LSG Hessen, Urteil vom 05.07.2017 - 4 SO 162/16
SGB-II-Leistungen
Verfassungskonformität nachteilige Folgen bei Verletzung von Mitwirkungspflichten
Ausgewogener Regelungskomplex
1. Der Senat ist nicht davon überzeugt, dass die Regelungen der §§ 60 ff. SGB I im Allgemeinen verfassungswidrig sind oder ihre Anwendung im konkreten Fall das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen
Existenzminimums aus Art. 1 Abs. 1 i.V.m. Art. 20 Abs. 1 GG verletzt.
2. Es handelt sich insgesamt um einen ausgewogenen Regelungskomplex mit mehreren Stellschrauben, die eine verhältnismäßige
und damit verfassungskonforme Rechtsanwendung im Einzelfall ermöglichen; so handelt es sich bei den in §§ 60 bis 64 SGB I angeordneten Mitwirkungspflichten, die durch die Regelung des § 65 SGB I bereits in mehrfacher Hinsicht beschränkt werden, rechtlich lediglich um Obliegenheiten, die von dem zuständigen Sozialleistungsträger
nicht zwangsweise durchgesetzt werden können.
3. Um ihnen gleichwohl zu einer gewissen Durchsetzungskraft zu verhelfen, bedarf es daher zwingend einer Regelung wie § 66 SGB I, die nachteilige Folgen für den Fall fehlender Mitwirkung ermöglicht.
4. Auch die Möglichkeit, Sozialleistungen zu versagen oder zu entziehen, hat der Gesetzgeber indes eingeschränkt, indem er
eine erhebliche Erschwerung der Sachverhaltsaufklärung und einen fehlenden anderweitigen Nachweis der materiellen Tatbestandsvoraussetzungen
fordert.
Vorinstanzen: SG Wiesbaden 20.06.2016 S 14 SO 71/13
Tenor
Die Berufungen des Klägers gegen die Gerichtsbescheide des Sozialgerichts Wiesbaden vom 20. Juni 2016 werden zurückgewiesen.
Die Beteiligten haben einander auch für die Berufungsverfahren keine Kosten zu erstatten.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Entscheidungstext anzeigen:
Tatbestand
Der Kläger wendet sich gegen mehrere Versagungsbescheide des Beklagten.
Der 1966 geborene Kläger bezog von dem Beklagten bis Ende Juni 2009 Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem
Zweiten Buch Sozialgesetzbuch Grundsicherung für Arbeitsuchende (SGB II). Damals kam ein von dem Beklagten veranlasstes amtsärztliches Gutachten zu dem Ergebnis, bei dem Kläger bestehe wegen einer
unbehandelten floriden chronischen Erkrankung aus dem psychiatrischen Formenkreis mit fehlender Krankheitseinsicht Leistungsunfähigkeit
auf nicht absehbare Zeit. Daraufhin gewährte der Beklagte dem Kläger ab dem 1. Juli 2009 Hilfe zum Lebensunterhalt nach dem
Dritten Kapitel des Zwölften Buchs Sozialgesetzbuch - Sozialhilfe (SGB XII). Unter dem 28. Februar 2012 wies der Beklagte den Kläger darauf hin, dass das vorliegende amtsärztliche Gutachten zur Weitergewährung
der Leistungen nicht mehr ausreiche und er zur Überprüfung der Erwerbsfähigkeit des Klägers verpflichtet sei, den Rentenversicherungsträger
einzuschalten. Dafür müsse der Kläger bis zum 16. März 2012 seine Ärzte von der Schweigepflicht entbinden und einen Befundbericht
seines behandelnden Arztes vorlegen. Der Kläger werde darauf aufmerksam gemacht, dass er nach §§ 60 ff. Erstes Buch Sozialgesetzbuch - Allgemeiner Teil ( SGB I) zu einer entsprechenden Mitwirkung verpflichtet sei. Außerdem werde der Kläger darauf hingewiesen, dass der Beklagte seine
bisher gewährten Leistungen zum 1. April 2012 wegen fehlender Mitwirkung einstellen werde, wenn der Kläger die angeforderten
Unterlagen nicht rechtzeitig vorlege. Der Kläger reichte weder den erbetenen Befundbericht ein noch gab er eine Schweigepflichtentbindungserklärung
ab. Daraufhin stellte der Beklagte mit Bescheid vom 21. März 2012 die Gewährung von Hilfe zum Lebensunterhalt nach dem Dritten
Kapitel des SGB XII zum 1. April 2012 ein und ordnete die sofortige Vollziehung dieses Bescheids an. Nach Anordnung der aufschiebenden Wirkung
durch Senatsbeschluss vom 26. September 2012 (Aktenzeichen: L 4 SO 191/12 B ER) hob der Beklagte diesen Bescheid auf und gewährte
dem Kläger Sozialhilfe in bisheriger Höhe weiter.
