Versorgung mit Oberschenkel-Sportprothesen
Durch das BTHG geänderter Behinderungsbegriff
Größeres Gewicht individueller Wünsche
Tatbestand
Die Klägerin begehrt die Versorgung mit Oberschenkel-Sportprothesen.
Die 1995 geborene Klägerin und Berufungsbeklagte leidet an einer Dysmelie in Form von Fehlen der Beine ab dem distalen Oberschenkeldrittel
und schweren Funktionsstörungen im Bereich der Ellenbogen und Hände. Sie war bereits seit 2014 mit Oberschenkelprothesen in
Modularbauweise, bestehend aus dem Kniesystem 3R60 des Herstellers Otto Bock und einem RS2-Fußsystem aus dem Haus Freedom
Innovations, versorgt.
Die Klägerin beantragte am 27.10.2014 unter Einreichung eines Kostenvoranschlages der Firma P. GmbH und einer ärztlichen Verordnung
die Versorgung mit Oberschenkel-Sportprothesen. Mit Bescheid vom 07.11.2014 lehnte die Beklagte und Berufungsklägerin die
Kostenübernahme ab, da die Klägerin bereits prothetisch versorgt sei und eine Mehrfachversorgung zur Förderung der Freizeit-
und Vereinssportaktivitäten nicht zu den Aufgaben der Krankenkasse gehöre.
Dagegen legte die Klägerin Widerspruch ein. Sie legte zwei ärztliche Atteste vor. Dr. S. und Koll. (Allgemeinärzte, teilweise
Sportmediziner) legten unter dem 02.12.2014 dar, die Klägerin leide an Hyperlordose LWS, Beckentiefstand rechts, Beckenkippung
nach rechts, Anteversion rechts, Rotationsskoliose LWS/BWS, Myogelosen Mm quadratus lumb., erector spinae, glutaei, Hüftrotatoren
und chronischen Lumbalgien. Zur Verbesserung der Fehlstatik erscheine der Versuch einer Versorgung mit Sportprothesen sehr
sinnvoll, da die Patientin darunter wohl eine deutliche Verbesserung erfahren habe. Dipl. Psych. N. hat ausgeführt, die Versorgung
mit Sportprothesen werde voraussichtlich zu einer Verbessrung des Selbstvertrauens und geringeren Ängsten und Depressionen
führen.
Mit Widerspruchsbescheid vom 25.02.2015 wies die Beklagte den Widerspruch als unbegründet zurück. Sportprothesen hätten im
Vergleich zu gewöhnlichen Prothesen keine wesentlichen Gebrauchsvorteile, da die Klägerin mit der vorhandenen Prothesenversorgung
sicher und gefahrlos gehen und stehen könne und eine sportliche Betätigung in einem gewissen Umfang möglich sei. Der darüber
hinausgehende Zusatznutzen, welchen die Sportprothesen böten, ziele nicht auf die Sicherstellung eines Grundbedürfnisses des
täglichen Lebens.
Gegen diese Entscheidung hat die Klägerin am 12.03.2015 Klage zum Sozialgericht München (SG) erhoben. Sie hat geltend gemacht, dass die Sportprothesen zum weitergehenden Ausgleich der Behinderung und zur Vermeidung
von Folgeerkrankungen physischer wie psychischer Art dienten und nicht ausschließlich zur Wahrnehmung von Freizeit und Vereinssport.
Daher sei das BSG-Urteil vom 21.03.2013 (B 3 KR 3/12 R) nicht einschlägig.
Die Klägerin leide unter erheblichen orthopädischen Defiziten, so dass die Versorgung mit den Sportprothesen in erster Linie
dazu diene, die Fehlstellungen, die zu Folgeerkrankungen und Folgekosten führen würden, durch den Sport zu verbessern bzw.
auszugleichen. Die intensive sportliche Betätigung werde bei der Klägerin zu einer Verbesserung der gesamten körperlichen
Situation führen. Die Klägerin befinde sich zusätzlich in psychologischer Behandlung aufgrund ihrer Ängste und Depressionen.
Auch aus psychologischer Sicht werde eine erweiterte Aktivität und Bewegung zu mehr sozialen Kontakten, Erfolgserlebnissen
und einem verbesserten Selbstvertrauen führen. Die Sportprothesen würden für die Klägerin einen enormen Gewinn an Lebensqualität
bedeuten. Im Übrigen gelte der Anspruch auf "Rennen" vor allem bei jungen Menschen als Grundbedürfnis des täglichen Lebens
und müsse daher von der Beklagten gewährleistet werden.
