der Geistestätigkeit
befindet, sofern nicht der Zustand seiner Natur nach ein vorübergehender ist (§
104 Nr 2
BGB).
Die "freie Willensbestimmung" setzt die Fähigkeit zur Einsicht und zur Übernahme der Verantwortung für das eigene Handeln
voraus, dh die Fähigkeit auf der Grundlage von Werten zu planen, zwischen verschiedenen Möglichkeiten zu wählen, zielgerichtete
Entscheidungen zu treffen und sie zu realisieren (Habermeyer/Saß, Der Nervenarzt 2002, 1094, 1096 mwN). Die Willensbestimmung
muss komplett aufgehoben sein ("ausschließender Zustand"); eine bloße Beeinflussung oder Beeinträchtigung genügt nicht. Dies
schließt es indes nicht aus, dass der Verlust der Einsichtsfähigkeit oder der geistigen Eigensteuerung auf einen gegenständlich
begrenzten Kreis von Angelegenheiten (zB Prozessführung, Eheangelegenheiten) beschränkt ist (sog partielle Prozessunfähigkeit,
vgl dazu BVerfG Kammerbeschluss vom 6.7.2020 - 1 BvR 2843/17 - juris RdNr 22; BSG Beschlüsse vom 27.10.2020 - B 1 KR 45/20 B - juris RdNr 8 und vom 11.9.2020 - B 8 SO 22/19 B - juris RdNr 6; zuletzt BGH Beschluss vom 29.7.2020 - XII ZB 106/20 - juris RdNr 20 und Urteil vom 18.5.2001 - V ZR 126/00 - juris RdNr 9; stRspr seit BGH Urteil vom 24.9.1955 - IV ZR 162/54 - BGHZ 18, 184).
Ein die freie Willensbestimmung ausschließender Zustand liegt mithin vor, wenn der Betroffene seine Überlegungen, Schlussfolgerungen
und Entscheidungen (bezüglich aller oder nur bestimmter Lebensbereiche) nicht mehr von vernünftigen Erwägungen abhängig machen
kann (Senatsbeschlüsse vom 25.4.2019 - B 2 U 19/18 BH, B 2 U 15/18 BH, B 2 U 1/18 RH und B 2 U 2/18 RH - jeweils juris RdNr 2; BSG Beschlüsse vom 18.11.2020 - B 1 KR 12/20 B - juris RdNr 6, vom 27.10.2020 - B 1 KR 45/20 B - juris RdNr 8 und vom 11.9.2020 - B 8 SO 22/19 B - juris RdNr 6 sowie Urteil vom 12.12.2013 - B 8 SO 24/12 R - SozR 4-3500
§ 67 Nr 1 RdNr 9; BFH Beschluss vom 9.9.2004 - III B 165/03 - juris RdNr 4; BGH Beschluss vom 5.11.2004 - IXa ZB 76/04 - juris RdNr 13 und Urteil vom 5.12.1995 - XI ZR 70/95 - juris RdNr 13) und deshalb unfähig ist, nach zutreffend gewonnenen Einsichten zu handeln (BGH Beschluss vom 18.9.2018 -
XI ZR 74/17 - juris RdNr 28; Straßfeld in Roos/Wahrendorf/Müller,
SGG, 2. Aufl 2021, §
71 RdNr 30 mwN). Es kommt mithin darauf an, ob eine freie Entscheidung nach Abwägung des Für und Wider bei sachlicher Prüfung
der in Betracht kommenden Gesichtspunkte möglich ist oder ob umgekehrt von einer freien Willensbildung nicht mehr gesprochen
werden kann, weil Einflüsse dritter Personen den Willen übermäßig beherrschen (BGH Beschlüsse vom 18.9.2018 - XI ZR 74/17 - juris RdNr 28 und vom 14.3.2017 - VI ZR 225/16 - juris RdNr 13; BFH Beschluss vom 7.7.2017 - V B 168/16 - juris RdNr 12; BAG Beschluss vom 28.5.2009 - 6 AZN 17/09 - AP Nr 1 zu §
57 ZPO = juris RdNr 8) oder die Willensbildung durch krankhafte Vorstellungen und Gedanken oder unkontrollierte Triebe und Antriebskräfte
- ähnlich mechanischen Verknüpfungen von Ursache und Wirkung - bestimmt wird (BVerwG Beschluss vom 6.3.2019 - 6 B 135.18 - Buchholz 11 Art
20 GG Nr 232 = juris RdNr 47 und Urteil vom 17.12.2009 - 2 A 2.08 - Buchholz 235.1 § 71 BDG Nr 1 RdNr 27; BGH Beschlüsse vom 29.7.2020 - XII ZB 106/20 - juris RdNr 16 und vom 18.5.2001 - V ZR 126/00 - juris RdNr 7 sowie grundlegend Urteil vom 14.7.1953 - V ZR 97/52 - BGHZ 10, 266; zum Ganzen Straßfeld in Roos/Wahrendorf/Müller,