Zugleich forderte der Beklagte den Kläger erneut auf, eine Erklärung über die Entbindung von der Schweigepflicht und einen
ärztlichen Befundbericht vorzulegen. Dabei wies der Beklagte wiederum darauf hin, dass Voraussetzung für die Gewährung von
Hilfe zum Lebensunterhalt nach dem SGB XII sei, dass eine befristete Erwerbsunfähigkeit und somit kein Anspruch auf Leistungen nach dem SGB II oder der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung bestehe. Die Feststellung, ob eine befristete oder eine dauerhafte
Erwerbsminderung bestehe, sei nur bindend, wenn sie durch den Rentenversicherungsträger getroffen werde. Das vorliegende Gutachten
des amtsärztlichen Dienstes des Beklagten könne für eine weitere Leistungsgewährung nach dem SGB XII nicht mehr zugrunde gelegt werden. Derjenige, der Sozialleistungen erhalte, solle sich gemäß § 62 SGB I auf Verlangen des zuständigen Leistungsträgers ärztlichen und psychologischen Untersuchungen unterziehen, soweit diese für
die Entscheidung über die Leistungen erforderlich seien. Da die Feststellung der Erwerbsfähigkeit oder Erwerbsunfähigkeit
für die Entscheidung, welche Hilfeart dem Widerspruchsführer zustehe, notwendig sei, sei die Vorlage des ärztlichen Befundberichts
und der Schweigepflichtentbindungserklärung unabdingbar, da diese Unterlagen Grundlage für die anstehende Beurteilung durch
die Deutsche Rentenversicherung seien. Nur so könne diese sich ein umfassendes Bild über den Gesundheitszustand des Klägers
machen. Gemäß § 60 SGB I habe derjenige, der Sozialleistungen beantragt, alle Tatsachen anzugeben, die für die Leistung erheblich sind. Komme derjenige,
der eine Sozialleistung wegen Arbeitsunfähigkeit, wegen Gefährdung oder Minderung der Erwerbsfähigkeit erhalte, seinen Mitwirkungspflichten
nach §§ 62 bis 65 SGB I nicht nach und sei unter Würdigung aller Umstände mit Wahrscheinlichkeit anzunehmen, dass deshalb die Fähigkeit zur selbstständigen
Lebensführung, die Arbeits-, Erwerbs- oder Vermittlungsfähigkeit beeinträchtigt oder nicht verbessert werde, könne der Leistungsträger
nach § 66 Abs. 2 SGB I ohne weitere Ermittlungen die Leistung bis zur Nachholung der Mitwirkung teilweise oder ganz versagen. Sollte der Kläger
dem Beklagten die Entbindung von der Schweigepflicht und den ärztlichen Befundbericht nicht bis zum 7. November 2012 ausgefüllt
und unterschrieben zurückgesandt haben, sei beabsichtigt, ab 1. Dezember 2012 den aktuellen Regelbedarf um 20 % zu kürzen
und den Leistungsanspruch teilweise zu versagen. Außerdem werde darauf hingewiesen, dass weiter stufenweise Leistungskürzungen
folgen werden, wenn der Kläger auch nach dem 7. November 2012 die Vorlage der genannten Unterlagen verweigere. Der Kläger
legte dem Beklagten keine Unterlagen vor.
Daraufhin gewährte der Beklagte dem Kläger mit Bescheid vom 28. November 2012 Hilfe zum Lebensunterhalt ab 1. Dezember 2012
nur noch unter Zugrundelegung eines um 20 % gekürzten Regelsatzes und ordnete die sofortige Vollziehung dieses Bescheids an.
