Feststellung eines höheren Gesamt-GdB
Fehlerhafte Rechtsanwendung
Verkennung höchstrichterlicher Rechtsprechung
Einander widersprechende Gutachten
1. Missversteht oder übersieht das Berufungsgericht einen höchstrichterlichen Rechtssatz und wendet deshalb das Recht fehlerhaft
an, kann daraus nicht geschlossen werden, es habe einen divergierenden Rechtssatz aufgestellt.
2. Die Bezeichnung einer Abweichung i.S. des §
160 Abs.
2 Nr.
2 SGG setzt vielmehr die Darlegung voraus, dass das LSG die höchstrichterliche Rechtsprechung im angefochtenen Urteil infrage stellt.
3. Dies ist nicht der Fall, wenn es eine höchstrichterliche Entscheidung in ihrer Tragweite für den entschiedenen Fall lediglich
verkannt haben sollte.
4. Bei einander widersprechenden Gutachten ist das Gericht nicht stets verpflichtet, ein weiteres Gutachten einzuholen, es
sei denn, die Gutachten weisen schwere Mängel auf, sind in sich widersprüchlich, gehen von unzutreffenden Voraussetzungen
aus oder wecken Zweifel an der Sachkunde oder Sachlichkeit des Sachverständigen.
Gründe:
I
Bei der Klägerin ist ua wegen der Folgen von Unter- und Oberbauchschmerzen bzw Organverwachsungen ein Gesamt-GdB von 30 festgestellt
(Bescheid vom 16.10.2008, Widerspruchsbescheid vom 27.1.2009). Die dagegen zum SG erhobene Klage blieb nach Einholung mehrerer Sachverständigengutachten ohne Erfolg (Urteil vom 14.7.2011). Im Berufungsverfahren
hat das LSG wegen einer von der Klägerin beklagten psychischen Beeinträchtigung von Amts wegen ein psychiatrisches Gutachten
eingeholt. Der vom LSG gehörte Sachverständige Dr. H. schlug weiterhin einen Gesamt-GdB von 30 vor. Es bestehe kein Anhalt
für eine irgendwie geartete Depressionssymptomatik. Dagegen diagnostizierte der auf Antrag der Klägerin nach §
109 SGG gehörte Sachverständige Dr. S. eine mittelschwere wiederkehrende Depression sowie ein chronifiziertes Schmerzsyndrom. Der
Gesamt-GdB betrage 60.
Mit Urteil vom 14.10.2014 hat das LSG einen Anspruch der Klägerin auf Feststellung eines höheren Gesamt-GdB als 30 verneint.
Das Gutachten von Dr. S. sei nicht geeignet eine höhergradige psychische Beeinträchtigung der Klägerin zu belegen, weil seine
Diagnosen nicht auf ausreichenden Befunden, sondern ausschließlich auf Angaben der Klägerin beruhten und das Gutachten die
Versorgungsmedizinverordnung nicht ausreichend beachte. Soweit der Klägerin zuletzt noch multiple Gelenkbeschwerden bei Polymyalgie
sowie eine aktuelle psychische Destabilisierung ärztlich bescheinigt worden sei, seien diese Beeinträchtigungen, unabhängig
von ihrer diagnostischen Einordnung, momentan noch nicht bei der Einschätzung des GdB zu berücksichtigen, da sie noch keine
sechs Monate anhielten.
Gegen die Nichtzulassung der Revision in dieser Entscheidung hat die Klägerin Nichtzulassungsbeschwerde eingelegt, mit der
sie eine Divergenz und Verfahrensmängel rügt.
II
Die Nichtzulassungsbeschwerde der Klägerin ist unzulässig. Die Begründung genügt nicht den gesetzlichen Anforderungen, weil
weder die behauptete Divergenz (1.) noch der angebliche Verfahrensmangel (2.) hinreichend substantiiert dargetan worden sind
(vgl §
160a Abs
2 S 3
SGG).
1. Die Beschwerde hat die Voraussetzungen der Divergenz nicht hinreichend substantiiert dargelegt. Wer eine Rechtsprechungsdivergenz
entsprechend den gesetzlichen Anforderungen darlegen will, muss entscheidungstragende abstrakte Rechtssätze in der Entscheidung
des Berufungsgerichts einerseits und in der herangezogenen höchstrichterlichen Entscheidung des BSG, des GmSOGB oder des BVerfG andererseits gegenüberstellen und dazu ausführen, weshalb beide miteinander unvereinbar sein
sollen (vgl zB BSG Beschluss vom 28.7.2009 - B 1 KR 31/09 B - RdNr 4; BSG Beschluss vom 28.6.2010 - B 1 KR 26/10 B - RdNr 4; BSG Beschluss vom 22.12.2010 - B 1 KR 100/10 B - Juris RdNr 4 mwN). Erforderlich ist, dass das LSG bewusst einen abweichenden Rechtssatz aufgestellt hat und nicht etwa
lediglich fehlerhaft das Recht angewendet hat (vgl zB BSG Beschluss vom 15.1.2007 - B 1 KR 149/06 B - RdNr 4; BSG SozR 3-1500 § 160 Nr 26 S 44 f mwN).
