Zulässigkeit der Nachholung einer fehlenden Anhörung im Klageverfahren
Gründe:
I
Die Beteiligten streiten darüber, ob die Beklagte berechtigt war, die Bewilligung von Alg II für die Zeit vom 1.3.2005 bis
zum 31.7.2005 aufzuheben und die Erstattung von 2525 Euro zu verlangen.
Der Kläger beantragte am 14.2.2005 Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende und gab dabei an, er beziehe bis zum 28.2.2005
Alg. Am 2.3.2005 teilte der Kläger mit, dass er seit dem 25.2.2005 Krankengeld beziehe. Gleichwohl gewährte die Beklagte dem
Kläger mit Bescheid vom 18.4.2005 für den Zeitraum vom 1.3. bis zum 31.7.2005 Alg II in Höhe von 505 Euro monatlich.
Die Beklagte hob den Bewilligungsbescheid mit Bescheid vom 14.7.2005 unter Hinweis auf § 48 SGB X wegen des Bezugs von Krankengeld auf. Hiergegen legte der Kläger Widerspruch mit der Begründung ein, er habe den Bezug von
Krankengeld mitgeteilt. Den Widerspruch wies die Beklagte mit der Begründung zurück, der Bewilligungsbescheid sei gemäß §
45 SGB X zurückzunehmen. Der Kläger könne sich nicht auf Vertrauensschutz berufen. Er habe die Rechtswidrigkeit des Bescheids infolge
grober Fahrlässigkeit nicht erkannt, denn er habe der dem Bescheid beigefügten Berechnung entnehmen können, dass keinerlei
Einkommen angerechnet worden sei (Widerspruchsbescheid vom 31.8.2005).
Das SG hat die angefochtenen Bescheide aufgehoben (Urteil vom 14.8.2007). Das LSG hat auf die Berufung der Beklagten das Urteil
des SG aufgehoben und die Klage abgewiesen (Urteil vom 17.3.2009). Es hat zur Begründung ausgeführt, zwar sei der Bescheid vom 14.7.2005
verfahrensfehlerhaft zustande gekommen, denn der Kläger sei vor dem Erlass des Bescheides nicht angehört worden. Dieser Verfahrensfehler
sei im Widerspruchsverfahren nicht geheilt worden, denn der Kläger habe sich zu dem Vorwurf des grob fahrlässigen Verhaltens
nicht äußern können. Der Verfahrensmangel sei jedoch im Klageverfahren durch die Stellungnahme des Klägers zu dem Vorwurf
der groben Fahrlässigkeit geheilt. Zwar sei eine Heilung im Klageverfahren nach der Rechtsprechung des 4. Senats des BSG (SozR
3-1300 § 24 Nr 22) ausgeschlossen, wenn die Behörde die Anhörungspflicht vorsätzlich, rechtsmissbräuchlich oder durch Organisationsverschulden
verletzt. Diese einschränkende Auslegung werde zutreffend vom 2. Senat des BSG nicht geteilt (SozR 4-1300 § 41 Nr 1). Im Übrigen
seien hier keine Anhaltspunkte dafür ersichtlich, dass die Beklagte ihre Anhörungspflicht vorsätzlich verletzt haben sollte.
Allerdings sei bis zum Abschluss der letzten Tatsacheninstanz kein förmliches Verwaltungsverfahren durchgeführt worden. Zwar
sei der 7a. Senat der Auffassung, es sei für die Heilung nicht ausreichend, dass der Betroffene - wie im Widerspruchsverfahren
- auf Grund des Bescheides die Möglichkeit habe, Stellung zu nehmen (BSG Urteil vom 6.4.2006 - B 7a AL 64/05 R). Es müsse
danach gewährleistet sein, dass die beklagte Beteiligte zumindest formlos darüber befinde, ob sie bei ihrer Entscheidung verbleibe.
Hingegen sei der Senat der Auffassung, dass eine fehlende Anhörung wirksam nachgeholt und geheilt sei, wenn in der mündlichen
Verhandlung der letzten Tatsacheninstanz des sozialgerichtlichen Verfahrens den Beteiligten ausdrücklich Gelegenheit gegeben
werde, sich zu äußern und der Hilfebedürftige sich im Übrigen zu den relevanten Umständen im Klageverfahren geäußert habe.
Ein nochmaliger Hinweis auf die bereits bekannten Haupttatsachen durch den Leistungsträger in einem formellen Anhörungsverfahren
unter Einräumung einer Äußerungsfrist sei eine inhaltsleere Formalität.