Zur Begründung verwies der Beklagte darauf, dass der Kläger mit Schreiben vom 15. Oktober 2012 gebeten worden sei, eine Entbindung
von der Schweigepflicht und einen ärztlichen Befundbericht vorzulegen. Diese Unterlagen seien nicht eingegangen. Voraussetzung
für die Gewährung von Sozialhilfe sei jedoch, dass der Kläger erwerbsunfähig sei. Dies könne jedoch wegen der fehlenden Mitwirkung
des Klägers nicht festgestellt werden. Die informationelle Selbstbestimmung finde bei der Inanspruchnahme von Sozialleistungen
insofern eine Grenze, da Sozialleistungen nur unter gesetzlich festgelegten Voraussetzungen gewährt würden. In § 45 SGB XII und § 44a Abs. 2 SGB II sei gesetzlich festgehalten, dass nur die Deutsche Rentenversicherung eine bindende Feststellung der Erwerbsminderung treffen
könne. Somit sei diese Feststellung auch für die Entscheidung über den Anspruch auf Sozialhilfe bindend, da diese nur gewährt
werden könne, wenn kein Anspruch auf Leistungen nach dem SGB II oder dem Vierten Kapitel des SGB XII bestehe. Der Beklagte habe keine Möglichkeit, diese Informationen anderweitig einzuholen und sei daher auf die Mitwirkung
des Klägers, die diesem auch zumutbar sei, angewiesen. Da die Sozialhilfe im ersten Schritt nur um 20 % des Regelbedarfs gekürzt
werde, sei gewährleistet, dass dem Kläger die materielle Existenzgrundlage nicht sofort vollständig entzogen werde. Der Kläger
habe somit die Möglichkeit, seinen Lebensunterhalt weiterhin, wenn auch eingeschränkt, sicherzustellen. Da die Kürzung nach
Vorlage der rechtmäßig angeforderten Unterlagen aufgehoben werde, bedürfe es auch keines langwierigen Rechtsstreits, sondern
lediglich der Einsicht des Klägers. Gleichzeitig forderte der Beklagte den Kläger auf, die angeforderten Unterlagen bis 11.
Januar 2013 vorzulegen, andernfalls werde die Sozialhilfe um weitere 20 % gekürzt. Gegen diesen Bescheid legte der Kläger
mit Schreiben vom 30. Dezember 2012 Widerspruch ein, den der Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 2. April 2013 als unbegründet
zurückwies. Da der Kläger weiterhin keine Unterlagen einreichte, kürzte der Beklagte mit Bescheid vom 15. Januar 2013 die
Regelleistungen ab 1. Februar 2013 um weitere 20 % und ordnete mit der gleichen Begründung wie in dem Bescheid vom 28. Dezember
2012 auch hier den Sofortvollzug an. In dem Bescheid forderte der Beklagte den Kläger erneut auf, die angeforderten Unterlagen
vorzulegen und setzte dafür eine Frist bis 11. Februar 2013, andernfalls werde die Sozialhilfe um weitere 20 % gekürzt. Gegen
diesen Bescheid legte der Kläger mit Schreiben vom 29. Januar 2013 Widerspruch ein, den der Beklagte mit Widerspruchsbescheid
vom 10. April 2013 als unbegründet zurückwies. Die erbetenen Unterlagen reichte er bei dem Beklagten weiterhin nicht ein.
Daraufhin kürzte der Beklagte mit Bescheid vom 20. Februar 2013 die Regelleistungen ab 1. Februar 2013 um weitere 20 % und
ordnete mit der gleichen Begründung wie in dem Bescheid vom 28. Dezember 2012 auch den Sofortvollzug an. In diesem Bescheid
forderte der Beklagte den Kläger erneut auf, die angeforderten Unterlagen vorzulegen und setzte dafür eine Frist bis zum 11.
März 2013, andernfalls werde die Sozialhilfe um weitere 20 % gekürzt. Nachdem der Kläger weiterhin keine Unterlagen einreichte,
kürzte der Beklagte mit Bescheid vom 19. März 2013 die Regelleistungen ab 1. April 2013 um weitere 20 % und ordnete mit der
gleichen Begründung wie in seinem Bescheid vom 28. Dezember 2012 auch den Sofortvollzug an. In diesem Bescheid forderte der
Beklagte den Kläger erneut auf, die angeforderten Unterlagen vorzulegen und setzte dafür eine Frist bis zum 12. April 2013,
andernfalls werde die Sozialhilfe um weitere 20 % gekürzt.
Der Kläger hat am 18. April 2013 gegen den Bescheid vom 28. November 2012 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 2.
April 2013, gegen den Bescheid vom 15. Januar 2013 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 10. April 2013 sowie gegen
die Bescheide vom 20. Februar 2013 und 19. März 2013 Klage zum Sozialgericht Wiesbaden erhoben (Aktenzeichen: S 26 SO 71/13).
