Örtliche Zuständigkeit im Grundsicherungsrecht
Zuständigkeitsproblem bei Aufenthaltsbeschränkungen für Ausländer auf bestimmtes Bundesland bzw. örtlich begrenzten Raum
Gründe:
Die Beschwerde der Antragstellerin gegen den Beschluss des Sozialgerichts Berlin vom 2. Juni 2014 ist gemäß §§
172 Abs.
1,
173 des
Sozialgerichtsgesetzes (
SGG) zulässig, aber unbegründet. Zu Recht hat das Sozialgericht den Antrag der Antragstellerin abgelehnt, den Antragsgegner vorläufig
im Wege der einstweiligen Anordnung zur Gewährung von laufenden Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) zu verpflichten.
Die Voraussetzungen für den Erlass einer einstweiligen Anordnung nach §
86 b Abs.
2 Satz 2
SGG liegen nicht vor. Danach kann das Gericht der Hauptsache auf Antrag eine einstweilige Anordnung zur Regelung eines vorläufigen
Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis treffen, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile
notwendig erscheint. Der Erlass einer einstweiligen Anordnung setzt somit voraus, dass ein materieller Anspruch besteht, für
den vorläufiger Rechtsschutz begehrt wird (Anordnungsanspruch), und dass der Erlass einer gerichtlichen Entscheidung besonders
eilbedürftig ist (Anordnungsgrund). Eilbedürftigkeit besteht, wenn dem Betroffenen ohne die Eilentscheidung eine erhebliche,
über Randbereiche hinausgehende Verletzung in seinen Rechten droht, die durch die Entscheidung in der Hauptsache nicht mehr
beseitigt werden kann (vgl. Bundesverwaltungsgericht, Beschluss vom 12. Mai 2005 - 1 BvR 569/05 juris Rd.-Nr. 23; Beschluss vom 16. Mai 1995 - 1 BvR 1087/91 juris Rd.-Nr. 28). Der geltend gemachte (Anordnungs-) Anspruch und die Eilbedürftigkeit sind glaubhaft zu machen (§
86 b Abs.
2 Satz 4
SGG in Verbindung mit §§
920 Abs.
2,
294 Abs.
1 Zivilprozessordnung -
ZPO). Für die Glaubhaftmachung genügt es, wenn die tatsächlichen Voraussetzungen von Anordnungsanspruch und Anordnungsgrund überwiegend
wahrscheinlich sind (vgl. BSG-Beschluss vom 8. August 2001 - B 9 V 23-01 B juris Rd.-Nr. 5).
Soweit die Antragstellerin mit ihrem am 13. Mai 2014 beim Sozialgericht Landshut eingegangenen Antrag Leistungen zur Sicherung
des Lebensunterhalts nach dem SGB II für einen zum Zeitpunkt der Entscheidung des Senats bereits abgelaufenen Zeitraum begehrt, fehlt es bereits an einem Anordnungsgrund,
weil sich aus dem Vorbringen der Antragstellerin keine Anhaltpunkte dafür ergeben, dass sie zur Vermeidung einer akuten Notlage
auch auf die Gewährung von Leistungen für einen vergangenen Zeitraum angewiesen ist.
Im Übrigen fehlt es an der Glaubhaftmachung eines Anordnungsanspruchs. Zu Recht hat der Antragsgegner die Ablehnung der Bewilligung
von Leistungen der Grundsicherung nach dem SGB II auf § 7 Abs. 4a SGB II in der bis zum 31. Dezember 2010 geltenden Fassung des Gesetzes vom 20. Juli 2006 (BGBl. I Seite 1706 - a. F. -) gestützt. Diese Vorschrift findet gemäß der Übergangsregelung des § 77 Abs. 1 SGB II bis zum Inkrafttreten einer nach § 13 Abs. 3 erlassenen Rechtsverordnung weiter Anwendung.