SGG, 2. Aufl 2021, §
71 RdNr 31 mwN).
Die Aufhebung der freien Willensbestimmung muss wesentlich auf einer krankhaften Störung der Geistestätigkeit beruhen, dh
auf anhaltende psychische Störungen erheblichen Ausmaßes zurückzuführen sein. Die Symptome dieser Störungen müssen die Umsetzung
persönlicher Wertvorstellungen verhindern, indem sie kognitive Voraussetzungen der Intentionsbildung und -realisierung beeinträchtigen,
oder die Persönlichkeit so verändern, dass der Zugang zu persönlichen Wertvorstellungen verstellt bzw das Wertgefüge an sich
verformt wird (Habermeyer/Saß, Der Nervenarzt 2002, 1094, 1096). Insbesondere psychische Störungen sind nach der Senatsrechtsprechung
durch Einordnung in eines der gängigen Diagnosesysteme (zB ICD-10, DSM-5) unter Verwendung der dortigen Schlüssel und Bezeichnungen
möglichst exakt zu beschreiben (s zu diesem Vorgehen zuletzt BSG Urteile vom 6.10.2020 - B 2 U 10/19 R - SozR 4-2700 § 73 Nr 2 RdNr 21, vom 26.11.2019 - B 2 U 8/18 R - SozR 4-2700 § 8 Nr 71 RdNr 19, vom 15.5.2012 - B 2 U 31/11 R - juris RdNr 18 sowie vom 9.5.2006 - B 2 U 1/05 R - BSGE 96, 196 = SozR 4-2700 § 8 Nr 17, RdNr 22). Denn je genauer und klarer die "krankhaften Störungen der Geistestätigkeit" bestimmt sind,
umso einfacher sind ihre Ursachen und Folgen zu erkennen und zu beurteilen. Dies schließt begründete Abweichungen von diesen
Diagnosesystemen, zB aufgrund ihres Alters und des zwischenzeitlichen wissenschaftlichen Fortschritts, nicht aus (BSG Urteile vom 6.10.2020 - B 2 U 10/19 R - SozR 4-2700 § 73 Nr 2 RdNr 21 und vom 26.11.2019 - B 2 U 8/18 R - SozR 4-2700 § 8 Nr 71 RdNr 19). Ob eine krankhafte Störung der Geistestätigkeit vorliegt, die die freie Willensbestimmung
ausschließt, ist mithilfe medizinischer Sachverständigengutachten zu klären. Dagegen ist Geschäftsunfähigkeit als solche kein
medizinischer Befund, sondern eine Rechtsfolge deren Voraussetzungen das Gericht mithilfe und unter kritischer Würdigung des
Sachverständigengutachtens festzustellen hat (BGH Urteil vom 18.5.2001 - V ZR 126/00 - juris RdNr 9). Die freie Willensbildung des Klägers war weder in allen Lebensbereichen (komplette Geschäftsunfähigkeit,
dazu I.) noch für bestimmte Lebensbereiche (partielle Geschäfts- bzw Prozessunfähigkeit, dazu II.) aufgehoben. Das gilt auch
unter Berücksichtigung der Wechselwirkungen aller festgestellten Erkrankungen (dazu III.).