Des Weiteren hat die Klägerin ausgeführt, mit der derzeitigen Versorgung (Kniesystem 3R60 von Otto Bock, RS2-Fußsystem von
Freedom Innovations) die alltäglichen Anforderungen zufriedenstellend bewältigen zu können. Beide Passteile seien bis maximal
zur Mobilitätsklasse 3 ausgelegt. Das Gehen im Alltag sei mit der Prothese möglich, nicht die sportliche Betätigung, insbesondere
nicht das Laufen. Hierfür seien hochleistungsfähige Knie- und Fußsysteme der Mobilitätsklasse 4 erforderlich. Dies werde mit
der beantragten Versorgung begehrt. Bisher könne die Klägerin lediglich am Reitsport teilnehmen; dies allerdings nur ohne
Beinprothese mit einer Sonderzurichtung des Reitsattels. Sportarten, die auf ein aktives dynamisches Laufen mit Prothesen
ausgelegt seien, könnten aufgrund der Limitierungen alltagsjustierter Prothesensteuerungen nicht realisiert werden. Diesbezüglich
hat sich die Klägerin auf eine von ihr vorgelegte orthopädietechnische Stellungnahme der Fa. P. berufen, die die Klägerin
von Kind auf orthopädietechnisch betreut. Diese hat bestätigt, dass die in der Alltagsprothese der Klägerin befindlichen Knie-
und Fußpassteile nachweislich nicht für den Sporteinsatz freigegeben seien und auch nicht die erhöhten Anforderungen, die
an das Laufen mit Prothese zu stellen seien, erfüllen würden.
In dem von der Ärztepartnerschaft Dr. S. und Koll. eingeholten Befundbericht hat der behandelnde Arzt auf die Frage des SG, ob aus seiner ärztlichen Sicht die Versorgung mit Sportprothesen zusätzlich zu der vorhandenen Prothesenversorgung bei der
Klägerin zur Vorbeugung einer Behinderung medizinisch notwendig sei, angegeben, diese sei auf jeden Fall sinnvoll, da durch
die sportliche Aktivität der Gesundheitszustand deutlich verbessert werden könne und Folgeschäden, die zu erwarten seien,
gemildert bzw. verhindert werden könnten.
In dem Befundbericht der Gemeinschaftspraxis Dr. L. (Internist) / Dr. Z. (Allgemeinarzt) hat der behandelnde Arzt die o.g.
Frage bejaht, weil es dadurch zur Kräftigung der Muskulatur und Verbesserung der Koordination komme. Dies bedeute eine Verringerung
der Sturzgefahr sowie eine hohe Wahrscheinlichkeit, den Zeitpunkt, in dem die Klägerin auf einen Rollstuhl angewiesen sein
werde, möglichst weit hinauszuschieben.
Das SG hat den Orthopäden und Allgemeinmediziner Dr. W. mit Beweisanordnung vom 14.02.2017 zum gerichtlichen Sachverständigen bestellt.
Dieser ist nach ambulanter Untersuchung der Klägerin in seinem Gutachten vom 03.05.2017 zu dem Ergebnis gekommen, dass die
begehrten Sportprothesen nicht geeignet und erforderlich seien, um einer Behinderung im Sinne des §
33 Abs.
1 Satz 1 Alt. 2
SGB V vorzubeugen. Ein Ausgleich oder die Verbesserung der Fehlstellung der Lendenwirbelsäule sei durch die Verordnung von Sportprothesen
nicht zu erreichen, da ein ruhiger Stand mit diesen Prothesen nicht möglich sei und eine ständige Gewichtsverlagerung erfolgen
müsse. Ein dauernder Einfluss mit Verhinderung einer pathologischen Lordose sei durch die Sportprothesenversorgung weder möglich
noch zu erwarten und aus orthopädischer Sicht nicht zu konstruieren. Es trete allerdings eine Verbesserung des gesamten körperlichen
Zustandes ein.
