Anspruch auf Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes im sozialgerichtlichen Verfahren
Anforderungen an die Glaubhaftmachung eines Anordnungsanspruchs im Hinblick auf den Lauf der Fünfjahresfrist nach § 7 Abs. 1 S. 4 SGB II
Gründe
Die nach §
172 Abs.
1 Satz 1
SGG zulässige Beschwerde ist unbegründet. Das Sozialgericht hat den Antragsgegner zu Recht zur vorläufigen Gewährung der Leistungen
zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II verpflichtet.
Nach §
86b Abs.
2 Satz 2
SGG kann das Gericht der Hauptsache auf Antrag eine einstweilige Anordnung zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug
auf ein streitiges Rechtsverhältnis treffen, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile notwendig erscheint.
Der Erlass einer einstweiligen Anordnung setzt das Bestehen eines Anordnungsanspruchs voraus, d.h. des materiellen Anspruchs,
für den vorläufigen Rechtsschutz begehrt wird, sowie das Vorliegen eines Anordnungsgrundes, d.h. die Unzumutbarkeit, bei Abwägung
aller betroffenen Interessen die Entscheidung in der Hauptsache abzuwarten. Anordnungsanspruch und Anordnungsgrund sind glaubhaft
zu machen - §
86b Abs.
2 Satz 4
SGG in Verbindung mit §
920 Abs.
2 ZPO. Können ohne die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes schwere und unzumutbare, anders nicht abwendbare Beeinträchtigungen
entstehen, die durch das Hauptsacheverfahren nicht mehr zu beseitigen wären, sind die Erfolgsaussichten der Hauptsache nicht
nur summarisch, sondern abschließend zu prüfen. Scheidet eine vollständige Aufklärung der Sach- und Rechtslage im Eilverfahren
aus, ist auf der Grundlage einer an der Gewährleistung eines effektiven Rechtsschutzes orientierten Folgenabwägung zu entscheiden.
Die grundrechtlichen Belange der Antragsteller sind dabei umfassend in die Abwägung einzustellen (BVerfG, 12.05.2005 - 1 BvR 569/05 -, Rn. 26, juris).
1. Nach der im Verfahren auf einstweiligen Rechtsschutz maßgeblichen Prüfungsdichte ist sowohl ein Anordnungsanspruch als auch
ein Anordnungsgrund für die (allein) geltend gemachten Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts (Regelbedarf) glaubhaft
gemacht worden.
a. Die Antragstellerin ist unstreitig grundsätzlich leistungsberechtigt nach § 7 Abs. 1 S. 1 SGB II als Person, die 1. das 15. Lebensjahr vollendet und die Altersgrenze nach § 7a noch nicht erreicht haben, 2. erwerbsfähig
sind, 3. hilfebedürftig sind und 4. ihren gewöhnlichen Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland hat (erwerbsfähige Leistungsberechtigte).
b. Darüber hinaus hat die Antragstellerin nach der im Verfahrens auf einstweiligen Rechtsschutz maßgeblichen Prüfungsdichte
vorliegend glaubhaft gemacht, dass sie nicht nach § 7 Abs. 1 S. 2 SGB II von dem Leistungsanspruch ausgenommen war.
Nach § 7 Abs. 1 S. 2 SGB II sind ausgenommen 1. Ausländerinnen und Ausländer, die weder in der Bundesrepublik Deutschland Arbeitnehmerinnen, Arbeitnehmer
oder Selbständige noch aufgrund des § 2 Absatz 3 des Freizügigkeitsgesetzes/EU freizügigkeitsberechtigt sind, und ihre
Familienangehörigen für die ersten drei Monate ihres Aufenthalts, 2. Ausländerinnen und Ausländer, a) die kein Aufenthaltsrecht
haben oder b) deren Aufenthaltsrecht sich allein aus dem Zweck der Arbeitsuche ergibt, und ihre Familienangehörigen, 3. Leistungsberechtigte
nach §
1 des
Asylbewerberleistungsgesetzes. Abweichend von der Regelung in §
7 Abs.
1 Satz 2 Nr. 2 erhalten Ausländerinnen und Ausländer und ihre Familienangehörigen Leistungen nach dem SGB II, wenn sie seit mindestens fünf Jahren ihren gewöhnlichen Aufenthalt im Bundesgebiet haben; dies gilt nicht, wenn der Verlust
des Rechts nach § 2 Absatz 1 des Freizügigkeitsgesetzes/EU festgestellt wurde (§ 7 Abs. 1 S. 4 SGB II). Die Frist nach § 7 Abs. 1 S. 4 SGB II beginnt mit der Anmeldung bei der zuständigen Meldebehörde. Zeiten des nicht rechtmäßigen Aufenthalts, in denen eine Ausreisepflicht
besteht, werden auf Zeiten des gewöhnlichen Aufenthalts nicht angerechnet. Aufenthaltsrechtliche Bestimmungen bleiben unberührt
(§ 7 Abs. 1 S. 5 bis 7 SGB II).