I. Zu den Symptombildern, die die Fähigkeit zur freien Willensbestimmung durch nicht nur "vorübergehende" Veränderungen des
psychopathologischen Funktionsniveaus komplett aufheben (können), zählen in erster Linie die organischen psychischen Störungen
(ICD-10: F0), wie sie der Kläger geltend macht. Darüber hinaus gehören hierzu aber auch Störungen durch Substanzkonsum (ICD-10:
F1), die unkontrollierte Triebe und Antriebskräfte aktivieren können, sowie Schizophrenie und wahnhafte Störungen (ICD-10:
F2), die krankhafte Vorstellungen und Gedanken hervorrufen. Schizoaffektive und affektive Störungen (ICD-10: F3), neurotische,
Belastungs- und somatoforme Störungen (ICD-10: F4, F5), Persönlichkeits- und Verhaltensstörungen (ICD-10: F6) sowie Intelligenzminderungen
(ICD-10: F7) vermögen die Geschäftsunfähigkeit hingegen nur bei schwerwiegenden Störungen aufzuheben (vgl Habermeyer/Saß,
Der Nervenarzt 2002, 1094, 1096 ff). Das Sachverständigengutachten von B entspricht diesen Vorgaben, indem es sich mit den
jeweiligen Codierungen der psychischen Störungen auf das Kapitel V (F) - Psychische und Verhaltensstörungen - der Zehnten
Revision der internationalen statistischen Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme (ICD-10) in deutscher
Fassung (German Modification - GM) bezieht und konkludent die am Tag der Untersuchung (13.5.2021) geltende Version 2021 zugrunde
legt (abrufbar unter: https://www.dimdi.de/static/de/klassifikationen/icd/icd-10-gm/kode-suche/htmlgm2021/).
1. Der vom Kläger unter Berufung auf seinen Hausarzt geltend gemachte hirnorganische Abbauprozess und die Demenz mit hirnorganisch
bedingten Störungen des Denkens, der Auffassung und der Aufmerksamkeit - als Folge eines Schädel-Hirn-Traumas und früheren
Alkoholmissbrauchs - bestehen nicht. Der Sachverständige B hat auf der Grundlage einer vierstündigen Befragung und Untersuchung
des Klägers in häuslicher Umgebung, der umfangreichen Testdiagnostik und unter Berücksichtigung einer Plausibilitäts- und
Konsistenzprüfung sowohl einen hirnorganischen Abbauprozess als auch eine Demenz verneint. Dem schließt sich der Senat nach
kritischer Würdigung des gesamten Akteninhalts, insbesondere der hausärztlichen Atteste, dem bisherigen Prozessverhalten des
Klägers, seinem Vorbringen im Beschwerdeverfahren, dem Sachverständigengutachten vom 18.5.2021 sowie der ergänzenden Stellungnahme
vom 27.9.2021 an. Denn der Kläger war in der Untersuchungssituation über vier Stunden kognitiv gut belastbar und ließ nur
unter erhöhtem Zeitdruck erkennen, dass sein Gehirn nicht mehr die volle psychomentale Leistung erbringen kann, wie Schwächen
im d2-Aufmerksamkeits-Belastungs-Test und im Benton-Test belegen. Danach sind Dauerkonzentrationsfähigkeit und Aufmerksamkeitsbelastbarkeit
leicht bis mittelgradig eingeschränkt, was sich auf das Schädel-Hirn-Trauma 2014 und möglicherweise auch auf die frühere langjährige
Alkoholabhängigkeit (2005 bis 2014) zurückführen lässt. Gleichwohl sind die Symptome der kognitiven Störung nicht so schwerwiegend,
dass die freie Willensbildung aufgehoben ist. Das formale Denken ist unbeeinträchtigt, die exekutiven Funktionen (Überblick
bekommen und behalten, Strategiebildung, Handlungsplanung, Impulskontrolle) sind weitgehend erhalten und das Abstraktionsvermögen
sowie die Fähigkeit, sich auf Lernen und Leistungen einzulassen und damit umzugehen, sind nicht durch einen hirnorganischen
(Abbau-)Prozess, sondern durch persönlichkeitsspezifische Prozesse eingeschränkt. Insgesamt zeigte der Kläger in der Begutachtungssituation
weitaus höhere kognitiv-intellektuelle Fähigkeiten, als die Eingaben an das BSG und die Vorinstanzen vermuten lassen.
2. Die vom Sachverständigen demgegenüber anhand der Anamnese und erhobenen Untersuchungsbefunde diagnostizierte Dysthymia
(ICD-10: F34.1), die leicht- bis mittelgradige kognitive Störung (ICD-10: "F06.8" gemeint F06.7) sowie die isolierte Rechtschreibstörung
(ICD-10: F81.1) führen nicht zum Wegfall der Willensbildungsfähigkeit in allen oder nur bestimmten Lebensbereichen.
