Geltendmachung eines Verfahrensmangels im sozialgerichtlichen Verfahren; Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör
Gründe:
I
Umstritten ist in der Hauptsache die Feststellung von Unfallfolgen. Die beklagte Unfallkasse lehnte es gegenüber dem Kläger
ab, dessen über die 26. Woche nach dem Arbeitsunfall vom 12.11.2004 hinaus bestehenden psychischen Beschwerden als Unfallfolge
festzustellen. Das angerufene Sozialgericht (SG) hat Gutachten bei Dr. O. und Dr. K. eingeholt und die Klage abgewiesen (Urteil vom 9.7.2008). Das Landessozialgericht (LSG)
hat die Berufung des Klägers zurückgewiesen und die Revision nicht zugelassen (Beschluss vom 10.5.2010). Zur Begründung hat
es ausgeführt: Das beim Kläger vorliegende depressive Erkrankungsbild und der hierauf gründende psychosomatische bzw somatoforme
Beschwerdekomplex seien über den 11.5.2005 hinaus nicht mit überwiegender Wahrscheinlichkeit durch den Arbeitsunfall verursacht
worden. Es sei vielmehr "davon auszugehen, dass es diesbezüglich zu einer sog. Verschiebung der Wesensgrundlage gekommen"
sei. Zur Erläuterung hat das LSG auf Schönberger/Mehrtens/Valentin, Arbeitsunfall und Berufskrankheit, 8. Aufl 2010, S 112,
153 Bezug genommen; zur weiteren Begründung hat das LSG sich auf die eingeholten Gutachten gestützt (S 10 des Beschlusses).
Mit seiner Nichtzulassungsbeschwerde rügt der Kläger insbesondere eine Verletzung seines Anspruchs auf rechtliches Gehör und
führt zur Begründung ua aus, mit der Feststellung einer Verschiebung der Wesensgrundlage habe das LSG das Fehlen der Kausalität
begründet, aber erst durch den Beschluss des LSG habe er erfahren, dass dieses sich unter Zuhilfenahme des genannten medizinischen
Fachbuchs zur Frage der Verschiebung der Wesensgrundlage sachkundig gemacht habe.
II
Die Beschwerde ist zulässig und begründet. Der angefochtene Beschluss des LSG vom 10.5.2010 ist aufzuheben und die Sache an
das LSG gemäß §
160a Abs
5 SGG zurückzuverweisen. Denn der Beschluss beruht auf einem Verfahrensmangel nach §
160 Abs
2 Nr
3 Sozialgerichtsgesetz (
SGG).
Eine Nichtzulassungsbeschwerde ist ua begründet, wenn ein Verfahrensfehler geltend gemacht wird und vorliegt, auf dem die
angefochtene Entscheidung beruhen kann (§§ 160a, 160 Abs 2 Nr 3
SGG). Diese Voraussetzungen sind vorliegend erfüllt, weil der angefochtene Beschluss des LSG unter Verletzung des Anspruchs des
Klägers auf rechtliches Gehör (Art
103 Abs
1 Grundgesetz, §
62 SGG) ergangen ist.
Der Anspruch auf rechtliches Gehör soll ua verhindern, dass die Beteiligten durch eine Entscheidung überrascht werden, die
auf Rechtsauffassungen, Tatsachen oder Beweisergebnissen beruht, zu denen sie sich nicht äußern konnten (vgl BSG SozR 3-1500
§ 153 Nr 1 mwN; BVerfGE 84, 188, 190). Gegen dieses Verfahrenserfordernis hat das LSG vorliegend verstoßen.
Der entscheidende Gesichtspunkt für die Verneinung der Kausalität zwischen dem Arbeitsunfall des Klägers und dem bei ihm vorliegenden
depressiven Erkrankungsbild sowie dem hierauf gründenden psychosomatischen bzw somatoformen Beschwerdekomplex ist die Annahme
des LSG, dass es diesbezüglich zu einer sog Verschiebung der Wesensgrundlage gekommen sei, (vgl S 10 des Beschlusses). Denn
auf diesen Gesichtspunkt wird nach dem die Kausalität verneinenden Satz sofort im nächsten Satz seitens des LSG abgestellt.
Auf diesen Gesichtspunkt hat das LSG die Beteiligten jedoch nicht hingewiesen, ebenso wenig auf die zur Begründung seiner
Überlegungen angeführte Fundstelle in der Fachliteratur.
Dass eine Verschiebung der Wesensgrundlage von Dr. M. in seiner beratungsärztlichen Stellungnahme im Verwaltungsverfahren
schon einmal angesprochen worden war, machte einen Hinweis seitens des LSG auf die zu seiner Entscheidungsfindung herangezogene
Fachliteratur nicht entbehrlich, zumal das LSG sich zur Begründung seiner Überlegung nicht auf die Stellungnahme von Dr. M.
bezog. Aus der Stellung des Gesichtspunktes "Verschiebung der Wesensgrundlage" im Beschluss des LSG folgt auch, dass dies
kein zusätzlicher, ggf nicht tragender Entscheidungsgrund war, sondern der entscheidende hinsichtlich der geltend gemachten
psychischen Beschwerden und deren weiteren Folgen. Erst in den nachfolgenden Absätzen des Beschlusses wird vom LSG ergänzend
auf die eingeholten Gutachten eingegangen.
Der Kläger hatte auch keine Möglichkeit, sich insofern rechtliches Gehör zu verschaffen und, dass eine mögliche medizinische
Beweiserhebung zum Gesichtspunkt "Verschiebung der Wesensgrundlage" zu einem für den Kläger positiven Ergebnis hätte führen
können, kann nicht ausgeschlossen werden.
Der Senat macht von der durch §
160a Abs
5 SGG eröffneten Möglichkeit Gebrauch, den angefochtenen Beschluss wegen des festgestellten Verfahrensfehlers aufzuheben und die
Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen, weil für eine abschließende Entscheidung in
der Sache ggf weitere Tatsachenfeststellungen oder eine andere Würdigung der genannten Beweismittel notwendig sind. Das LSG
wird im wiedereröffneten Berufungsverfahren auch über die Kosten des Beschwerdeverfahrens zu entscheiden haben.