Nach Erlass des auf die klägerischen Widersprüche gegen die beiden letztgenannten Verwaltungsakte ergangenen Widerspruchsbescheids
des Beklagten vom 13. September 2013 hat der Kläger auch insoweit Klage zum Sozialgericht Wiesbaden erhoben (Aktenzeichen:
S 14 SO 189/13). Dabei hat er auch den Ausgangsbescheid des Beklagten vom 11. September 2013 zum Gegenstand des Verfahrens
gemacht. Mit diesem hat der Beklagte wegen der weiterhin unterlassenen Übersendung der erbetenen Unterlagen eine neuerliche
Kürzung der Regelleistungen um 20 % mit Wirkung ab Oktober 2013 verfügt und den Sofortvollzug angeordnet. Den Widerspruch
gegen den Bescheid vom 11. September 2013 hat der Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 3. Dezember 2013 zurückgewiesen. Daraufhin
hat der Kläger seine Klage entsprechend erweitert.
Zur Klagebegründung hat der Kläger die Auffassung vertreten, dass der Beklagte nicht berechtigt sei, von ihm eine umfassende
Entbindung von der Schweigepflicht und die Vorlage von Befundberichten zu verlangen. Daher habe er auch nicht gegen Mitwirkungspflichten
verstoßen, so dass die Kürzung der Leistung zu Unrecht erfolgt sei. Dem ist der Beklagte entgegengetreten.
Auf Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung dieser Klagen gerichtete Eilanträge sind erfolglos geblieben (Senatsbeschlüsse
vom 26. August 2013 - L 4 SO 153/13 B ER und vom 15. August 2014 - L 4 SO 4/14 B ER).
Mit zwei Gerichtsbescheiden vom 20. Juni 2016 hat das Sozialgericht die Klagen abgewiesen. Die angefochtenen Bescheide des
Beklagten seien gestützt auf § 66 Abs. 1 S. 1 SGB I rechtmäßig und beschwerten den Kläger nicht. Danach könne der Leistungsträger, wenn derjenige, der eine Sozialleistung beantragt
oder erhält, seinen Mitwirkungspflichten nach den §§ 60 bis 62, 65 SGB I nicht nachkommt und hierdurch die Aufklärung des Sachverhalts erheblich erschwert wird, ohne weitere Ermittlungen die Leistung
bis zur Nachholung der Mitwirkung ganz oder teilweise versagen oder entziehen, soweit die Voraussetzungen der Leistung nicht
nachgewiesen sind. Der Kläger erhalte seit 1. Juli 2009 Hilfe zum Lebensunterhalt nach dem Dritten Kapitel des SGB XII. Er habe auch seine Mitwirkungspflichten verletzt, indem er die von ihm geforderte Erklärung zur Entbindung von der ärztlichen
Schweigepflicht sowie den von ihm geforderten ärztlichen Befundbericht nicht vorgelegt habe. Hierdurch sei die Aufklärung
des Sachverhalts erheblich erschwert. Nach § 62 SGB I solle, wer Sozialleistungen beantragt oder erhält, sich auf Verlangen des zuständigen Leistungsträgers ärztlichen und psychologischen
Untersuchungsmaßnahmen unterziehen, soweit diese für die Entscheidung über die Leistung erforderlich sind. Der Kläger sei
von dem Beklagten mehrfach schriftlich aufgefordert worden, zur Vorbereitung einer ärztlichen Untersuchung seine Ärzte von
der Schweigepflicht zu entbinden und einen Befundbericht seines behandelnden Arztes vorlegen. Diese Unterlagen habe er nicht
eingereicht. Da die Leistungen nach dem SGB XII im Gegensatz zu den Leistungen nach dem SGB II nur gewährt würden, wenn Erwerbsunfähigkeit vorliegt (s. § 21 SGB XII), sei, nachdem das letzte amtsärztliche Gutachten, das die Erwerbsunfähigkeit bestätigt habe, bereits mehr als drei Jahre
zurückliege, eine neue ärztliche Untersuchung notwendig, um überprüfen zu können, ob der Kläger weiterhin erwerbsunfähig ist.
