Keine Ablehnung des ärztlichen Sachverständigen im sozialgerichtlichen Verfahren wegen Besorgnis der Befangenheit bei Unzulänglichkeiten
der Begutachtung; Zulässigkeit der Anhörungsrüge
Gründe
I.
Zwischen den Beteiligten ist streitig, ob die Besorgnis der Befangenheit gegenüber dem Sachverständigen Dr. S. besteht.
Der Kläger und Beschwerdeführer (im Folgenden: Bf.) begehrt im Klageverfahren vor dem Sozialgericht Nürnberg (Az.: S 15 U 186/09) die Gewährung einer Verletztenrente aufgrund der Folgen des Arbeitsunfalls vom 23. Februar 1994; zwei weitere Unfälle im
Jahre 2004 hätten die Beschwerdesymptomatik verschärft. Die Beklagte lehnte dies mit Bescheid vom 15. November 2006 in der
Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 21. Juli 2009 ab.
Das Sozialgericht hat mit Beweisanordnung vom 25. März 2011 zunächst den Orthopäden Dr. M. mit der Erstellung eines Gutachtens
beauftragt. Mit Schriftsatz vom 7. April 2011 hat der Bf. diesen wegen Besorgnis der Befangenheit abgelehnt, da der Sachverständige
eng mit der Berufsgenossenschaft verbunden sei. Das Gericht hat daraufhin den Sachverständigen entbunden und mit Beschluss
vom 20. April 2011 die Beweisanordnung dahingehend abgeändert, dass mit der Gutachtenserstellung der Orthopäde Dr. E. S. beauftragt
worden ist.
Mit Gutachten vom 28. Juli 2011 hat dieser nach ambulanter Untersuchung in den Untersuchungsräumen des Sozialgerichts Nürnberg
als Unfallfolgen verheilte Verstauchungen der Wirbelsäule, einen unter Verformung verheilten Bruch des 3. oder 4. Brustwirbels
und eine verheilte Schädelprellung festgestellt. Die Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) betrage unter 10 v.H. Mit Schreiben
vom 13. September 2011 hat das Sozialgericht dem Bf. das Gutachten zur Stellungnahme bis 21. Oktober 2011 übersandt. Mit Schriftsätzen
vom 17. und 18. Oktober 2011 sowie vom 10. Juli 2012 hat der Bf. umfassend zu den Gutachten Stellung genommen. In dem Schriftsatz
vom 18. Oktober 2011 hat er ausgeführt, dass Dr. S. nach seiner Kenntnis auffallend viele Gutachten für das Sozialgericht
Nürnberg, B-Stadt und das Bayer. Landessozialgericht fertige. Hier könne man vermuten, dass seitens des Gutachters die wirtschaftliche
Abhängigkeit von Folgeaufträgen eine gewisse Rolle spiele; die Besorgnis der Befangenheit sei hier angebracht. Im Übrigen
hat der Bf. vielfache inhaltliche Kritik an dem Gutachten geübt, z. B. eine lückenhafte Anamnese oder die Unterlassung notwendiger
Untersuchungen gerügt. Der Bf. hat weiterhin vorgetragen, dass Dr. S. die notwendige Sachkunde und Fachkompetenz fehle um
seine komplexe Erkrankung beurteilen zu können. Das Gutachten sei unrichtig, weil es der wahren Sachlage nicht entspreche.
Dr. S. hätte mit der von ihm getroffenen Schlussfolgerung seine Kompetenz weit überschritten. Zudem habe Dr. S. formale Begutachtungsstandards
nicht eingehalten.
Der Vorwurf des Bf., Dr. S. stehe in einem Vertragsverhältnis zum Gericht und sei daher wirtschaftlich abhängig und befangen,
ist gemäß Schriftsatz des in der Zwischenzeit Bevollmächtigten des Klägers vom 1. März 2013 nicht mehr aufrechterhalten worden.
