Feststellung der gesundheitlichen Voraussetzungen für die Inanspruchnahme der Nachteilsausgleiche mit Merkzeichen G und B
Tatbestand:
Mit seiner Berufung wehrt sich der Beklagte gegen die Verurteilung zur Feststellung der gesundheitlichen Voraussetzungen für
die Inanspruchnahme der Nachteilsausgleiche mit Merkzeichen G und B. Die 1959 geborene Klägerin stellte am 01. April 2015
beim Beklagten einen Antrag auf Heraufsetzung des zuvor bei ihr festgestellten Grades der Behinderung (GdB) von 60 und auf
Feststellung der gesundheitlichen Voraussetzungen der Merkzeichen G und B. Mit Bescheid vom 06. August 2015 lehnte der Beklagte
die Neufeststellung und die Zuerkennung von Merkzeichen ab und hielt daran auch mit Widerspruchsbescheid vom 04. Februar 2016
fest.
Mit der am 28. Februar 2016 erhobenen Klage hat die Klägerin die Zuerkennung eines GdB von mindestens 70 und die Feststellung
der gesundheitlichen Voraussetzungen der Merkzeichen G und B begehrt. Hierzu hat sie vorgetragen, sie leide neben Panikstörungen
und Depressionen auch an einer chronifizierten Schmerzstörung und einem Wirbelsäulenleiden. Sie könne nur unter Zuhilfenahme
eines Rollators langsam, unsicher und schlurfend gehen. Treppen könne sie nur mit fremder Hilfe bewältigen. Auch wenn die
Funktionsbeeinträchtigungen der unteren Gliedmaßen nicht für sich genommen einen GdB von 50 erreichten, sei sie doch in ihrer
Gehfähigkeit erheblich eingeschränkt und erfülle die Voraussetzungen des Merkzeichens G. Öffentliche Verkehrsmittel könne
sie nur in Begleitung nutzen.
Das Sozialgericht hat Beweis erhoben durch Einholung eines Gutachtens des Facharztes für Chirurgie und Sozialmedizin Dr. B,
der die Klägerin am 19. Dezember 2016 untersucht hat und in seinem Gutachten vom 20. Dezember 2016 zu der Einschätzung gelangt
ist, die Klägerin leide auf psychischem Gebiet unter ausgeprägten Somatisationsstörungen. Die festzustellenden Bewegungseinschränkungen
im Stütz- und Halteapparat seien nicht neurologischen oder organisch bedingten funktionellen Einschränkungen des Stütz- und
Halteapparates geschuldet, sondern der psychischen Störung der Klägerin. Die vorliegenden medizinischen Unterlagen belegten,
dass bei der Klägerin seit Jahren eine psychische Störung im Sinne einer ausgeprägten Depression und astenisch - hypochondrischen
Persönlichkeitsstörung sowie einer somatoformen Schmerzstörung bestehe. Aufgrund der erheblichen psychischen Störungen sei
die Klägerin subjektiv nicht in der Lage, Wegstrecken im Ortsverkehr bis 2 Kilometer Länge ohne erhebliche Schwierigkeiten
und Gefahren für sich oder andere zu Fuß zurückzulegen. Diese Einschränkung der Wegefähigkeit sei den psychischen Störungen,
nicht aber pathologischen organischen Befunden zuzuordnen. Hingegen sei die Klägerin zur Vermeidung von Gefahren für sich
oder andere bei der Benutzung von öffentlichen Verkehrsmitteln nicht regelmäßig auf fremde Hilfe angewiesen. Wegen der Einzelheiten
wird auf das Gutachten Bezug genommen.
Mit Gerichtsbescheid vom 07. Mai 2018 hat das Sozialgericht den Beklagten unter Aufhebung des Bescheides vom 06. August 2015
in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 04. Februar 2016 verurteilt, bei der Klägerin die gesundheitlichen Voraussetzungen
der Merkzeichen G und B festzustellen. Im Übrigen hat es die Klage abgewiesen. Zur Begründung hat es ausgeführt, es folge
den Feststellungen des Sachverständigen, wonach die Klägerin aufgrund ihrer psychischen Störungen subjektiv nicht in der Lage
sei, längere Wegstrecken zu Fuß zurückzulegen. Dies sei insbesondere nachvollziehbar, weil die Klägerin mit Rollstuhl und
Rollator versorgt sei. Das subjektive Unvermögen der Klägerin beruhe auf einer psychischen Erkrankung. Dies sei ausreichend,
um in Anwendung der Rechtsprechung des BSG vom 11. August 2015 die Voraussetzungen des Merkzeichens G festzustellen. Das bei der Klägerin bestehende Fibromyalgie-Syndrom
und die damit einhergehende Schmerzproblematik bzw. Somatisationsstörung wirke sich unmittelbar auf das Gehvermögen der Klägerin
aus und gebiete daher die Zuerkennung des Merkzeichens G. Bei dieser Sachlage sei auch die Zuerkennung des Merkzeichens B
auf der Grundlage von § 229 Absatz 2 Satz 1
SGB IX geboten. Zwar sei die Klägerin objektiv in der Lage, öffentliche Verkehrsmittel selbstständig zu nutzen, doch werde sie durch
ihr psychisches Leiden daran gehindert. Wegen der Einzelheiten wird auf den Gerichtsbescheid Bezug genommen, der dem Beklagten
am 15. Mai 2018 zugestellt worden ist.