a) Der Senat kann nachvollziehen, dass eine anhaltende affektive Störung im Sinne einer chronischen depressiven Verstimmung
leichteren Grades, die nach ihrer Klassifikation noch nicht einmal die Kriterien einer leichten wiederkehrenden depressiven
Störung (ICD-10: F33.0) erfüllt, weder die freie Willensbildung beeinträchtigt noch die Fähigkeit mindert, den Anforderungen
des täglichen Lebens gerecht zu werden (Laux in Möller/Laux/Deister/Schulte-Körne/Braun-Scharm, Duale Reihe Psychiatrie, Psychosomatik
und Psychotherapie, 6. Aufl 2015, S 106), sodass der Kläger zwar im Allgemeinen davon belastet ist, aber gleichwohl in der
Lage bleibt, die meisten Aktivitäten fortzusetzen (ICD-10: F33.0 iVm F32.0). Auch die medizinische Fachliteratur geht davon
aus, dass Dysthymia als anhaltende affektive Störung die Fähigkeit zur freien Willensbestimmung nicht aufhebt, weil die Symptomatik
nicht den Schweregrad depressiver Episoden erreicht (Habermeyer/Saß, Der Nervenarzt 2002, 1094, 1097).
b) Der Senat hält es auch für plausibel, dass die vom Sachverständigen diagnostizierten leichten bis mittelgradigen Einschränkungen
der Aufmerksamkeit sowie die leicht- bis mittelgradige Konzentrationsschwächen, die nicht das Ausmaß eines dementiellen Syndroms
erreichen, die Abwägung des Für und Wider im Willensbildungsprozess zwar erschweren, der Kläger seine Überlegungen, Schlussfolgerungen
und Entscheidungen aber gleichwohl von vernünftigen Erwägungen abhängig machen und nach zutreffend gewonnenen Einsichten handeln
kann. Anzeichen für kognitive Störungen in so starker Ausprägung, dass sie sich in einer deutlich reduzierten Alltagskompetenz
niederschlagen und deshalb eine Demenzdiagnose rechtfertigen, sind nicht erkennbar.
c) Überzeugend ist schließlich die Annahme, dass die isolierte Rechtschreibstörung nicht zum Ausschluss der freien Willensbestimmung
führt. Aus fehlenden oder eingeschränkten Fähigkeiten zum Schreiben, Lesen oder sonstigen kognitiven Schwierigkeiten (zB Problemen
beim Verständnis von Schriftstücken) ergibt sich nicht, dass Legastheniker keine eigene Willensentscheidung treffen können
(BAG Beschluss vom 28.5.2009 - 6 AZN 17/09 - AP Nr 1 zu §
57 ZPO = juris RdNr 9). Dass der Kläger seine Überlegungen, Schlussfolgerungen und Entscheidungen schriftsätzlich nur unzureichend
kundgeben kann, besagt nichts über seine Fähigkeit zur freien Willensbildung (BGH Urteil vom 5.12.1995 - XI ZR 70/95 - juris RdNr 14 und grundlegend Urteil vom 14.7.1953 - V ZR 97/52 - BGHZ 10, 266). Dass die Einschränkung dieser Fähigkeit(en) mit einer entsprechenden Intelligenzminderung (ICD-10: F7) einhergeht, hat
der Sachverständige testdiagnostisch ausgeschlossen. Denn der Kläger hat im Mehrfachwahl-Wortschatz-Intelligenztest einen
IQ von 95 (durchschnittliche Intelligenz) erreicht. Mit der Rechtschreibstörung erklärt sich zugleich der Zustand der handschriftlichen
Schreiben des Klägers, die den Gerichten in der Vergangenheit Anlass zu der (unzutreffenden) Annahme gaben, es liege eine
hirnorganische Beeinträchtigung vor.
II. Es besteht auch keine partielle, auf das Berufungsverfahren bezogene Prozessunfähigkeit. Partiell Geschäfts- bzw Prozessunfähige
sind infolge einer krankhaften Störung der Geistestätigkeit außerstande, in einem bestimmten Lebensbereich ihren Willen frei
und unbeeinflusst von der vorliegenden Störung zu bilden oder nach einer zutreffend gewonnenen Einsicht zu handeln, während
sie in anderen Lebensbereichen voll geschäfts- und prozessfähig sind (BVerfG Kammerbeschluss vom 6.7.2020 - 1 BvR 2843/17 - juris RdNr 22; BGH Beschluss vom 29.7.2020 - XII ZB 106/20 - juris RdNr 20; Straßfeld in Roos/Wahrendorf/Müller,
SGG, 2. Aufl 2021, §
71 RdNr 33). Soweit eine partielle Prozessunfähigkeit anzunehmen ist, erstreckt sie sich auf den gesamten Prozess (BSG Beschlüsse vom 27.10.2020 - B 1 KR 45/20 B - juris RdNr 8, vom 11.9.2020 - B 8 SO 22/19 B - juris RdNr 6 und vom 15.11.2000 - B 13 RJ 53/00 B - SozR 3-1500 § 160a Nr 32 S 65).