In der mündlichen Verhandlung am 12.04.2018 hat die Klägerin vorgetragen, dass sie mit den bisherigen Sportprothesen aufgrund
der Behinderung ihrer Arme nicht viele Sportarten betreiben könne. Insbesondere seien Handbikefahren, Schwimmen und andere
dynamische Sportarten ausgeschlossen; sie könne lediglich Dressurreiten. Mit ihrer bisherigen prothetischen Versorgung könne
sie sich 30-45 Minuten auf gerader Fläche (ca. 1-2 km) fortbewegen. Mit der Sportprothese gebe es diese Einschränkung nicht.
Zudem empfinde sie durch längeres Laufen mit den bisherigen Prothesen Schmerzen im Hüftbereich und unteren Rücken. Mit Hilfe
der Sportprothese ließen sich Verspannungen vermeiden.
Mit Urteil vom 12.04.2018 hat das SG die Beklagte verurteilt, die Klägerin mit den beantragten Oberschenkel-Sportprothesen als Sachleistung zu versorgen. Ein
Anspruch ergebe sich aus §
33 Abs.
1 Satz 1 Alt. 3
SGB V, da die Sportprothesen erforderlich seien, um die bestehende Behinderung bei der Klägerin auszugleichen.
Im Vordergrund einer Hilfsmittelversorgung stehe zumeist der Ausgleich der ausgefallenen oder beeinträchtigten Körperfunktion
selbst. Bei diesem unmittelbaren Behinderungsausgleich gelte das Gebot eines möglichst weitgehenden Ausgleichs des Funktionsdefizits,
und zwar unter Berücksichtigung des aktuellen Stands des medizinischen und technischen Fortschritts. Die gesonderte Prüfung,
ob ein allgemeines Grundbedürfnis des täglichen Lebens betroffen sei, entfalle, weil sich die unmittelbar auszugleichende
Funktionsbeeinträchtigung selbst immer schon auf ein Grundbedürfnis beziehe; die Erhaltung bzw. Wiederherstellung einer Körperfunktion
sei als solche ein Grundbedürfnis. Dabei könne die Versorgung mit einem fortschrittlichen, technisch weiterentwickelten Hilfsmittel
nicht mit der Begründung abgelehnt werden, der bisher erreichte Versorgungsstandard sei ausreichend, solange ein Ausgleich
der Behinderung nicht vollständig im Sinne des Gleichziehens mit einem nicht behinderten Menschen erreicht sei. Die Wirtschaftlichkeit
eines dem unmittelbaren Behinderungsausgleich dienenden Hilfsmittels sei grundsätzlich zu unterstellen und erst zu prüfen,
wenn zwei tatsächlich gleichwertige, aber unterschiedlich teure Hilfsmittel zur Wahl ständen (vgl. §
33 Abs.
1 Satz 5
SGB V und §
31 Abs.
3 SGB IX).
Unter Zugrundelegung dieser Grundsätze ziele die Versorgung der Klägerin mit den Sportprothesen darauf ab, ausgefallene Körperfunktionen
der Klägerin zu ersetzen. Durch die Sportprothesen werde der Klägerin direkt ermöglicht, zu rennen, Sport zu treiben und längere
Strecken ohne größere Einschränkung zurückzulegen. Damit dienten die Sportprothesen unzweifelhaft dem unmittelbaren Behinderungsausgleich.
Dem Gegenstand nach bestehe auch für den unmittelbaren Behinderungsausgleich ein Anspruch auf die im Einzelfall ausreichende,
zweckmäßige und wirtschaftliche Hilfsmittelversorgung, nicht jedoch ein Anspruch auf Optimalversorgung. Deshalb bestehe kein
Anspruch auf ein teureres Hilfsmittel, soweit die kostengünstigere Versorgung für den angestrebten Nachteilsausgleich funktionell
in gleicher Weise geeignet sei (vgl. BSG SozR 3-2500 § 33 Nr. 26 S. 153; stRspr.); andernfalls seien die Mehrkosten gemäß §
33 Abs.
1 Satz 5
SGB V (ebenso §
31 Abs.
3 SGB IX) von dem Versicherten selbst zu tragen. Die Krankenkassen hätten auch nicht für solche "Innovationen" aufzukommen, die keine
wesentlichen Gebrauchsvorteile für den Versicherten bewirkten, sondern sich auf einen bloß besseren Komfort im Gebrauch oder
eine bessere Optik beschränkten.
Die Klägerin sei bereits mit üblichen Prothesen in Modularbauweise versorgt. Diese Prothesen erlaubten es ihr jedoch nicht
in ausreichendem Umfang, sportliche Aktivitäten zu betreiben.
