Kein Anspruch auf Beschädigtenversorgung nach dem Opferentschädigungsgesetz bei ärztlichem Kunstfehler
Tatbestand:
Umstritten ist eine Beschädigtenversorgung nach dem Gesetz über die Entschädigung von Opfern von Gewalttaten (
Opferentschädigungsgesetz -
OEG).
Die am ... 1948 geborene Klägerin beantragte am 13. Mai 2011 (Eingang beim Beklagten am 16. Mai 2011), alle körperlichen Gesundheitsschäden
festzustellen und zu entschädigen, die ihr durch eine zahnärztliche Behandlung (Brückenversorgung) im Jahr 2001 entstanden
seien. Die Tathandlung sei die Pflichtverletzung der Krankenversicherung (KKH-A. H.) bei der Bearbeitung ihres Antrags auf
Versorgung mit dem Zahnersatz. Für die Bewilligung und Kostenübernahme habe es keinen Grund gegeben, weil die wirtschaftliche
und medizinische Notwendigkeit für die Brückenversorgung nicht geklärt gewesen sei. Insbesondere habe kein medizinisches Gutachten
vorgelegen. Auch die Zahnärztin Dr. L. habe eine Pflichtverletzung begangen, weil sie vor dem Einsatz der Brücke im rechten
Unterkiefer nicht beraten und über mögliche Risiken aufgeklärt habe, so dass sie keine Wahlmöglichkeit gehabt habe. Außerdem
beantragte die Klägerin die Feststellung und Entschädigung der Gesundheitsschäden, die ihr während einer Krankenhausbehandlung
im Klinikum M.-Q. durch die Verabreichung des Medikamentes Bayotensin am 2. Dezember 2004 entstanden seien. Durch die erzwungene
Einnahme hätten sich ihre vorbestehenden Beschwerden und Funktionsbeeinträchtigungen verschlimmert. Wegen dieser ärztlichen
Behandlungen erstattete die Klägerin keine Strafanzeigen.
Nach dem Befund der Fachärztin für Neurologie und Psychiatrie Dr. S. vom 12. April 2005 leidet die Klägerin an einer schweren
neurotischen Fehlentwicklung und nach dem Gutachten des Facharztes für Neurologie und Psychiatrie Dr. S. vom 20. September
2005 an einer chronifizierten wahnhaften Störung.
Mit Bescheid vom 21. Oktober 2011 lehnte der Beklagte den Antrag ab, weil die Tatbestandsmerkmale des §
1 Abs.
1 OEG, insbesondere die des Vorsatzes und des tätlichen Angriffs, nicht nachgewiesen seien. Aus den Schilderungen der Klägerin
im Antrag lasse sich nicht schließen, dass die damals behandelnde Zahnärztin sowie die behandelnden Klinikärzte vorsätzlich
einen feindseligen Angriff auf die Klägerin und ihre körperliche Unversehrtheit ausgeführt hätten.
Dagegen legte die Klägerin am 21. November 2011 Widerspruch und trug vor: Die Bewilligung der zahnärztlichen Leistung ohne
medizinisches Gutachten und ohne Aufklärung durch die Krankenkasse sei eine wissentliche Rechtsverletzung und eine, wenn nicht
sogar fahrlässige Entscheidung über einen Eingriff in die körperliche Unversehrtheit. Den Eingriff habe die Zahnärztin Dr.
L. lediglich ausgeführt. Ohne die Bewilligung und Befürwortung des Antrags durch die Krankenversicherung wäre es dazu nicht
gekommen. Als Körperschaft des öffentlichen Rechtes müsse die Krankenkasse dafür einstehen.
Mit Widerspruchsbescheid vom 3. Januar 2011 (richtig: 2012) wies der Beklagte den Widerspruch zurück und führte zur Begründung
aus: Es fehle an der Feindseligkeit der Behandlungsmaßnahmen. Es bestünden keine Anhaltspunkte dafür, dass die behandelnde
Zahnärztin und die Ärzte im Klinikum in feindseliger Absicht gehandelt hätten und sie willentlich in ihrer Gesundheit hätten
schädigen wollen. Allein eine fahrlässige Handlungsweise erfülle nicht den Tatbestand eines vorsätzlichen, rechtswidrigen
tätlichen Angriffs.