In der Literatur und Rechtsprechung ist umstritten, ob § 7 Abs. 1 S. 4, 5 SGB II fortwährende (und überdies melderechtskonforme) Anmeldungen während der gesamten Dauer der Fünfjahresfrist voraussetzt (so
LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 31.5.2021, L 5 AS 457/21 B ER; LSG Schleswig-Holstein, Beschluss vom 4.5.2018, L 6 AS 59/18 B ER; LSG Hessen, Beschluss vom 16.10.2019, L 7 AS 343/19 B ER; LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 4.5.2020, L 31 AS 602/20 B ER) oder nicht (so LSG Hamburg, Beschluss vom 20.6.2019, L 4 AS 34/19 B ER; LSG Schleswig-Holstein, Beschluss vom 9.12.2019, L 6 AS 152/19 B ER; LSG Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 3.7.2020, L 8 SO 73/20 B ER; LSG NRW, Beschluss vom 23.4.2018, L 7 AS 2162/17 B ER; LSG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 11.5.2020, L 18 AS 1812/19; Geiger, in: Münder/Geiger, SGB II, 2021, § 7 Rn. 42; vgl. auch Leopold in: juris PK - SGB II, § 7 Rn. 165, Stand: 05.01.2021).
Nach dem Wortlaut des § 7 Abs. 1 S. 5 SGB II beginnt die Frist mit der Anmeldung bei der zuständigen Meldebehörde. Der Begriff des gewöhnlichen Aufenthalts richtet sich
nach §
30 Abs.
3 Satz 2
SGB I. Den gewöhnlichen Aufenthalt hat jemand dort, wo er sich unter Umständen aufhält, die erkennen lassen, dass er an diesem
Ort oder in diesem Gebiet nicht nur vorübergehend verweilt. Eine materielle Freizügigkeitsberechtigung i.S.d. § 4a FreizügG/EU ist nicht erforderlich (LSG NRW, Beschluss vom 23.4.2018, L 7 AS 2162/17 B ER; Becker in: Eicher/Luik, SGB II, 2017, § 7 Rn. 22 und 53). Dementsprechend ist für einen Anordnungsanspruch im Verfahren auf einstweiligen Rechtsschutz dem Wortlaut
nach allein eine Anmeldung und der (sich daran anschließende) gewöhnliche Aufenthalt glaubhaft zu machen. Sofern in den o.g.
Entscheidung auch in einem Verfahren auf einstweiligen Rechtsschutz sinngemäß die Glaubhaftmachung der melderechtskonformen
(durchgehenden) Anmeldungen während der gesamten Dauer der Fünfjahresfrist als Maßstab herangezogen wird (vgl. LSG Berlin-Brandenburg,
Beschluss vom 31.5.2021, L 5 AS 457/21 B ER), überzeugt dies den Senat unter Berücksichtigung des Wortlauts der Regelungen der Sätze 4 und 5 des § 7 Abs. 1 SGB II nicht, wenn darin allein auf die "Anmeldung" und "den gewöhnlichen Aufenthalt" Bezug genommen wird.
Dass für den Lauf der Fünfjahresfrist eine durchgehende Meldung erforderlich wäre, hat somit keinen Niederschlag im Gesetzestext
gefunden und ist auch nicht nach Sinn und Zweck dieses Gesetzes in Verbindung mit der bundeseinheitlich geltenden Meldepflicht
anzunehmen (vgl. LSG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 11.5.2020, L 18 AS 1812/19; Becker in: Eicher/Luik, SGB II, 2017, § 7 Rn. 22 insbesondere mit Blick auf obdachlose Menschen und m. w. N.). Insbesondere ist nicht erkennbar, dass die gesetzlichen
Vorgaben des § 7 Abs. 1 SGB II in einem unmittelbaren Zusammenhang mit einem etwaigen, nach § 54 Bundesmeldegesetz (BMG) grundsätzlich bußgeldbewehrten Verstoß gegen eine Meldepflicht nach § 17 Abs. 1 BMG stehen würden oder der darin normierte "gewöhnliche Aufenthalt" an die Einhaltung der Vorgaben im BMG geknüpft wäre. Der Gesetzesbegründung kann ein entsprechendes Verständnis im Übrigen ebenfalls nicht entnommen werden (BT-Drucksache
18/10211, S 13), wie das Sozialgericht bereits zutreffend dargelegt hat.