In solchen Konstellationen komme es maßgeblich darauf an, ob die jeweilige "Zusatzfunktion" eines - in der Grundausführung
dem unmittelbaren Behinderungsausgleich dienenden - Hilfsmittels (hier: Sportprothese) notwendig sei, den besonderen Bedürfnissen
eines behinderten Menschen zur Bewältigung seines Alltags unter Berücksichtigung der speziellen Grundsätze und Gebote des
SGB IX Rechnung zu tragen.
Zur Überzeugung der Kammer stehe fest, dass die Sportprothesen im konkreten Fall der Klägerin einen wesentlichen Zusatznutzen
im Rahmen des unmittelbaren Behinderungsausgleichs gewährleisteten. Es handele sich dabei nicht um eine marginale Einschränkung
der Alltagsgestaltung und um die ausschließliche Ermöglichung von Freizeit- und Vereinssport, wie die Beklagte meine.
Bei den normalen Prothesen, mit welchen die Klägerin bereits versorgt sei, und den Sportprothesen gehe es um zwei sich in
ihren Funktionen ergänzende Hilfsmittel zum unmittelbaren Behindertenausgleich, die stets nebeneinander beansprucht werden
könnten.
Mit den normalen Prothesen sei die Klägerin in der Lage, normale Alltagsbewegungen auszuüben. Die Sportprothesen hingegen
seien im konkreten Einzelfall der Klägerin erforderlich, da die Klägerin zusätzlich an einer schweren Fehlbildung der Hände
und Ellenbogen leide. Der Klägerin fehlten diverse Finger. Es lägen an beiden Händen Minderstrahligkeiten sowie deutlich verkürzte
Finger vor, die unter anderem bei sportlicher Betätigung zu Funktionseinschränkungen führten. Es bestehe im Übrigen eine Fehlanlage
beider Ellenbogengelenke. Zudem sei lediglich ein angedeuteter Zangen- und Schlüsselgriff zwischen Daumen und Restfingern
nach plastischer Operation der Hände möglich.
Dabei verkenne die Kammer nicht die Rechtsprechung des Bunddessozialgerichts zu Sportprothesen (BSG, Urteil vom 21.03.2013, B 3 KR 3/12 R). Der vorliegende konkrete Einzelfall weiche jedoch ganz wesentlich von dem durch das Bundessozialgericht entschiedenen ab.
Denn die gewöhnlichen Prothesen, mit denen die Klägerin versorgt sei, ermöglichten ihr gerade keine sportliche Betätigung
in nennenswerten Umfang und Freizeitsport werde ihr durch die normalen Prothesen auch nicht in erheblichem Maße gewährleistet.
Die Klägerin sei lediglich in der Lage, Dressur zu reiten, wofür sie überhaupt keine Prothesen benötige, da sie in einem speziellen
Reitsattel mit Sonderzurichtung sitze. Die meisten anderen aktiven Sportarten könnten von der Klägerin aufgrund der Behinderung
der unteren und oberen Extremitäten mit den normalen Prothesen nicht betrieben werden. Ballsportarten und Schwimmen seien
aufgrund der Funktionseinschränkungen der oberen Extremitäten ausgeschlossen. Liegeradfahren sei zwar für die Klägerin auf
ebenen Flächen grundsätzlich möglich, jedoch sei die Kraftübertragung von den Prothesen auf das Liegerad so gering, dass sie
keinerlei Steigung ohne zusätzliche motorische Hilfe bewältigen könne. Damit könne die Klägerin selbstständig aus eigener
Kraft nicht durchgehend Liegeradfahren, da Strecken in der Regel immer wieder Steigungen aufwiesen. Demgegenüber seien auch
weniger dynamische Sportarten wie bspw. Handbikefahren für die Klägerin aufgrund der Behinderungen der oberen Extremitäten
nicht durchführbar. Wegen der gegenseitigen Verstärkung der Behinderungen der Klägerin ermögliche die Sportprothese ihr die
Teilhabe an einem aktiven Leben. Da die vorhandene Prothese der Klägerin nicht bereits sportliche Aktivitäten in erheblichem
Maße ermögliche, sei es Aufgabe der gesetzlichen Krankenversicherung, im Rahmen des unmittelbaren Behinderungsausgleichs diese
der Klägerin zu ermöglichen.