Die Klägerin hat indes bereits keinen tragenden abstrakten Rechtssatz des LSG aufgezeigt, mit dem dieses der Rechtsprechung
des BSG widersprochen habe. Sie macht geltend, das Berufungsgericht habe das Urteil des BSG vom 12.4.2000 (B 9 SB 3/99 R = SozR 3-3870 § 3 Nr 9) verkannt. Danach sei entscheidend für die Frage einer Funktionsbeeinträchtigung und der Erhöhung
des Grades der Gesamtbehinderung nicht die seit Beginn der Erkrankung oder gar seit ihrer erstmaligen ärztlichen Feststellung
abgelaufene Zeit, sondern die ihrer Art nach zu erwartende Dauer der von ihr ausgehenden Funktionsbeeinträchtigung. Mit diesem
Vorbringen ist eine Divergenz iS des §
160 Abs
2 Nr
2 SGG nicht dargetan. Missversteht oder übersieht das Berufungsgericht einen höchstrichterlichen Rechtssatz und wendet deshalb
das Recht fehlerhaft an, kann daraus nicht geschlossen werden, es habe einen divergierenden Rechtssatz aufgestellt. Die Bezeichnung
einer Abweichung iS des §
160 Abs
2 Nr
2 SGG setzt vielmehr die Darlegung voraus, dass das LSG die höchstrichterliche Rechtsprechung im angefochtenen Urteil infrage stellt.
Dies ist nicht der Fall, wenn es eine höchstrichterliche Entscheidung in ihrer Tragweite für den entschiedenen Fall lediglich
verkannt haben sollte (vgl BSG SozR 3-1500 § 160a Nr 34 S 73 mwN).
Einen solchen divergierenden Rechtssatz des LSG hat die Beschwerde nicht aufgezeigt. Die Beschwerde setzt sich zudem auch
nicht mit der Möglichkeit auseinander, die Gründe des LSG-Urteils im Sinne der zitierten BSG-Rechtsprechung zu verstehen. Wenn das LSG ausführt, die aktuell bescheinigten Erkrankungen seien "noch nicht" bei der Einschätzung
des GdB zu berücksichtigen, da sie noch keine 6 Monate anhielten, so kann darin auch die vom BSG (vgl Urteil vom 12.4.2000 - B 9 SB 3/99 R - SozR 3-3870 § 3 Nr 9 S 22 f = Juris RdNr 11) verlangte Prognose über die Dauer der Erkrankung gesehen werden, die das LSG
möglicherweise erst nach Ablauf der Sechs-Monatsfrist zuverlässig im Sinne der Klägerin zu stellen vermag. Insbesondere bei
der von der behandelnden Psychiaterin bescheinigten "aktuellen Destabilisierung" liegt diese Lesart nahe.
Unabhängig davon hat die Beschwerde auch nicht hinreichend substantiiert dargelegt, warum das angefochtene Urteil auf der
von ihr behaupteten Divergenz beruhen sollte. Dazu wäre es erforderlich gewesen, im Einzelnen darzulegen, warum sich durch
Berücksichtigung der ins Feld geführten ärztlichen Bescheinigungen vom maßgeblichen Rechtsstandpunkt des LSG die Einzel-GdB
für einzelne Funktionsbereiche sowie vor allem der maßgebliche Gesamt-GdB der Klägerin hätte erhöhen sollen (vgl BSG SozR 4-3250 § 69 Nr 10).
2. Ebenso wenig hat die Beschwerde den behaupteten Verfahrensmangel substantiiert dargetan. Wird eine Nichtzulassungsbeschwerde
wie im Fall der Klägerin darauf gestützt, dass ein Verfahrensmangel vorliege, auf dem die angefochtene Entscheidung beruhen
könne (§
160 Abs
2 Nr
3 Halbs 1
SGG), so müssen bei der Bezeichnung des Verfahrensmangels (§
160a Abs
2 S 3
SGG) zunächst die den Verfahrensmangel (vermeintlich) begründenden Tatsachen substantiiert dargetan werden. Gemäß §
160 Abs
2 Nr
3 Halbs 2
SGG kann der geltend gemachte Verfahrensmangel dabei auf eine Verletzung des §
103 SGG nur gestützt werden, wenn er sich auf einen Beweisantrag bezieht, dem das LSG ohne hinreichende Begründung nicht gefolgt
ist. Will die Beschwerde demnach einen Verstoß gegen die tatrichterliche Sachaufklärungspflicht rügen (§
103 SGG), so muss sie einen für das Revisionsgericht ohne Weiteres auffindbaren Beweisantrags bezeichnen, dem das LSG nicht gefolgt
ist.