Die Antragstellerin ist zunächst gemäß § 7 Abs. 1 Satz 1 SGB II dem Grunde nach berechtigt, Leistungen nach dem SGB II zu erhalten, weil sie das 15. Lebensjahr vollendet und die Altersgrenze nach § 7a SGB II noch nicht erreicht hat, erwerbsfähig ist - eine Beschäftigung im Bundesgebiet ist ihr ausweislich der ihr erteilten Fiktionsbescheinigung
nach § 81 Abs. 5 des Aufenthaltsgesetzes (AufenthG) gestattet -, zudem hilfebedürftig ist und ihren gewöhnlichen Aufenthalt im Bundesgebiet hat. Die Ausschlussgründe des §
7 Abs. 1 Satz 2 SGB II greifen nicht, da ihr Aufenthalt gemäß der Fiktionsbescheinigung nach § 81 Abs. 3 AufenthG - generell und nicht nur zum Zweck der Arbeitsuche - als erlaubt gilt.
Der Antragsgegner ist auch nach § 36 Abs. 1 Satz 1 und Satz 2 SGB II für die von der Antragstellerin begehrten Leistungen örtlich zuständig, weil die Antragstellerin in dem Bezirk des Antragsgegners
ihren gewöhnlichen Aufenthalt hat. Gemäß §
30 Abs.
3 Satz 2 des
Ersten Buches Sozialgesetzbuch hat jemand den gewöhnlichen Aufenthalt dort, wo er sich unter Umständen aufhält, die erkennen lassen, dass er an diesem Ort
oder in diesem Gebiet nicht nur vorübergehend verweilt. Zwar hält sich die Antragstellerin jedenfalls seit März 2014 fortdauernd
in Berlin auf; von einem verfestigten und nicht nur vorübergehenden Aufenthalt kann aber angesichts der Umstände nicht gesprochen
werden. So verfügt die Antragstellerin in Berlin über keinen festen Wohnsitz. Eine schriftliche Kommunikation ist mit ihr
nur über den Verein Ae. V. möglich. Hinzu kommt, dass ihre Fiktionsbescheinigung auf der Grundlage des § 12 Abs. 2 Satz 2 AufenthG mit der Auflage der Wohnsitznahme im Landkreis Rottal-Inn verbunden ist. Ein Ausländer kann aber einen gewöhnlichen Aufenthalt
nur dort begründen, wo nach den Vorschriften des Ausländerrechts das nicht nur vorübergehende Verweilen zugelassen ist. Einen
gewöhnlichen Aufenthalt an einem anderen Ort kann er grundsätzlich nur dann begründen, wenn dies mit Billigung der Ausländerbehörde
geschieht (vgl. LSG Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 12. März 2013 - L 13 AS 51/13 B ER -, Beschluss vom 6. Juni 2013 L 13 AS 122/13 B ER). Soweit die Antragstellerin ihren eigenen Angaben zufolge auf eine Aufhebung der Auflage zur Wohnsitznahme mit dem
Ziel eines nicht nur vorübergehenden Aufenthaltes in Berlin hinwirkt (vgl. dazu u. a. OVG Lüneburg, Urteil vom 11. Dezember
2013 - 2 LC 222/13 - juris); bleibt folglich der Ausgang des Verfahrens abzuwarten.