Dagegen ergebe sich kein Anspruch für die Klägerin aus §
33 Abs.
1 Satz 1 Alt. 2
SGB V. Dr. W. habe überzeugend ausgeführt, dass die begehrten Sportprothesen nicht geeignet und erforderlich seien, einer Behinderung
vorzubeugen. Ein Ausgleich oder die Verbesserung der Fehlstellung der Lendenwirbelsäule sei durch die Verordnung von Sportprothesen
nicht zu erreichen, da ein ruhiger Stand mit diesen Prothesen nicht möglich sei und eine ständige Gewichtsverlagerung erfolgen
müsse. Ein dauernder Einfluss mit Verhinderung einer pathologischen Lordose sei durch die Sportprothesenversorgung weder möglich
noch zu erwarten und aus orthopädischer Sicht nicht zu konstruieren. Es trete allerdings eine Verbesserung des gesamten körperlichen
Zustandes ein.
Gegen das am 18.06.2018 zugestellte Urteil hat die Beklagte am 16.07.2018 Berufung zum Bayer. Landessozialgericht (LSG) eingelegt.
Sie hat sich erneut auf das Urteil des BSG vom 21.03.2013 (B 3 KR 3/12 R) sowie auf das Gutachten des gerichtlichen Sachverständigen berufen.
Die Klägerin ist der Berufung entgegengetreten und hat ausgeführt, unter Berücksichtigung ihres Alters und ihrer selbstständigen
Lebensführung trotz der Einschränkungen werde man das auszugleichende Grundbedürfnis nicht nur auf das sichere Gehen und Stehen,
sondern auch auf das Laufen im Alltagssinne erstrecken müssen. Zum Leben eines jungen Menschen gehöre ein gewisser Grad an
Aktivität. Nur diese werde mit Sportprothesen gewährleistet. Ohne Sportprothesen sei der Klägerin keine sportliche Betätigung
möglich. Sie könne sich nicht "auspowern" und kämpfe deshalb gegen Übergewicht und Schlaflosigkeit. Auf Grund der speziellen
Behinderungssituation der Klägerin sowie ihres Alters und ihres Allgemeinzustandes sei es möglich und angebracht, von der
Entscheidung des BSG als Einzelfallentscheidung abzuweichen. In der Entscheidung des BSG sei es ausschließlich um besondere Sportprothesen für Vereinssport gegangen. Bei der Klägerin dagegen handele es sich um
die Möglichkeit, das Grundbedürfnis auf Laufen und körperliche Ertüchtigung auszugleichen.
Mit Beschluss vom 08.03.2019 hat der Senat den Bezirk ..., Sozialverwaltung, notwendig beigeladen.
Auf Frage des Senats hat die Klägerin erklärt, sie sei mittlerweile mit zwei neuen C-Leg 4 versorgt. Die voraussichtliche
Tragedauer werde noch ca. zwei Jahre betragen.
Der Senat hat bei dem Sachverständigen L. ein Gutachten vom 26.04.2019 über die Verwendungsmöglichkeiten von Sportprothesen
und über das - nicht streitgegenständliche - Prothesenmodell Genium X3 des Herstellers Otto Bock eingeholt, das in der mündlichen
Verhandlung Gegenstand von Vergleichsgesprächen war. Die Klägerin hat in der mündlichen Verhandlung auch klargestellt, dass
die beantragten Sportprothesen nicht für den Leistungssportbereich - sie ist Mitglied des A. - benötigt würden, sondern dem
allgemeinen Bedürfnis nach Sport, vor allem nach Joggen, dienen sollten. Auf die Niederschrift der Sitzung wird verwiesen.
Die Beklagte beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts München vom 12.04.2018 aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Die Klägerin beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Der Beigeladene hat keinen gesonderten Antrag gestellt.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts wird auf die Gerichtsakten beider Rechtszüge und auf die beigezogene Akte
der Beklagten verwiesen.
Entscheidungsgründe
Die Berufung ist zulässig; insbesondere ist sie ohne Zulassung statthaft (§
144 Abs.
1 Satz 1 Nr.
1 SGG) und wurde form- und fristgerecht eingelegt (§
151 SGG).
Die Berufung ist jedoch nicht begründet. Das SG hat der Klage zutreffend stattgegeben. Der Klägerin steht ein Anspruch auf Versorgung mit den beantragten Sportprothesen
zu.