Mit seiner vom LSG zugelassenen Revision rügt der Kläger die Verletzung der §§ 24, 41 SGB X. Er ist der Auffassung, dass die Nachholung der Anhörung im gerichtlichen Verfahren ein förmliches Verwaltungsverfahren voraussetze.
Dies könne auch nicht als bloße Förmelei abgetan werden. Zudem könne er sich auf Vertrauensschutz berufen. Hilfsweise werde
geltend gemacht, dass die Beklagte § 40 Abs 2 SGB II gänzlich unberücksichtigt gelassen habe.
Der Kläger beantragt,
das Urteil des Schleswig-Holsteinischen Landessozialgerichts vom 17. März 2009 aufzuheben und die Berufung der Beklagten gegen
das Urteil des Sozialgerichts Schleswig vom 14. August 2007 zurückzuweisen.
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Sie ist der Auffassung, dem Anhörungsgebot sei durch die Akteneinsicht im Widerspruchsverfahren genügt worden. Jedenfalls
sei von einer Heilung im Gerichtsverfahren auszugehen.
II
Die Revision des Klägers ist begründet (§
170 Abs
2 Satz 1
SGG). Das LSG hat zu Unrecht das Urteil des SG aufgehoben und die Klage abgewiesen.
Gegenstand des Revisionsverfahrens ist allein der Bescheid vom 14.7.2005 in der maßgebenden Fassung des Widerspruchsbescheides
vom 31.8.2005.
Der Rücknahmebescheid ist wegen Verstoßes gegen die Anhörungspflicht nach § 24 SGB X rechtswidrig. Nach § 24 Abs 1 SGB X ist, bevor ein Verwaltungsakt erlassen wird, der in Rechte eines Beteiligten eingreift, diesem Gelegenheit zu geben, sich
zu den für die Entscheidung erheblichen Tatsachen zu äußern. Nach Abs 2 der Vorschrift kann davon unter bestimmten - hier
jedoch nicht einschlägigen - Ausnahmen abgesehen werden.
Die Beklagte hat dem Kläger im Ausgangsbescheid nicht alle entscheidungserheblichen Haupttatsachen mitgeteilt, auf die sich
die Rücknahme auf der Grundlage ihrer Rechtsansicht stützen wollte. Entscheidungserheblich iS von § 24 Abs 1 SGB X sind alle Tatsachen, die zum Ergebnis der Verwaltungsentscheidung beigetragen haben, dh, auf die sich die Verwaltung auch
gestützt hat (BSGE 69, 247 = SozR 3-1300 § 24 Nr 4). Die Beklagte hatte die Aufhebung der Bewilligungsentscheidung im Ausgangsbescheid zunächst auf § 48 SGB X gestützt. Erstmals im - insoweit maßgebenden - Widerspruchsbescheid vom 31.8.2005 ging die Beklagte davon aus, dass für die
Rücknahme der Leistungsbewilligung § 45 SGB X einschlägig sei. Sie sah auch die Voraussetzungen einer Rücknahme für die Vergangenheit als erfüllt an, weil der Kläger die
Rechtswidrigkeit des Verwaltungsaktes infolge grober Fahrlässigkeit nicht gekannt habe (§ 45 Abs 4 Satz 1 SGB X iVm § 45 Abs 2 Satz 3 Nr 3 SGB X).
Die Beklagte hat dem Kläger im Verwaltungsverfahren zu der erstmals im Widerspruchsbescheid angeführten inneren Tatsache,
er habe die Rechtswidrigkeit des Bewilligungsbescheides vom 18.4.2005 zumindest infolge grober Fahrlässigkeit nicht erkannt,
keine Gelegenheit zu einer vorherigen Stellungnahme eingeräumt. Hierdurch hat sie § 24 SGB X verletzt.
Die fehlende Anhörung ist auch nicht nach § 41 Abs 2 iVm Abs 1 Nr 3 SGB X nachgeholt worden. Eine Heilung im Revisionsverfahren ist nicht mehr möglich. Der Senat folgt der bisherigen Rechtsprechung
des BSG, wonach eine Nachholung der Anhörung im Gerichtsverfahren jedenfalls ein entsprechendes "mehr oder minder" förmliches
Verwaltungsverfahren - ggf unter Aussetzung des Gerichtsverfahrens - voraussetzt (BSG SozR 3-1300 § 24 Nr 22 S 74; BSG Urteil
vom 6.4.2006 - B 7a AL 64/05 R; vgl auch BSG SozR 4-5868 § 3 Nr 3 RdNr 17). Der Auffassung, die Nachholung der Anhörung gemäß
§ 41 Abs 1 Nr 3 SGB X müsse sich während des gerichtlichen Verfahrens in einem besonderen Verwaltungsverfahren vollziehen, folgt auch die herrschende
Meinung in der Literatur (Schütze in von Wulffen, SGB X, 7. Aufl 2010, § 41 RdNr 16; Waschull in LPK-SGB X, 2. Aufl 2007, § 41 RdNr 15; Gregarek in Jahn, SGB, Stand 2010, § 41 SGB X RdNr 22).