Zu dieser Untersuchung zählten auch die Auswertung bestehender ärztlicher Unterlagen und eines Befundberichts eines den Antragsteller
aktuell behandelnden Arztes. Deshalb seien die vom Antragsgegner geforderten Unterlagen und Erklärungen für die Weitergewährung
der Leistungen nach dem SGB XII erforderlich gewesen; unabhängig davon, ob die ärztliche Untersuchung letztlich von dem Antragsgegner durch einen Amtsarzt
oder von der Bundesagentur für Arbeit unter Beteiligung der Deutschen Rentenversicherung durchgeführt worden wäre. Weil der
Kläger diese Unterlagen nicht vorgelegt habe, seien die Voraussetzungen für die Weitergewährung der Leistungen nach dem SGB XII nicht nachgewiesen. Auch wenn das amtsärztliche Gutachten vom 27. Mai 2009 zu dem Ergebnis gekommen sei, dass Leistungsunfähigkeit
auf nicht absehbare Zeit bestehe, seien die medizinischen Voraussetzungen nach Ablauf von mehr als drei Jahren neu zu überprüfen,
da sich aus dem Gutachten gerade nicht ergebe, dass der Kläger auf Dauer nicht erwerbsfähig sei. Auch die Voraussetzungen
des § 66 Abs. 3 SGB I seien erfüllt, denn der Kläger sei auf die drohende Versagung oder Entziehung seiner Sozialleistungen jeweils schriftlich
hingewiesen worden und seiner Mitwirkungspflicht nicht innerhalb einer ihm gesetzten angemessenen Frist nachgekommen. Der
Beklagte sei daher berechtigt gewesen, ohne weitere Ermittlungen eine Ermessensentscheidung zu treffen, ob er die Leistung
ganz oder teilweise versage oder entziehe. Ein Ermessensfehler sei dabei nicht erkennbar.
Gegen den ihm am 22. Juni 2016 zugestellten Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Wiesbaden vom 20. Juni 2016 zum Aktenzeichen
S 14 SO 189/13 und gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Wiesbaden vom selben Tag zum Aktenzeichen S 14 SO 71/13,
dessen Zustellung an den Kläger anhand der Gerichtsakte nicht nachweisbar ist, hat der Kläger am 22. Juli 2016 jeweils Berufung
eingelegt. Die Berufungsverfahren sind zunächst unter den Aktenzeichen L 4 SO 162/16 und L 4 SO 163/16 geführt und mit Beschluss
des Senats vom 16. Mai 2017 zur gemeinsamen Verhandlung und Entscheidung verbunden worden.
Der Kläger ist der Ansicht, die kumulierten Kürzungen seiner Hilfe zum Lebensunterhalt, die seit Oktober 2013 100 % seiner
monatlichen Regelleistung ausmachten, machten ihm eine Sicherung seines Existenzminimums unmöglich. Darin liege eine Verletzung
der Menschenwürde.
Der Kläger beantragt sinngemäß,
die Gerichtsbescheide des Sozialgerichts Wiesbaden vom 20. Juni 2016 sowie den Bescheid des Beklagten vom 28. November 2012
in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 2. April 2013, den Bescheid des Beklagten vom 15. Januar 2013 in der Gestalt
des Widerspruchsbescheids vom 10. April 2013, den Bescheid des Beklagten vom 20. Februar 2013 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids
vom 13. September 2013, den Bescheid des Beklagten vom 19. März 2013 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 13. September
2013 und den Bescheid des Beklagten vom 11. September 2013 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 3. Dezember 2013 aufzuheben.
Der Beklagte beantragt,
die Berufungen zurückzuweisen.
Er hält die angefochtenen Entscheidungen für zutreffend.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstands wird auf den Inhalt der Gerichtsakten und der Verwaltungsakten
des Beklagten, der Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen ist, Bezug genommen.
Gründe
Der Senat war berechtigt, seine Entscheidung aufgrund der mündlichen Verhandlung vom 5. Juli 2017 zu treffen, obwohl der Kläger
in diesem Termin nicht vertreten war. Denn der Kläger war ordnungsgemäß zur mündlichen Verhandlung geladen und dabei gemäß
§ 110 Abs. 1 Satz 2 Sozialgerichtsgesetz ( SGG) darauf hingewiesen worden, dass auch im Fall seines Ausbleibens verhandelt und entschieden werden kann.
Der Senat durfte auch in der planmäßigen Besetzung mit der Richterin am Landessozialgericht Vogl als Beisitzerin und dem Richter
am Sozialgericht Dr. Schmidt als Beisitzer entscheiden, obgleich der Kläger diese Gerichtspersonen mit Schriftsatz vom 3.
Juli 2017 wegen Besorgnis der Befangenheit abgelehnt hat. Gemäß § 60 Abs. 1 SGG i.V.m. § 47 Abs. 1 Zivilprozessordnung darf ein abgelehnter Richter vor Erledigung des Ablehnungsgesuchs nur solche Handlungen vornehmen, die keinen Aufschub gestatten.
Im vorliegenden Fall ist das Ablehnungsgesuch des Klägers indes schon vor Beginn der mündlichen Verhandlung erledigt gewesen.