Dementsprechend ist § 7 Abs. 1 S. 5 SGB II zur Überzeugung des Senats so zu verstehen, dass die Frist nach § 7 Abs. 1 S. 4 SGB II mit der "Anmeldung" bei der zuständigen Meldebehörde beginnt und diese 5-Jahres-Frist erst bei wesentlichen Unterbrechungen
neu zu laufen beginnt. Erforderlich ist damit eine Einzelfallprüfung, ob ein gewöhnlicher Aufenthalt im Inland gegeben ist,
wozu neben den Meldebescheinigungen gerade im Verfahren auf einstweiligen Rechtsschutz auch andere Umstände und Unterlagen,
wie z.B. Mietverträge, Abrechnungen mit Energieversorgern etc. herangezogen werden können (vgl. LSG Niedersachsen-Bremen,
Beschluss vom 03.7.2020, L 8 SO 73/20 B ER; Leopold in juris-PK-SGB II, § 7 Rn. 162, Stand: 05.01.2021).
Nach diesem Maßstab hat die Antragstellerin einen (durchgehenden) gewöhnlichen Aufenthalt für die Dauer von 5 Jahren nach
erfolgter Anmeldung am 15.1.2016 glaubhaft gemacht. Die Antragstellerin hat erstmals am 15.1.2016 ihren Wohnsitz in Köln unter
der Adresse H-Straße 39 gemeldet. Die eingereichte Meldebescheinigung weist ab dem 15.1.2016 allein für die Zeit vom 2.8.2018
bis zum 31.12.2018 eine melderechtliche Lücke von 5 Monaten aus. Hierzu hat sowohl die Antragstellerin als auch ihre Mutter
durch die Vorlage der eidesstattlichen Versicherung und den weiteren Umständen glaubhaft gemacht, dass sie sich in diesem
Zeitraum in Köln unter der Adresse H-Straße 39 aufgehalten hat. Ein Aufenthalt unter dieser Adresse der Mutter der Antragstellerin
erscheint auch ohne Weiteres der Antragstellerin zugänglich gewesen sein, zumal die Antragstellerin dort bereits in der Zeit
vom 15.1.2016 bis zum 01.05.2017 gewohnt hatte und ein Unterkommen aus familiären Verbundenheit nachvollziehbar erscheint.
Schlüssig und glaubhaft sind zudem die Angaben der Antragstellerin zu den Hintergründen der sodann nicht erfolgten Ummeldung,
da der Vermieter der Wohnung der Mutter hiermit nicht einverstanden gewesen sei. Für einen gewöhnlichen Aufenthalt der Antragstellerin
in Köln spricht zudem, dass sie noch am 20.9.2018 bei der Stadt Köln vorgesprochen und erklärt hat, dass sie sich "ohne festen
Wohnsitz" in Köln aufhalte. Darüber hinaus hat die Antragstellerin am 24.9.2018 beim W e.V. ein Postfach genutzt und bis zum
19.9.2018 ein Arbeitslosengeld bezogen. Im August in September 2018 sind auf den vorliegenden Kontoauszügen Bargeldauszahlungen
und Lastschriften in Köln dokumentiert. In der Gesamtschau und nach summarischer Prüfung sprechen diese Umstände insgesamt
für einen gewöhnlichen Aufenthalt der Antragstellerin ohne wesentliche Unterbrechungen in der Bundesrepublik Deutschland.
Anhaltspunkte für einen Verlust des Freizügigkeitsrechts nach § 2 Abs. 1 FreizügG/EU oder Aufenthaltszeiten mit einer Ausreiseverpflichtung liegen nicht vor.
Angesichts der nach den Unterlagen glaubhaft gemachten Anordnungsanspruchs waren an das Bestehen eines Anordnungsgrundes keine
allzu hohen Anforderungen mehr zu stellen, zumal vorliegend existenzsichernde Leistungen im Streit stehen.
3. Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung des §
193 SGG.
4. Nach §
73a Abs.
1 Satz 1
Sozialgerichtsgesetz (
SGG) i.V.m. §
114 Satz 1
Zivilprozessordnung (
ZPO) erhält ein Beteiligter auf Antrag Prozesskostenhilfe (PKH), wenn er auf Grund seiner persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse
die Kosten der Prozessführung nicht, nur zum Teil oder nur in Raten aufbringen kann. Die Antragstellerin hat durch die Erklärung
zu den persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen und die vorgelegten aktuellen Bewilligungsbescheide nach dem SGB II glaubhaft gemacht, dass sie die Kosten der Prozessführung nicht, auch nicht in Raten, selbst aufbringen kann (§
73a SGG i.V.m. §
114 Abs.
1 Satz 1
ZPO).
Die Erfolgsaussichten der Rechtsverfolgung waren nicht zu prüfen (§
119 Abs.
1 S. 2
ZPO). Die Beiordnung eines Rechtsanwalts war auch erforderlich (§
73a SGG i.V.m. §
121 Abs.
2 ZPO).
5. Dieser Beschluss ist nicht mit der Beschwerde an das Bundessozialgericht anfechtbar (§
177 SGG).