Die Nachholung der fehlenden Anhörung setzt außerhalb des Verwaltungsverfahrens voraus, dass die Handlungen, die an sich nach
§ 24 Abs 1 SGB X bereits vor Erlass des belastenden Verwaltungsaktes hätten vorgenommen werden müssen, von der Verwaltung bis zum Abschluss
der gerichtlichen Tatsacheninstanz vollzogen werden. Ein während des Gerichtsverfahrens zu diesem Zweck durchzuführendes förmliches
Verwaltungsverfahren liegt vor, wenn die beklagte Behörde dem Kläger in angemessener Weise Gelegenheit zur Äußerung zu den
entscheidungserheblichen Tatsachen gegeben hat und sie danach zu erkennen gibt, ob sie nach erneuter Prüfung dieser Tatsachen
am bisher erlassenen Verwaltungsakt festhält. Dies setzt regelmäßig voraus, dass - ggf nach freigestellter Aussetzung des
Verfahrens gemäß §
114 Abs
2 Satz 2
SGG - die Behörde den Kläger in einem gesonderten "Anhörungsschreiben" alle Haupttatsachen mitteilt, auf die sie die belastende
Entscheidung stützen will und sie ihm eine angemessene Frist zur Äußerung setzt. Ferner ist erforderlich, dass die Behörde
das Vorbringen des Betroffenen zur Kenntnis nimmt und sich abschließend zum Ergebnis der Überprüfung äußert.
Der Senat stimmt der Einschätzung des Berufungsgerichts, es handele sich insoweit nur um eine inhaltsleere Formalität, nicht
zu. Denn die in § 24 SGB X normierte Anhörungspflicht verlöre jeglichen Gehalt, wenn der Verstoß im gerichtlichen Verfahren ohne jegliches formalisiertes
Verfahren geheilt werden könnte. Vielmehr können nur die genannten verfahrensrechtlichen Anforderungen gewährleisten, dass
die mit dem Anhörungsverfahren verfolgten Zwecke jedenfalls teilweise zur Geltung kommen. Mit der Regelung über die Anhörung
beabsichtigt der Gesetzgeber, allgemein das Vertrauensverhältnis zwischen dem Bürger und der Sozialverwaltung zu stärken und
die Stellung des Bürgers insbesondere durch den Schutz vor Überraschungsentscheidungen zu stärken (BT-Drucks 7/868 S 28 und
45). Insbesondere soll der Betroffene Gelegenheit erhalten, durch sein Vorbringen zum entscheidungserheblichen Sachverhalt
die bevorstehende Verwaltungsentscheidung zu beeinflussen (BSGE 75, 159 = SozR 3-1300 § 24 Nr 10; BSGE 69, 247, 252 = SozR 3-1300 § 24 Nr 4; BSG SozR 3-1300 § 24 Nr 21).
Die genannten Zwecke können zwar ohnehin in vollem Umfang nur erfüllt werden, wenn die Anhörung vor Erlass des belastenden
Verwaltungsaktes durchgeführt wird. Darüber hinaus kann eine Heilung des Verfahrensmangels nach den mit der Anhörung verfolgten
Funktionen noch während des Widerspruchsverfahrens erfolgen, wenn dem Betroffenen während des Vorverfahrens - zB durch Einlegung
des Widerspruchs - hinreichende Gelegenheit gegeben worden ist, sich zu den für die Entscheidung erheblichen Tatsachen zu
äußern (BSGE 89, 111, 114 = SozR 3-1300 § 1 Nr 1; BSG SozR 4-1300 § 24 Nr 1). Befindet sich die Verwaltungsentscheidung hingegen nicht mehr im
Verantwortungsbereich der Beklagten, so kann eine jedenfalls teilweise Verwirklichung der mit den Anhörungshandlungen verfolgten
Zwecke nur noch erreicht werden, wenn durch die genannten verfahrensrechtlichen Vorkehrungen sichergestellt wird, dass die
Nachholung der Verfahrenshandlung sich in einer dem Anhörungsverfahren möglichst vergleichbaren Situation vollzieht. Dies
ist hier nach den für den Senat bindenden Feststellungen des LSG nicht gegeben.
Die Kostenentscheidung folgt aus §
193 SGG.