1. Die Klägerin kann den geltend gemachten Anspruch allerdings nicht auf eine Genehmigungsfiktion nach §
13 Abs.
3a SGB V stützen. Die Genehmigungsfiktion sowie die Regelungen aus §
13 Abs.
3a SGB V insgesamt sind auf Leistungen zur medizinischen Rehabilitation nicht anwendbar (§
13 Abs.
3a Satz 9
SGB V). Die begehrten Sportprothesen dienen keiner (kurativen) Krankenbehandlung, sondern allein dem (unmittelbaren) Behinderungsausgleich
und haben daher medizinisch-rehabilitativen Charakter (vgl. zu einer Definitiv-Unterschenkelprothese mit Prothesenfuß BSG, Urteil vom 15.03.2018, B 3 KR 18/17 R). Diese Rechtsprechung ist auf den vorliegenden Fall übertragbar; sie ist den Beteiligten bekannt und muss hier nicht im
Einzelnen wiedergegeben werden.
2. Auch auf §
33 Abs.
1 Satz 1 Var. 2
SGB V (Vorbeugung einer drohenden Behinderung) kann der Anspruch nicht mit Erfolg gestützt werden. Wie das SG zutreffend ausgeführt hat, sind die begehrten Sportprothesen nicht geeignet und erforderlich, einer Behinderung vorzubeugen.
Ein Ausgleich oder die Verbesserung der Fehlstellung der Lendenwirbelsäule ist durch die Verordnung von Sportprothesen nicht
zu erreichen, da ein ruhiger Stand mit diesen Prothesen nicht möglich ist und eine ständige Gewichtsverlagerung erfolgen muss.
Ein dauernder Einfluss mit Verhinderung einer pathologischen Lordose ist durch die Sportprothesenversorgung weder möglich
noch zu erwarten und aus orthopädischer Sicht nicht zu konstruieren. Dies hat der gerichtliche Sachverständige Dr. W. in seinem
Gutachten vom 03.05.2017 überzeugend und nachvollziehbar dargelegt.
3. Die Klägerin kann sich jedoch mit Erfolg auf §
33 Abs.
1 Satz 1 Var. 3
SGB V (Ausgleich einer bestehenden Behinderung) berufen. Danach haben Versicherte Anspruch auf Versorgung mit Hörhilfen, Körperersatzstücken,
orthopädischen und anderen Hilfsmitteln, die im Einzelfall erforderlich sind, um eine Behinderung auszugleichen, soweit die
Hilfsmittel nicht als allgemeine Gebrauchsgegenstände des täglichen Lebens anzusehen oder nach §
34 Abs.
4 SGB V ausgeschlossen sind.
Bei den streitgegenständlichen Sportprothesen handelt es sich um Hilfsmittel zum Behinderungsausgleich, die weder Gebrauchsgegenstände
des täglichen Lebens noch nach §
34 Abs.
4 SGB V ausgeschlossen sind. Sie sind im konkreten Einzelfall der Klägerin auch erforderlich, weil sie gegenüber den vorhandenen
Prothesen einen wesentlichen Gebrauchsvorteil bieten, indem sie das Laufen ermöglichen.
Der Senat geht von den Grundsätzen aus, die das BSG in seinem Urteil vom 21.03.2013 (B 3 KR 3/12 R) formuliert hat; auf die Ausführungen des BSG wird Bezug genommen. Dabei verkennt der Senat nicht, dass das BSG in der genannten Entscheidung ausgeführt hat, die Förderung des Freizeitsports und des Vereinssports gehöre nicht zu den
Aufgaben der Krankenkassen bei der Hilfsmittelversorgung (a.a.O., Rn. 9). Dieser Rechtssatz kann jedoch auf den Fall der Klägerin
keine Anwendung finden.
a) Das BSG hat den zitierten Rechtssatz bereits in dem Urteil vom 21.03.2013 relativiert. Denn es hat hervorgehoben, dass eine normale
Laufprothese dem dortigen Kläger ebenfalls sportliche Betätigungen "in einem erheblichen Maße" bzw. "in nennenswertem Umfang"
ermögliche (a.a.O., Rn. 23). Daraus folgt für den Senat, dass das BSG einen wesentlichen Gebrauchsvorteil und damit einen Anspruch auf Versorgung mit Sportprothesen jedenfalls nicht ausschließt,
wenn normale Laufprothesen keine sportliche Betätigung ermöglichen. So liegt es hier.