Der ablehnende Senatsbeschluss vom 4. Juli 2017 - L 4 SF 36/17 AB - ist zumindest mit der Zustellung an den Beklagten am 5. Juli 2017 wirksam geworden. Das Empfangsbekenntnis des Beklagten
lag dem Senat ausweislich der Sitzungsniederschrift vom 5. Juli 2017 bereits vor Eröffnung der mündlichen Verhandlung vor.
Die Berufungen des Klägers gegen die Gerichtsbescheide des Sozialgerichts Wiesbaden vom 20. Juni 2016 sind zulässig, aber
unbegründet.
Streitgegenstände der mit Senatsbeschluss vom 16. Mai 2017 zur gemeinsamen Verhandlung und Entscheidung verbundenen Berufungsverfahren
sind der Bescheid des Beklagten vom 28. November 2012 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 2. April 2013, der Bescheid
des Beklagten vom 15. Januar 2013 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 10. April 2013, der Bescheid des Beklagten
vom 20. Februar 2013 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 13. September 2013, der Bescheid des Beklagten vom 19. März
2013 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 13. September 2013 und der Bescheid des Beklagten vom 11. September 2013
in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 3. Dezember 2013. Dabei handelt es sich durchweg um den Kläger belastende Verwaltungsakte
des Beklagten nach § 66 SGB I, die der Kläger in statthafter Weise mit reinen Anfechtungsklagen angreift.
Das Sozialgericht hat die Klagen im Ergebnis zu Recht abgewiesen. Denn sie sind zulässig, aber unbegründet.
Unschädlich ist, dass das Sozialgericht - wie der Senat in seinem Verbindungsbeschluss vom 16. Mai 2017 bereits ausgeführt
hat - in dem älteren Ausgangsverfahren (Aktenzeichen: S 14 SO 71/13) die Klage gegen die Bescheide des Beklagten vom 20. Februar
2013 und vom 19. März 2013 zu Unrecht als unzulässig angesehen, die insoweit nach Erlass des diesbezüglichen Widerspruchsbescheids
vom 13. September 2013 erneut erhobene Klage (Aktenzeichen: S 14 SO 189/13) unter Verkennung der anderweitigen Rechtshängigkeit
zu Unrecht als zulässig angesehen hat. Zumindest liegt für jeden der streitgegenständlichen Verwaltungsakte eine (klageabweisende)
erstinstanzliche Entscheidung vor.
Die angefochtenen Bescheide des Beklagten sind rechtmäßig und verletzen den Kläger nicht in seinen Rechten. Der Beklagte stützt
seine Versagungsentscheidungen zu Recht auf § 66 Abs. 1 S. 1, Abs. 3 SGB I. Danach kann ein Leistungsträger ohne weitere Ermittlungen die Leistung bis zur Nachholung der Mitwirkung ganz oder teilweise
versagen oder entziehen, soweit die Voraussetzungen der Leistung nicht nachgewiesen sind, weil der Antragsteller oder Bezieher
einer Sozialleistung seinen Mitwirkungspflichten nach den §§ 60 bis 62, 65 SGB I nicht nachkommt und hierdurch die Aufklärung des Sachverhalts erheblich erschwert wird, wenn der Leistungsberechtigte auf
diese Folge schriftlich hingewiesen worden und seiner Mitwirkungspflicht gleichwohl nicht innerhalb einer ihm gesetzten angemessenen
Frist nachgekommen ist.