Bezogen auf das vorliegende Streitverfahren bestehen beim Kläger keine psychischen Störungen, die mit einer hierauf beschränkten
Aufhebung der Willensbildungsfähigkeit einhergehen. Der Sachverständige kommt nach ausführlicher Erhebung der Biografie, der
Lebensereignisse unter Berücksichtigung des psychopathologischen Befundes, der Psychodynamik der Störung, der Testdiagnostik,
des bisherigen Prozessverhaltens und der Verhaltensbeobachtung unter zutreffender Beachtung der vom Senat vorgegebenen Eckpunkte
zur partiellen Prozessunfähigkeit schlüssig zu dem Ergebnis, dass der Kläger allerdings unter einem leichtgradigen querulatorischen
Syndrom leidet, das sich teils in einer einfühlsamen Rechtssuche, teils gepaart mit einer rechthaberischen Suche nach einem
Weg zeigt, seine soziale Situation im Sinne eines Wiedergutmachungswunsches zu verbessern. Die Dynamik der querulatorischen
Störung ist jedoch weder durch eine paranoid-querulatorische Persönlichkeitsstörung (ICD-10: F60) noch durch eine wahnhafte
Störung (ICD-10: F22) geprägt, die die Willensbildungsfähigkeit im Berufungsverfahren aufgehoben hätte. Vielmehr konnte der
Kläger die Bedeutung und die Folgen seines Handelns im Rahmen des Berufungsverfahrens verstehen, seinen Willen danach bestimmen
und nur aus fehlender Sachkenntnis aufgrund des leichtgradigen querulatorischen Denkens nicht danach handeln. Die Entscheidungsfähigkeit
war nie gänzlich aufgehoben, sondern nur im Sinne neurotischer Realitätsverzerrungen beeinträchtigt. Dies verkennt der Prozessbevollmächtigte
des Klägers, wenn er aus den vorhandenen psychischen Störungen ohne Rücksicht auf deren Ausprägung und Ausmaß ableitet, der
Kläger sei im Berufungsverfahren zur freien Willensbildung außerstande gewesen. Dass er Schwierigkeiten hatte, seine Rechte
im Berufungsverfahren selbst wahrzunehmen, begründet fachkundigen Vertretungsbedarf, stellt aber seine Prozessfähigkeit nicht
infrage (vgl BSG Urteil vom 4.5.1965 - 11 RA 10/64 - juris RdNr 9; vgl zum Ganzen auch Straßfeld in Roos/Wahrendorf/Müller,
SGG, 2. Aufl 2021, §
71 RdNr 32 mwN).
III. Auch unter Berücksichtigung der Wechselwirkungen aller diagnostizierten Störungen ist die Annahme des Sachverständigen
B plausibel und nachvollziehbar, dass der Kläger seinen Willen - insbesondere im Rahmen des Berufungsverfahrens im Zeitraum
vom 23.9.2019 bis 26.5.2020 - frei und weitgehend unbeeinflusst von den diagnostizierten Gesundheitsstörungen bilden konnte.
Im Ergebnis war und ist die Willensbildungsfähigkeit zwar in geringem Maße durch neurotische Verzerrungen eingeschränkt, aber
nicht durch eine krankhafte Störung der Geistestätigkeit aufgehoben, weder in allen noch in bestimmten Lebensbereichen, wie
dem Berufungsverfahren. Daran ändert auch der dem Kläger zuerkannte Schwerbehindertenstatus nichts, wie der Sachverständige
auf gezielte Nachfrage des Senats folgerichtig ausgeführt hat. Selbst wenn die vom Kläger erwogene Analogie zu den §§
71,
72 SGG auf Menschen mit Behinderungen rechtlich in Erwägung zu ziehen wäre, besteht aus fachpsychiatrischer Sicht kein Gleichstellungssachverhalt.
Das Gutachten des Sachverständigen B ist verwertbar. Weder hindern unzutreffende Voraussetzungen, unauflösbare Widersprüche
oder durchgreifende Kompetenzüberschreitungen dessen Verwertbarkeit (hierzu BSG Urteil vom 15.12.2016 - B 9 V 3/15 R - BSGE 122, 218 = SozR 4-3800 § 1 Nr 23, RdNr 36 mwN) noch das vom Kläger angebrachte Ablehnungsgesuch (zur Nichtverwertbarkeit des Gutachtens
eines erfolgreich abgelehnten Sachverständigen als Beweismittel BSG Urteil vom 11.12.1992 - 9a RV 6/92 - SozR 3-1500 § 128 Nr 7; Kühl, NZS 2003, 579, 580; hierzu sogleich unter C.).