Es würden aber die anderen erhobenen Vorwürfe aufrecht erhalten. Gewichtig erscheine hierbei insbesondere, dass in dem Kellerraum
die CT-Bilder von diesem nicht zur Kenntnis genommen worden seien. Der Gutachter habe das Gutachten trotzdem erstellt. Dies
müsse unmöglich sein angesichts des für ihn fehlenden Kotakts zu den ursprünglichen bilddiagnostischen Feststellungen. Allein
auf die schriftlichen Texte habe sich der Gutachter nicht stützen dürfen. Er habe sich ferner deutlich über seine eigene Fachkompetenz
hinaus geäußert. Im Übrigen sei bereits mit klägerischem Schriftsatz vom 10. Juli 2012 die Einholung eines biomechanischen
Gutachtens beantragt worden.
Dr. S. hat sich mit Stellungnahme vom 2. August 2013 zu den erhobenen Vorwürfen geäußert. Berichte über Funktionsaufnahmen
an der Wirbelsäule hätten in ausreichendem Maße in den Gutachtenakten vorgelegen. Tatsächlich sei es auch so, dass CD's und
DVD's auf den Computern in den Untersuchungsräumen des Sozialgerichts Nürnberg nur eingeschränkt verwertbar seien. Das schließe
aber nicht aus, dass er in seinen eigenen Untersuchungsräumen eine kompetente PC-Anlage habe. Auf die zahlreichen Röntgenbefunde,
die in dem Gutachten aufgeführt und von ihm eingesehen worden seien, hat er hingewiesen.
Der Bf. hat mit Schriftsatz vom 26. September 2013 den Antrag auf Ablehnung des Sachverständigen aufrecht erhalten.
Das Sozialgericht hat das Ablehnungsgesuch mit Beschluss vom 16. Januar 2014 zurückgewiesen. Der Gutachter habe sich mit den
an ihn herangetragenen Beweisfragen auseinandergesetzt. Seine - für den Kläger in der Sache nachteiligen - Ausführungen ließen
nicht erkennen, dass er sich seiner Aufgabe voreingenommen gestellt hätte. Sie ergäben auch weder nach ihrem Inhalt noch im
Hinblick auf ihre Formulierung Anlass zu der Annahme, dass sich der Sachverständige von unsachlichen Erwägungen hätte leiten
lassen.
Nach Ansicht des Gerichts habe Dr. S. die Begutachtung des Klägers entsprechend der gängigen formalen Begutachtungsstandards
vorgenommen und die vom Gericht gestellten Beweisfragen in nicht zu beanstandender Weise abgearbeitet. Das Gutachten sei von
Sachlichkeit und gebotener Neutralität geprägt.
Bei den vom Kläger vorgetragenen zahlreichen Kritikpunkten an dem Inhalt des Gutachtens von Dr. S. und auch bei der Kritik
an dessen Fachkompetenz handele es sich um Vorwürfe, die die Fähigkeit des Sachverständigen in Zweifel ziehen, nicht dagegen
seine Unparteilichkeit. Diese Vorwürfe könnten daher eine Besorgnis der Befangenheit des Dr. S. nicht begründen.
Der Beschluss ist dem Prozessbevollmächtigten des Bf. mit Empfangsbekenntnis am 23. Januar 2014 zugestellt worden.
Zur Begründung der hiergegen am 21. Februar 2014 beim Sozialgericht eingelegten Beschwerde hat der Bf. auf die Ausführungen
im Schriftsatz vom 15. Februar 2014 verwiesen und ausgeführt, es lägen entgegen dem Beschluss des Sozialgerichts objektive
Anhaltspunkte dafür vor, die auf eine Befangenheit des ärztlichen Sachverständigen schließen ließen. Der Sachverständige nehme
eine "Alibirolle" ein, was insbesondere die Beurteilung der mitgebrachten Röntgenaufnahmen auf CD's betreffe. Diese hätten
überhaupt nicht inhaltlich erfasst werden können, weil eine entsprechende Ausstattung in dem Untersuchungsraum des Gerichts
nicht vorhanden gewesen sei. Ferner seien Ausführungen in dem Gutachten sowie die Bewertung der MdE mit unter 10 v.H. nicht
zutreffend. Auch die Tatsache, dass der Sachverständige von sich aus nicht das biomechanische Gutachten als Grundlage seiner
eigenen Beurteilung als notwendig ansehe und zuvor fordere, zeige eine "Alibiposition".