Daran fehlt es hier. Der Hinweis der anwaltlich vertretenen Klägerin auf ihren im Verlaufe des Verfahrens mehrfach wiederholten
Antrag, den auf ihren Antrag nach §
109 SGG sowie den vom Gericht von Amts wegen gehörten Sachverständigen ergänzend zu befragen, genügt dafür nicht. Ein Beweisantrag
hat im sozialgerichtlichen Verfahren Warnfunktion und soll der Tatsacheninstanz unmittelbar vor der Entscheidung vor Augen
führen, dass die gerichtliche Aufklärungspflicht von einem Beteiligten noch nicht als erfüllt angesehen wird. Wird ein Beweisantrag
in einem vorbereitenden Schriftsatz gestellt, so ist er dann nicht iS des §
160 Abs
2 Nr
3 Halbs 2
SGG übergangen worden, wenn den näheren Umständen zu entnehmen ist, dass er in der maßgebenden mündlichen Verhandlung nicht weiter
verfolgt wurde. Dies ist bei rechtskundig vertretenen Beteiligten regelmäßig anzunehmen, wenn in der letzten mündlichen Verhandlung
nur noch ein Sachantrag gestellt und der Beweisantrag nicht wenigstens hilfsweise wiederholt wird (BSG SozR 3-1500 § 160 Nr 35 S 73 mwN). Einen solchen bis zuletzt aufrechterhaltenen Beweisantrag in der mündlichen Verhandlung hat die vor dem
LSG anwaltlich vertretene Klägerin nicht bezeichnet.
Sie kann die von §
160 Abs
2 Nr
3 Halbs 2
SGG aufgestellten Voraussetzungen für eine Rüge unzureichender Sachaufklärung auch nicht umgehen, indem sie sich auf das Willkürverbot
sowie den Grundsatz fairen Verfahrens beruft. Ohnehin ist für eine willkürliche oder überraschende Rechtsanwendung des LSG
nichts dargetan. Das LSG hat vielmehr im Einzelnen zumindest plausibel begründet, warum es dem Gutachten des auf Antrag der
Klägerin gehörten Sachverständigen nicht gefolgt ist, indem es auf die nach seiner Ansicht unzureichenden Befunde und fehlende
rechtliche Stimmigkeit des Gutachtens abgestellt hat. Eine solche Würdigung widerstreitender Sachverständigengutachten gehört
zur ureigensten Aufgabe der Tatsachengerichte. Das Gericht ist in der Würdigung der Sachverständigengutachten grundsätzlich
frei; es kann auch ohne Einholung eines weiteren Gutachtens von ihnen abweichen (BSG Beschluss vom 6.12.1989 - 2 BU 146/89 - Juris). Bei einander widersprechenden Gutachten ist das Gericht nicht stets verpflichtet, ein weiteres Gutachten einzuholen,
es sei denn, die Gutachten weisen schwere Mängel auf, sind in sich widersprüchlich, gehen von unzutreffenden Voraussetzungen
aus oder wecken Zweifel an der Sachkunde oder Sachlichkeit des Sachverständigen (vgl BSG Beschluss vom 16.2.2012 - B 9 V 17/11 B - Juris). Für solche tiefgreifenden Gutachtenmängel hat die Beschwerde nichts dargetan. Im Übrigen ist das Gericht bei widersprechenden
Gutachten lediglich gehalten, sich mit dem Gutachten, dem es nicht folgt, auseinander zu setzen (vgl BSG Beschluss vom 23.5.2006 - B 13 RJ 272/05 B - Juris RdNr 5). Das hat das LSG getan. Soweit die Klägerin es gleichwohl für juristisch nicht nachvollziehbar hält, auf
welcher medizinisch-sachverständigen Grundlage das LSG dem Gutachten des von Amts wegen gehörten Sachverständigen den Vorzug
gegenüber dem auf ihren Antrag gehörten Sachverständigen einräumt, wendet sie sich im Kern gegen die Beweiswürdigung des LSG,
die §
160 Abs
2 Nr
3 Halbs 2
SGG indes der Beurteilung durch das Revisionsgericht vollständig entzieht. Kraft der darin enthaltenen ausdrücklichen gesetzlichen
Anordnung kann die Beweiswürdigung des Berufungsgerichts mit der Nichtzulassungsbeschwerde weder unmittelbar noch mittelbar
angegriffen werden (Karmanski in Roos/Warendorf,
SGG, 2014, §
160 RdNr 58 mwN). Aus den genannten Gründen kann auch die inhaltliche Kritik der Klägerin, ihre häufige Bauchoperationen seien
vom erstinstanzlichen Sachverständigen nicht ausreichend gewürdigt worden, ihrer Nichtzulassungsbeschwerde nicht zum Erfolg
verhelfen.
Die Beschwerde ist somit ohne Zuziehung der ehrenamtlichen Richter zu verwerfen (§
160a Abs
4 S 1 Halbs 2, §
169 SGG).
Von einer weiteren Begründung sieht der Senat ab (vgl §
160a Abs
4 S 2 Halbs 2
SGG).
Die Kostenentscheidung beruht auf der entsprechenden Anwendung des §
193 Abs
1 SGG.