aa) Dem Kläger in dem vom BSG entschiedenen Fall war ein Unterschenkel amputiert worden; er ging - ohne die streitgegenständliche Sportprothese - regelmäßig
zum Schwimmen und in ein Fitnessstudio, fuhr Rad, wanderte, spielte Tischtennis und betätigte sich in einer Behindertensportgruppe
als Sitzballspieler (BSG, a.a.O., Rn. 2).
bb) Die Klägerin im vorliegenden Fall ist körperlich wesentlich stärker eingeschränkt. Sie leidet an Dysmelie in Form von
Fehlen beider Beine ab dem distalen Oberschenkeldrittel und schweren Funktionsstörungen im Bereich der Ellenbogen und Hände.
Der gerichtliche Sachverständige Dr. W. hat dargelegt, dass eine Fehlanlage beider Ellenbogengelenke besteht. Linksseitig
ist eine Beugung/Streckung von 90/10/0° möglich; rechtsseitig besteht eine in 40° kontrakte Gelenkstellung; eine Beugung oder
Streckung ist nicht möglich. Auf beiden Seiten besteht keine Drehfähigkeit der Unterarme. Es liegt ein dreigliedriger Aufbau
der Hände nach plastischer Operation vor; zumindest ein angedeuteter Zangen- und Schlüsselgriff zwischen Daumen und Restfingern
ist möglich. Außerdem leidet die Klägerin nach dem Befundbericht der Praxis Dr. L./Dr. Z. vom 25.10.2016 an einer Spina bifida.
Mit diesen Beeinträchtigungen ist die Klägerin nicht in der Lage, eine andere Sportart auszuüben als Dressurreiten. Dies wird
ihr jedoch gerade nicht durch die vorhandenen Prothesen ermöglicht, weil sie bei dieser Sportart überhaupt keine Beinprothesen
benötigt. Dagegen sind - wie bereits das SG festgestellt hat - insbesondere Ballsportarten, Handbikefahren und Schwimmen aufgrund der Funktionseinschränkungen der oberen
Extremitäten ausgeschlossen. Liegeradfahren ist nur auf ebenen Flächen - und damit nur sehr eingeschränkt - möglich. Der Senat
ist hiervon auf Grund der Angaben der Klägerin überzeugt, die den festgestellten Funktionseinschränkungen entsprechen und
denen auch die Beklagte nicht widersprochen hat.
b) Der durch das Bundesteilhabegesetz (BTHG) geänderte Behinderungsbegriff in §
2 SGB IX gebietet die Zulassung von Ausnahmen von dem Rechtssatz, die Förderung des Freizeitsports und des Vereinssports gehöre nicht
zu den Aufgaben der Krankenkassen bei der Hilfsmittelversorgung. In seinem Urteil vom 15.03.2018 (B 3 KR 18/17 R) hat das BSG auf die Änderung durch das BTHG hingewiesen.
Bei der Prüfung eines Anspruchs aus §
33 SGB V ist das gesamte materielle und soziale Umfeld einschließlich der individuellen privaten und beruflichen Lebensgestaltung
zu ermitteln und auf dieser Basis zu entscheiden, ob das begehrte Hilfsmittel im alltäglichen Lebensumfeld wesentliche Gebrauchsvorteile
bietet, die die Klägerin nach ihren individuellen Fähigkeiten auch tatsächlich nutzen kann, bzw. welches konkrete Versorgungskonzept
bei ihr zur Bewältigung des Alltagslebens anstelle dessen ausreichend, zweckmäßig und wirtschaftlich ist.
Dabei ist mit Blick auf zwischenzeitlich eingetretene Rechtsänderungen zu beachten, dass die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt
der letzten mündlichen Verhandlung der Tatsacheninstanz maßgebend ist. Für den Versorgungsanspruch nach §
33 SGB V ist daher mit zu berücksichtigen, dass der Gesetzgeber inzwischen mit dem BTHG vom 23.12.2016 den Behinderungsbegriff in
§
2 SGB IX idF des BTHG ausdrücklich entsprechend dem Verständnis der UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) neu gefasst und dabei
dem Wechselwirkungsansatz noch mehr Gewicht beigemessen hat als nach dem bis dahin geltenden Recht. Danach kommt es nicht
allein auf die wirklichen oder vermeintlichen gesundheitlichen Defizite an. Im Vordergrund stehen vielmehr das Ziel der Teilhabe
(Partizipation) an den verschiedenen Lebensbereichen sowie die Stärkung der Möglichkeiten einer individuellen und den persönlichen
Wünschen entsprechenden Lebensplanung und -gestaltung unter Berücksichtigung des Sozialraumes und der individuellen Bedarfe
zu wohnen (BSG, a.a.O., Rn. 44 f. unter Hinweis auf die Gesetzesmaterialien).