C. Das Ablehnungsgesuch des Klägers vom 25.10.2021 ist unbegründet und deshalb zurückzuweisen. Nach §
118 Abs
1 Satz 1
SGG iVm §
406 Abs
1 Satz 1
ZPO kann ein Sachverständiger aus denselben Gründen abgelehnt werden, die zur Ablehnung eines Richters berechtigen. Ein Richter
kann gemäß §
42 Abs
2 ZPO wegen Besorgnis der Befangenheit abgelehnt werden, wenn ein Grund vorliegt, der geeignet ist, Misstrauen gegen seine Unparteilichkeit
zu rechtfertigen. Es kommt nicht darauf an, ob der Richter tatsächlich befangen ist. Vielmehr genügt es, wenn vom Standpunkt
des Antragstellers aus gesehen hinreichende objektive Gründe vorliegen, die bei vernünftiger Würdigung aller Umstände Anlass
geben, an der Unparteilichkeit, Unvoreingenommenheit und Unbefangenheit zu zweifeln (BVerfG Beschluss vom 5.4.1990 - 2 BvR 413/88 - BVerfGE 82, 30, 38; BSG Beschluss vom 1.3.1993 - 12 RK 45/92 - SozR 3-1500 § 60 Nr 1). Einen solchen Anlass hat der Sachverständige B nicht gegeben.
Soweit er in seiner psychiatrisch-psychosomatischen Stellungnahme vom 27.9.2021 zur Beantwortung der 3. Beweisfrage ausführt,
"die Verhaltensbeobachtungen zeigen ein leichtgradiges querulatorisches Syndrom, welches auf ein bestimmtes Ziel gerichtet
ist, Entschädigungsansprüche (gegen die Berufsgenossenschaft) durchzusetzen, die körperlich nicht zu objektivieren sind und
die gerichtlich zurückgewiesen wurden",
und darüber hinaus bemerkt,
"die in Anspruch genommenen Gerichte haben aufgrund eines Sachverhaltes bisher eine Entscheidung getroffen, die dem Kläger
vor Augen führt, dass er keine diesbezüglichen Ansprüche besitzt. Der Kläger respektierte diese Entscheidungen nicht und 'klagte
sich hoch'",
liegen darin aus Sicht eines vernünftigen Beteiligten keine Gründe, an der Unparteilichkeit und Unvoreingenommenheit des Sachverständigen
zu zweifeln. Denn der Sachverständige ist nicht zu den materiell-rechtlichen Voraussetzungen des geltend gemachten Anspruchs
auf Verletztenrente, sondern zu den Grundlagen der Sachurteilsvoraussetzung "Prozessfähigkeit des Klägers" befragt worden.
In diesem Rahmen war es gerade Aufgabe des Sachverständigen, das Prozessverhalten des Klägers unter psychiatrisch-psychosomatischen
Gesichtspunkten zu beurteilen und die mutmaßliche Psychodynamik darzustellen.
Soweit der Kläger mit Schriftsatz vom 3.8.2021 erstmals auch die grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache geltend gemacht
hat, ist dieser nachgeschobene Zulassungsgrund nach Ablauf der Beschwerdebegründungsfrist am 2.11.2020 nicht mehr zu berücksichtigen
(BSG Beschlüsse vom 13.8.2018 - B 13 R 393/17 B - juris RdNr 21, vom 30.4.2013 - B 5 RS 48/12 B - BeckRS 2013, 69026 RdNr 14, vom 26.6.2006 - B 1 KR 19/06 B - SozR 4-1500 § 160 Nr 10 RdNr 4 und vom 13.6.2001 - B 10/14 EG 4/00 B - juris RdNr 13; Leitherer in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt,
SGG, 13. Aufl 2020, §
160a RdNr 13b). Von einer weiteren Begründung sieht der Senat ab, weil sie nicht geeignet ist, zur Klärung der Voraussetzungen
der Revisionszulassung beizutragen (§
160a Abs
4 Satz 2 Halbsatz 2
SGG; zur verfassungsrechtlichen Zulässigkeit einer solchen Verfahrensweise vgl BVerfG Kammerbeschluss vom 8.12.2010 - 1 BvR 1382/10 - juris RdNr 12 f).
D. Die Kostenentscheidung beruht auf §§
183,
193 SGG.