Diese Voraussetzungen sind zur Überzeugung des Senats erfüllt. Der Senat hält an seiner bereits mehrfach geäußerten Einschätzung
(siehe die oben zitierten Beschlüsse in den Eilverfahren) fest, dass der Kläger mit der Nichtvorlage eines Befundberichts
und einer Schweigepflichtentbindungserklärung ihm obliegende Mitwirkungspflichten verletzt. Diese beruhen auf § 60 Abs. 1 S. 1 Nr. 1, 3 SGB I. Danach hat ein Empfänger von Sozialleistungen (wie der Kläger, dem der Beklagte nach wie vor Sozialhilfeleistungen zur Deckung
der Kosten der Unterkunft gewährt) alle Tatsachen anzugeben, die für die Leistung erheblich sind, und auf Verlangen des zuständigen
Leistungsträgers der Erteilung der erforderlichen Auskünfte durch Dritte zuzustimmen sowie Beweismittel zu bezeichnen und
auf Verlangen des zuständigen Leistungsträgers Beweisurkunden vorzulegen oder ihrer Vorlage zuzustimmen. Die von dem Beklagten
erbetene Schweigepflichtentbindungserklärung dient der Befragung der den Kläger behandelnden Ärzte als sachverständige Zeugen,
der erbetene Befundbericht stellt eine Beweisurkunde dar. Die Tatsachen, die der Beklagte auf diese Weise aufzuklären beabsichtigt,
sind für das Verwaltungsverfahren erheblich, weil die (weitere) Gewährung von Hilfe zum Lebensunterhalt nach dem Dritten Kapitel
des SGB XII von (dem Umfang) der Erwerbsfähigkeit des Klägers abhängt. Der Beklagte sieht sich zu Recht als befugt an, aufzuklären, ob
der Kläger vorrangige Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende nach dem SGB II bzw. der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung nach dem Vierten Kapitel des SGB XII beanspruchen kann. Dafür ist die Ermittlung des aktuellen Gesundheitszustands des Klägers im Rahmen der Amtsermittlung nach
§ 20 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch - Sozialverwaltungsverfahren und Sozialdatenschutz (SGB X) erforderlich. Die Mitwirkungspflicht ist auch nicht gemäß § 65 Abs. 1 SGB I ausgeschlossen. Entgegen der Ansicht des Klägers ist die Offenbarung seines Gesundheitszustands gegenüber dem Beklagten weder
unangemessen noch unzumutbar. Sein Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung ist hier schon deshalb nicht verletzt,
weil die Daten, die der Beklagte erheben möchte, dem besonderen Schutz des Sozialgeheimnisses nach § 35 SGB I unterfallen. Schließlich kann sich der Beklagte die erforderlichen Kenntnisse ohne die Mitwirkung des Klägers auch nicht
leichter selbst beschaffen (§ 65 Abs. 1 Nr. 3 SGB I). Dem steht die Schweigepflicht der den Kläger behandelnden Ärzte entgegen. Der Beklagte kann auch nicht darauf verwiesen
werden, den Kläger gemäß § 62 SGB I untersuchen zu lassen, denn eine solche Begutachtung führt nicht zu einem geringeren Aufwand als die Einholung von Befundberichten.
Auch den Anforderungen des § 66 Abs. 3 SGB I ist Genüge getan. Vor jedem einzelnen Versagungsbescheid hat der Beklagte den Kläger schriftlich auf die drohende Folge einer
(weiteren) Verletzung der Mitwirkungspflicht hingewiesen und dabei stets eine angemessene Frist für die Vorlage der erbetenen
Unterlagen gesetzt. Gleichwohl ist der Kläger seinen Obliegenheiten nicht nachgekommen. Hierdurch ist die Aufklärung des Sachverhalts
nicht nur erheblich erschwert worden (wie es § 66 Abs. 1 S. 1 SGB I verlangt), sondern vollständig verhindert. Denn der Beklagte kann ohne die Mitwirkung des Klägers keine medizinischen Ermittlungen
über diesen anstellen. Dadurch sind die Voraussetzungen der Leistung (hier: Hilfe zum Lebensunterhalt nach dem Dritten Kapitel
des SGB XII) nach wie vor nicht nachgewiesen. Daher war der Beklagte berechtigt, ohne weitere Ermittlungen die Leistung bis zur Nachholung
der Mitwirkung ganz oder teilweise zu versagen oder zu entziehen. Dies setzt eine ermessensfehlerfreie Entscheidung über die
Vorgehensweise voraus. Der Beklagte hat sich hier für eine nur teilweise Versagung der Sozialhilfe entschieden und diese Sanktion
noch zeitlich gestaffelt mit zunehmender Höhe umgesetzt. Dadurch hat er die Interessen des Klägers berücksichtigt und den
Verhältnismäßigkeitsgrundsatz gewahrt. Hinzu kommt, dass der Kläger weder im Verwaltungs- noch im Gerichtsverfahren geäußert
hat, warum er nicht zur Mitwirkung bereit ist. Er hat sich stets auf die Ansicht zurückgezogen, er sei hierzu nicht verpflichtet.
Dass dieser Rechtsirrtum (etwa krankheitsbedingt) unvermeidbar war, kann der Senat nicht erkennen. Spätestens nach dem rechtskräftigen
Abschluss des Eilverfahrens musste dem Kläger klar sein, dass er die Mitwirkungshandlung zu Unrecht verweigert.