Ferner habe das Gericht das rechtliche Gehör des Bf. verletzt; dessen Argumentation insbesondere bezüglich der Schmerzproblematik
sei klar und deutlich gewesen. Da das Sozialgericht hiervor die Ohren verschließe, werde hilfsweise eine "Gehörsrüge" erhoben.
Der Bf. sei durchgehend auf Schmerzmittel angewiesen und habe sich mehrfach in Schmerzkliniken aufgehalten. Auch dies sei
Folge des Unfalls.
Die Beklagte hat sich zu der Beschwerde nicht geäußert.
II.
Nach §
118 Abs.
1 SGG sind im sozialgerichtlichen Verfahren über die Ablehnung eines Sachverständigen die Vorschriften der
Zivilprozessordnung (
ZPO) anzuwenden. Nach §
406 Abs.
2 S. 1, 411 Abs.
1 ZPO ist der Ablehnungsantrag bei dem Gericht oder dem Richter, von dem der Sachverständige ernannt ist, zwei Wochen nach Verkündung
oder Zustellung des Beschlusses über die Ernennung zu stellen - zu einem späteren Zeitpunkt nach §
406 Abs.
2 S. 2
ZPO nur dann, wenn der Antragsteller Gründe nennen kann, dass er die Befangenheit ohne sein Verschulden erst zu einem späteren
Zeitpunkt geltend machen konnte. Dies ist in der Regel dann der Fall, wenn erst aus dem schriftlich abgefassten Gutachten
der Ablehnungsgrund ersichtlich wird. In diesem Fall endet die Frist für den Ablehnungsantrag mit dem Ablauf der Frist, die
das Gericht den Beteiligten zur Stellungnahme zum Gutachten eingeräumt hat. Zweck dieser Regelung ist die Beschleunigung des
gerichtlichen Verfahrens. Da sich vorliegend die geltend gemachte Besorgnis der Befangenheit aus dem Gutachten selbst ergibt
und hierbei vom Gericht eine Frist zur Stellungnahme bis 21.Oktober 2011 gesetzt worden war, war der Schriftsatz vom 18. Oktober
2011, eingegangen am 20. Oktober 2011, der bei Auslegung bereits ein Ablehnungsgesuch enthielt, als fristgemäß anzusehen.
Nach §§
406 Abs.
1 S. 1, 42 Abs.
1 und
2 ZPO findet die Ablehnung wegen Besorgnis der Befangenheit statt, wenn ein Grund vorliegt, der geeignet ist, Misstrauen gegen
die Unparteilichkeit des Sachverständigen zu rechtfertigen. Der Grund, der das Misstrauen rechtfertigt, muss bei objektiver
und vernünftiger Betrachtungsweise vom Standpunkt der Partei aus vorliegen. Rein subjektive Vorstellungen und Gedankengänge
des Antragsteller scheiden aus (Thomas/Putzo,
ZPO, 32. Aufl., §
42 Rdnr. 9).
Allerdings rechtfertigen sachliche Mängel eines Gutachtens, wie sie vom Bf. vorgebracht werden, eine Ablehnung eines Sachverständigen
wegen Besorgnis der Befangenheit nicht - hierzu ist jedoch auch auf die Stellungnahme des Sachverständigen zu dem klägerischen
Vorbringen hinzuweisen. Dies gilt insbesondere für die Auswertung mitgebrachter Röntgenaufnahmen, die Beurteilung der vorliegenden
Befunde, die Diagnoseerstellung oder auch die Bewertung der MdE im Rahmen der begehrten Verletztenrente. Eventuelle Unzulänglichkeiten
treffen beide Parteien und können lediglich dazu führen, die Rechte des Prozessrechts in Anspruch zu nehmen, insbesondere
ein neues Gutachten einzuholen (vgl. §
412 ZPO). Derartige Mängel eines Gutachtens können allenfalls ein Gutachten entwerten. Die inhaltliche Bewertung des Gutachtens obliegt