Dem Anspruch auf Gewährung von Leistungen nach dem SGB II steht demnach § 7 Abs. 4a SGB II a. F. entgegen. Danach erhält keine Leistungen nach dem SGB II, wer sich ohne Zustimmung des persönlichen Ansprechpartners außerhalb des in der Erreichbarkeits-Anordnung (Anordnung des Verwaltungsrats der Bundesanstalt für Arbeit zur Pflicht des Arbeitslosen, Vorschlägen des Arbeitsamtes zur
beruflichen Eingliederung zeit- und ortsnah Folge leisten zu können - EAO -) definierten zeit- und ortsnahen Bereiches aufhält; die übrigen Bestimmungen dieser Anordnung geltend entsprechend. Nach
§ 1 Abs. 1 EAO kann Vorschlägen des Arbeitsamtes zur beruflichen Eingliederung zeit- und ortsnah Folge zu leisten, wer in der Lage ist Mitteilungen
des Arbeitsamtes persönlich zur Kenntnis zu nehmen, das Arbeitsamt aufzusuchen, mit einem möglichen Arbeitgeber oder Träger
einer beruflichen Eingliederungsmaßnahme in Verbindung zu treten und bei Bedarf persönlich mit diesem zusammenzutreffen und
eine vorgeschlagene Arbeit anzunehmen oder an einer beruflichen Eingliederungsmaßnahme teilzunehmen. Der Arbeitslose hat deshalb
sicherzustellen, dass das Arbeitsamt ihn persönlich an jedem Arbeitstag an seinem Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt unter
der von ihm benannten Anschrift (Wohnung) durch Briefpost erreichen kann. Gemäß § 2 EAO kann sich der Arbeitslose vorübergehend auch von seinem Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt entfernen, wenn
1. er dem Arbeitsamt rechtzeitig seine Anschrift für die Dauer der Abwesenheit mitgeteilt hat, 2. er auch an seinem vorübergehenden
Aufenthaltsort die Voraussetzungen des § 1 Abs. 1 EAO erfüllen kann und 3. er sich im Nahbereich des Arbeitsamtes aufhält. Zum Nahbereich gehören alle Orte in der Umgebung des
Arbeitsamtes, von denen aus der Arbeitslose erforderlichenfalls in der Lage wäre, das Arbeitsamt täglich ohne unzumutbaren
Aufwand zu erreichen.
Erfüllt der Arbeitslose die vorgenannten Voraussetzungen nicht, ist ein Aufenthalt außerhalb des Nahbereichs bis zu drei Wochen
pro Kalenderjahr zulässig, wenn der Grundsicherungsträger vorher seine Zustimmung erteilt hat (§ 3 Abs. 1 Satz 1 EAO). Will sich der Arbeitslose zusammenhängend länger als sechs Wochen außerhalb des zeit - und ortsnahem Bereiches aufhalten,
entfällt nach § 3 Abs. 4 EAO für diesen Zeitraum der Leistungsanspruch ganz (vgl. Spellbrink/G.Becker in Eicher, SGB II, 3. Auflage § 7 Rn 153.)
Vorliegend hält sich die Antragstellerin bereits seit Monaten ohne Zustimmung des Antragsgegners in Berlin auf. Dass sich
Berlin nicht im Nahbereich des für die Antragstellerin zuständigen JobCenters im Landkreis Rottal-Inn befindet, bedarf keiner
näheren Darlegung. Einen wichtigen Grund für die Ortsabwesenheit hat die Antragstellerin nicht glaubhaft gemacht. Dass die
Antragstellerin weiterhin reiseunfähig wäre, kann ihrem Vorbringen nicht entnommen werden; dafür ist auch sonst nichts ersichtlich.
Entsprechendes gilt für eine etwaige Arbeitsunfähigkeit der Antragstellerin wegen stattgehabter Schwangerschaftskomplikationen.
Ein ständiger Aufenthalt in Berlin erscheint schließlich auch nicht im Hinblick darauf geboten, dass hier ihr Partner und
Vater des voraussichtlich im September 2014 zur Welt kommenden Kindes lebt. Denn jedenfalls für eine Übergangzeit dürfte es
durchaus zumutbar sein, dass der Partner die Antragstellerin an ihrem derzeit noch im Landkreis Rottal-Inn bestehenden Wohnsitz
besucht. Die Kostenentscheidung beruht auf der entsprechenden Anwendung des §
193 SGG und folgt dem Ausgang des Verfahrens.
Dieser Beschluss ist nicht mit der Beschwerde an das Bundessozialgericht anfechtbar §
177 SGG).