Die danach am Maßstab des einfachen Gesetzesrechts rechtmäßigen Bescheide des Beklagten verstoßen entgegen der Ansicht des
Klägers auch nicht gegen höherrangiges Recht. Der Senat ist nicht davon überzeugt, dass die Regelungen der §§ 60 ff. SGB I im Allgemeinen verfassungswidrig sind (dazu schon BSG, Urteil vom 22. Februar 1995 4 RA 44/94, BSGE 76, 16 ff. = SozR 3-1200 § 66 Nr. 3) oder ihre Anwendung im konkreten Fall das Grundrecht des Klägers auf Gewährleistung eines menschenwürdigen
Existenzminimums aus Art. 1 Abs. 1 Grundgesetz ( GG) i. V. m. Art. 20 Abs. 1 GG verletzt. Es handelt sich insgesamt um einen ausgewogenen Regelungskomplex mit mehreren Stellschrauben, die eine verhältnismäßige
und damit verfassungskonforme Rechtsanwendung im Einzelfall ermöglichen. So handelt es sich bei den in §§ 60 bis 64 SGB I angeordneten Mitwirkungspflichten, die durch die Regelung des § 65 SGB I bereits in mehrfacher Hinsicht beschränkt werden, rechtlich lediglich um Obliegenheiten, die von dem zuständigen Sozialleistungsträger
nicht zwangsweise durchgesetzt werden können. Um ihnen gleichwohl zu einer gewissen Durchsetzungskraft zu verhelfen, bedarf
es daher zwingend einer Regelung wie § 66 SGB I, die nachteilige Folgen für den Fall fehlender Mitwirkung ermöglicht. Auch die Möglichkeit, Sozialleistungen zu versagen
oder zu entziehen, hat der Gesetzgeber indes eingeschränkt, indem er eine erhebliche Erschwerung der Sachverhaltsaufklärung
und einen fehlenden anderweitigen Nachweis der materiellen Tatbestandsvoraussetzungen fordert. Obgleich nach § 65 Abs. 1 SGB I ohnehin keine unangemessenen oder unzumutbaren Mitwirkungshandlungen verlangt werden dürfen, hat der Gesetzgeber eine Sanktionierung
gemäß § 66 Abs. 1 SGB I zusätzlich von einer Ermessensausübung des Leistungsträgers abhängig gemacht, so dass die besonderen Umstände des Einzelfalls
zwingend zu berücksichtigen sind. Schließlich ermöglicht die Regelung des § 67 SGB I die nachträgliche Leistungserbringung für den Fall der Nachholung der Mitwirkung. Daher hat es der Kläger (auch für die Vergangenheit)
letztlich selbst in der Hand, wieder in den Genuss ungekürzter Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts zu kommen. Insofern
besteht eine Parallele zu den Fällen des § 1a Asylbewerberleistungsgesetz, dessen Verfassungskonformität das BSG jüngst bestätigt hat (Pressemitteilung des BSG vom 12. Mai 2017 zum Aktenzeichen B 7 AY 1/16 R).
In der höchstrichterlichen Rechtsprechung ist bereits geklärt, dass der Gesetzgeber auch im Bereich existenzsichernder Leistungen
nicht daran gehindert ist, Zahlungen an Bedürftige von bestimmten (Verfahrens-)Handlungen abhängig zu machen. Das Grundgesetz verlangt keine bedingungslose Versorgung aller Menschen. So knüpfen § 37 SGB II und § 44 SGB XII die Gewährung von Leistungen zur Grundsicherung der jeweiligen Leistungsberechtigten an eine Antragstellung. Auch ist in
beiden Rechtsgebieten allgemein anerkannt, dass die Prüfung der Anspruchsberechtigung mitunter die Erfüllung von Mitwirkungspflichten
voraussetzt (siehe nur BSG, Urteil vom 28. März 2013 - B 4 AS 42/12 R, BSGE 113, 177 ff. = SozR 4-1200 § 60 Nr. 3, wonach ein selbstständig tätiger Antragsteller bei der Beantragung von Leistungen nach dem SGB II im Rahmen seiner Mitwirkungsobliegenheiten gehalten ist, Angaben zum voraussichtlichen Einkommen aus selbstständiger Tätigkeit,
Gewerbebetrieb oder Landwirtschaft im Bewilligungszeitraum zu machen; die Verfassungsbeschwerde gegen dieses Urteil wurde
nicht zur Entscheidung angenommen, siehe BVerfG, Beschluss vom 25. August 2015 - 1 BvR 2709/13).
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Die in § 160 Abs. 2 SGG abschließend aufgeführten Gründe für die Zulassung der Revision sind nicht gegeben.
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