Mit der am 14. Juni 2018 eingelegten Berufung ist der Beklagte der Verurteilung entgegen getreten. Hierzu hat er ausgeführt,
seines Erachtens seien die Voraussetzungen des Nachteilsausgleiches mit Merkzeichen G nicht gegeben. Insbesondere lägen bei
der Klägerin keine auf die Gehfähigkeit sich auswirkenden Funktionsstörungen der unteren Gliedmaßen und/oder der Lendenwirbelsäule
vor, die für sich einen GdB von wenigstens 50 bedingten. Auch innere Leiden schränkten die Klägerin nicht hinreichend für
die Zuerkennung des Merkzeichens in ihrem Gehvermögen ein. Zwar könnten nach der Rechtsprechung des BSG auch psychische Störungen die Zuerkennung des Merkzeichens gebieten, doch müssten sich diese spezifisch auf das Gehvermögen
auswirken. Voraussetzung sei jedoch, dass die psychische Störung für sich genommen einen GdB von 50 bedinge, was hier nicht
der Fall sei.
Der Beklagte beantragt sinngemäß,
den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Neuruppin vom 07. Mai 2018 zu ändern und die Klage insgesamt abzuweisen.
Nachdem die Klägerin die von ihr eingelegte Berufung zurückgenommen hat, beantragt sie noch,
die Berufung des Beklagten zurückzuweisen.
Die Beteiligten haben sich übereinstimmend mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.
Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf den gesamten Inhalt der Streitakte und der beigezogenen Verwaltungsvorganges des
Beklagten Bezug genommen. Er ist Gegenstand der Beratung gewesen.
Entscheidungsgründe:
Die zulässige Berufung des Beklagten ist nur zum Teil begründet. Soweit das Sozialgericht den Beklagten verurteilt hat, bei
der Klägerin die gesundheitlichen Voraussetzungen des Merkzeichens G festzustellen, ist die Berufung des Beklagten zurückzuweisen.
Zu Recht ist das Sozialgericht davon ausgegangen, dass bei der Klägerin die Voraussetzungen des §
146 Absatz
1 Satz 1
SGB IX a.F. bzw. § 229 Absatz 1 Satz 1 n.F. vorliegen. Danach ist in seiner Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr erheblich beeinträchtigt, wer infolge einer
Einschränkung des Gehvermögens nicht ohne erhebliche Schwierigkeiten oder nicht ohne Gefahren für sich oder andere Wegstrecken
im Ortsverkehr zurückzulegen vermag, die üblicherweise noch zu Fuß zurückgelegt werden. Vorauszusetzen ist insoweit eine doppelte
Kausalität: Ursache der beeinträchtigten Bewegungsfähigkeit muss eine Behinderung des schwerbehinderten Menschen sein und
diese Behinderung muss sein Gehvermögen einschränken. Nicht ausreichend sind hingegen Faktoren, wie mangelnder Trainingszustand
oder fehlende Motivation. Nachdem der Sachverständige Dr. auch nach eingehender medizinischer Untersuchung der Klägerin zu
der eindeutigen Einschätzung gelangt ist, die Klägerin leide auf psychischem Gebiet unter einer somatoformen Schmerzstörung
bzw. Fibromyalgie und einer depressiven Komponente, wobei die psychische Störung sich auf ihr Gehvermögen in einer Weise auswirke,
dass sie nicht in der Lage sei, Wegstrecken von 2000 m zu Fuß zurückzulegen, liegen entgegen der Ansicht des Beklagten die
Voraussetzungen der Zuerkennung des Merkzeichens G unzweifelhaft vor. Wegen der weiteren Einzelheiten nimmt der Senat gemäß
§
153 Absatz
2 Sozialgerichtsgesetz (
SGG) auf die Gründe der erstinstanzlichen Entscheidung Bezug und sieht von einer Darstellung der weiteren Entscheidungsgründe
ab.
Soweit der Beklagte sich gegen die Verurteilung zur Zuerkennung des Merkzeichens B wendet, ist die Berufung indes begründet.
Anspruch auf Zuerkennung des Merkzeichens hat gemäß §
146 Absatz
2 SGB IX a.F. bzw. § 229 Absatz 2
SGB IX n.F. ein schwerbehinderter Mensch, der bei der Benutzung von öffentlichen Verkehrsmitteln infolge seiner Behinderung regelmäßig
auf Hilfe angewiesen ist. Entgegen der Ansicht des Sozialgerichts liegen diese Voraussetzungen in der Person der Klägerin
nicht vor. Zwar trifft es zu, dass die bei der Klägerin festgestellte psychische Erkrankung sie erheblich in ihrem Gehvermögen
beeinflusst, doch kompensiert die Klägerin dies durch die Verwendung eines Rollators bzw. eines Rollstuhls. Bei Verwendung
dieser Hilfsmittel ist indes nicht ersichtlich, wieso die bei ihr bestehende psychische Beeinträchtigung weitere Hilfe bei
der Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel nötig machte. Dementsprechend hat der Sachverständige in seinem Gutachten in überzeugender
Weise die Einschätzung vertreten, die Klägerin sei bei der Benutzung von öffentlichen Verkehrsmitteln nicht regelmäßig auf
fremde Hilfe angewiesen. Diese Einschätzung teilt der Senat.