dem entscheidenden Gericht im Rahmen der freien Beweiswürdigung (§
128 Abs.
1 S. 1
SGG) und kann nicht in ein Verfahren wegen Besorgnis der Befangenheit vorgezogen werden. Es ist auch dem Sozialgericht die Entscheidung
zu überlassen, ob vor abschließender medizinischer Beurteilung ein biomechanisches Gutachten einzuholen wäre - ggf. wäre dann
zu entscheiden, ob eine ergänzende Stellungnahme des Sachverständigen anzufordern oder ein neues Gutachten in Auftrag zu geben
wäre.
Ähnliches gilt für die vom Bf. angezweifelte Fachkompetenz des Sachverständigen. Unabhängig davon, dass grundsätzlich bei
dem Sachverständigen keine Anhaltspunkte für das Fehlen der Kompetenz auf orthopädischem Fachgebiet gegeben sind, würde dies
lediglich einen Mangel des Gutachtens darstellen, der beide Parteien betrifft und keinen Grund für die Ablehnung wegen Besorgnis
der Befangenheit darstellen würde.
Der klägerische Vorwurf der finanziellen Abhängigkeit des Sachverständigen von der Beauftragung durch bayerische Sozialgerichte
wurde ausdrücklich nicht mehr aufrecht erhalten.
Das Sozialgericht hat damit zutreffend den Antrag auf Ablehnung des Sachverständigen Dr. S. zurückgewiesen.
Die hilfsweise erhobene "Gehörsrüge" im Sinne der Anhörungsrüge nach §
178 a SGG ist unzulässig.
Gemäß §
178 a Abs.
1 S. 1
SGG ist auf Rüge eines durch eine gerichtliche Entscheidung beschwerten Beteiligten das Verfahren fortzuführen, wenn ein Rechtsmittel
oder ein anderer Rechtsbehelf gegen die Entscheidung nicht gegeben ist und das Gericht den Anspruch dieses Beteiligten auf
rechtliches Gehör in entscheidungserheblicher Weise verletzt hat. Die Rüge ist innerhalb von zwei Wochen nach Kenntnis von
der Verletzung des rechtlichen Gehörs zu erheben (§
178 a Abs.
2 S. 1
SGG).
Die Anhörungsrüge ist bereits wegen des Versäumnisses dieser Frist als unzulässig zu verwerfen (§
178 a Abs.
4 S. 1
SGG). Der Beschluss, gegen den sich der Bf. wendet, wurde dem Prozessbevollmächtigten gemäß Empfangsbekenntnis am 23. Januar
2014 zugestellt. Die zweiwöchige Frist begann somit am 24. Januar 2014 und endete mit Ablauf des 6. Februar 2014. Die Anhörungsrüge
ging jedoch erst am 21. Februar 2014 beim Sozialgericht und am 27. Februar 2014 beim Bayer. Landessozialgericht ein.
Darüber hinaus handelt es sich bei dem Beschluss des Sozialgerichts nicht um eine gerichtliche Entscheidung, gegen die ein
Rechtsmittel oder ein anderer Rechtsbehelf nicht gegeben ist (§
178 a Abs.
1 S. 1 Nr.
1 SGG). Eine Anhörungsrüge findet nur statt gegen Endentscheidungen.
Der Senat kann offenlassen, ob eine Anhörungsrüge "hilfsweise" erhoben werden kann.
Die Kostenentscheidung beruht auf entsprechender Anwendung des §
193 SGG.
Dieser Beschluss ist gemäß §
177 SGG bzw. §
178 a Abs.
4 S. 3
SGG unanfechtbar.