Für den Senat folgt daraus, dass bei der Prüfung von Ansprüchen nach §
33 SGB V nach aktuellem Recht individuellen Wünschen größeres Gewicht beizumessen ist als nach der früheren Rechtslage, die noch dem
zitierten Urteil vom 21.03.2013 zu Grunde lag. Dabei ist auch die Förderung von Freizeitsport durch eine Hilfsmittelversorgung
nicht ausgeschlossen.
Im Leben der Klägerin spielt - wie ihre Einvernahme durch den Senat ergeben hat - Sport eine herausragende Rolle; er ist ein
wesentlicher Teil ihres außerberuflichen Alltagslebens. Die Klägerin übt Dressurreiten als Leistungssport aus; sie ist Mitglied
im A.. Zusätzlich möchte sie Laufen als weitere Sportart ausüben, was ihr mit den vorhandenen Prothesen nicht möglich ist.
Dabei handelt es sich um einen nachvollziehbaren persönlichen Wunsch hinsichtlich ihrer individuellen Lebensgestaltung, gerade
weil ihr auf Grund des komplexen Behinderungsbildes, das auch den Gebrauch der Arme stark einschränkt, weitere Sportarten
ohnehin nicht zugänglich sind. Soweit sie mit anderen Menschen gemeinsam laufen will, macht sie geleichzeitig einen Bedarf
an Integration geltend. Die Klägerin kann die begehrten Sportprothesen auch nach ihren individuellen Fähigkeiten tatsächlich
nutzen; dies ergibt sich aus der Stellungnahme der Firma P. Orthopädietechnik, die die Klägerin als Anlage zum Schriftsatz
vom 14.09.2015 im erstinstanzlichen Verfahren vorgelegt hat. Dort ist ausgeführt, die Klägerin habe im Rahmen eines Sportcamps
an einem aktiven Lauftraining teilgenommen. Dabei habe sich gezeigt, dass sie mit Sportprothesen gut zurechtgekommen sei.
Diesbezügliche Bedenken hätten sich nicht bestätigt. Damit sind auch die vom Sachverständigen L. allgemein geäußerten Bedenken
hinsichtlich einer Sturzgefahr entkräftet. Dieser Sachverständige hat die Klägerin nicht bei der Verwendung von Sportprothesen
beobachtet.
Der Senat verkennt nicht, dass eine Hilfsmittelversorgung nicht der Förderung des Leistungssports dient. Dies steht jedoch
dem Anspruch der Klägerin nicht entgegen. Die Klägerin begehrt die streitgegenständlichen Prothesen nicht für das Dressurreiten,
das sie als Leistungssport ausübt. Sie benötigt sie auch nicht für entsprechendes Training, sondern möchte ausschließlich
dem allgemeinen Bedürfnis nach Sport, vor allem nach Joggen, nachkommen. Dies ergibt sich aus den überzeugenden Angaben der
Klägerin in der mündlichen Verhandlung.
c) Zusammenfassend ist der Senat auf Grund des dargelegten Verständnisses von §
2 SGB IX und der Rechtsprechung des BSG sowie der Umstände des Einzelfalls zu der Überzeugung gelangt, dass der Klägerin der geltend gemachte Anspruch auf Versorgung
mit Sportprothesen nach §
33 Abs.
1 Satz 1 Var. 3
SGB V zusteht.
4. Der Senat lässt offen, ob die Klägerin gegen die Beklagte als erstangegangene Rehabilitationsträgerin nach §
14 SGB IX zusätzlich einen Anspruch aus §§ 53, 54 Abs. 1 SGB XII (Eingliederungshilfe) gegen den Beigeladenen hat. Feststellungen zu den Einkommens- und Vermögensverhältnissen der Klägerin
sind daher nicht erforderlich.
Die Kostenentscheidung beruht auf §
193 SGG.
Der Senat lässt die Revision wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache zu(§
160 Abs.
2 Nr.
1 SGG).