Dagegen hat die Klägerin am 19. Januar 2012 Klage beim Sozialgericht (SG) Halle erhoben und zur Unterstützung ihres Vortrags zahlreiche medizinische Behandlungsunterlagen vorgelegt. Außerdem bezieht
sie sich auf das Urteil des Bundessozialgerichts (BSG) vom 29. April 2010 im Verfahren B 9 VG 1/09 R.
Mit Urteil vom 10. Juli 2013 hat das SG die Klage abgewiesen und zur Begründung ausgeführt: Ein ärztlicher Angriff sei nur dann als vorsätzlicher, tätlicher rechtswidriger
Angriff im Sinne des §
1 Abs.
1 OEG anzusehen, wenn dieser als vorsätzliche Körperverletzung strafbar ist (BSG, Urteil vom 29. April 2010 - B 9 VG 1/09 R). Außerdem sei auch nicht jeder ärztliche Eingriff, der eine strafbare vorsätzliche Körperverletzung sei, zugleich ein "vorsätzlicher,
rechtswidriger tätlicher Angriff". Dieser setze eine in feindseliger Willensrichtung unmittelbar auf den Körper eines anderen
zielende gewaltsame Einwirkung voraus. Bei ärztlichen Eingriffen sei der Heilauftrag im Sinne des § 1 Abs. 1 Bundesärzteordnung zu berücksichtigen. Ärztliche Eingriffe würden demnach grundsätzlich in der Absicht durchgeführt, zu heilen, nicht aber in
feindlicher Willensrichtung, um unmittelbar auf die körperliche Unversehrtheit des Patienten einzuwirken. Es könne Fallgestaltungen
geben, in denen ein vorsätzlicher Aufklärungsmangel zu einer strafbaren vorsätzlichen Körperverletzung geführt habe. Dennoch
sei es auch dann wegen vorhandener Heilungsabsicht nicht gerechtfertigt, den ärztlichen Eingriff als eine gezielte gewaltsame
Angriffshandlung im Sinne des §
1 Abs.
1 OEG zu bewerten. Unter Berücksichtigung des Schutzzwecks des
OEG werde ein Patient erst dann zum Gewaltopfer, wenn der Eingriff aus Sicht eines verständigen Dritten in keiner Weise dem Wohl
des Patienten diene. Ärztliche Kunstfehler, die auf sorgfaltswidrigen Verstößen gegen die ärztliche Kunst beruhten und lediglich
eine Strafbarkeit wegen fahrlässiger Körperverletzung begründen könnten, seien für sich genommen keine Gewalttaten im Sinne
von §
1 OEG. Selbst wenn der Sachvortrag zu Gunsten der Klägerin als zutreffend unterstellt werde, sei nicht erkennbar, dass das Vorgehen
der behandelnden Ärzte und der Mitarbeiter der Krankenkasse aus objektiver Sicht nicht dem Wohl der Klägerin zu dienen bestimmt
gewesen sei. Es lägen keine konkreten Anhaltspunkte dafür vor, dass sich die Ärzte bei der Vornahme der Eingriffe in rücksichtsloser
und krimineller Weise in feindseliger Willensrichtung im Wesentlichen von eigenen finanziellen Interessen haben leiten lassen
und die gesundheitlichen Belange der Klägerin missachtet hätten. Die von der Klägerin gerügte unzureichende Aufklärung und
die Versorgung ohne vorherige Erstellung eines medizinischen Gutachtens begründeten, den Vortrag der Klägerin als zutreffend
unterstellt, als solche noch keinen vorsätzlichen rechtswidrigen tätlichen Angriff im Sinne des §
1 Abs.
1 Satz 1
OEG. Das ärztliche Handeln sei vom Heilauftrag geprägt gewesen und es gebe keinen Hinweis dafür, dass es nicht in Heilungsabsicht
erfolgt sei. Auf die Frage, ob vorliegend ein ärztlicher Kunstfehler aufgetreten sei, komme es damit nicht an.
Gegen das ihr am 20. November 2013 zugestellte Urteil hat die Klägerin am 16. Dezember 2013 Berufung beim Landessozialgericht
(LSG) Sachsen-Anhalt eingelegt und vorgetragen: Es gehe ihr nicht um vorsätzliche oder böswillige Handlungen. Es gehe um einen
misslungenen, nicht ihrem Wohle dienenden Eingriff in ihre körperliche Unversehrtheit. Dieser sei ohne gesicherten zahnmedizinischen
Befund, der die Notwendigkeit des Eingriffs und die Passgenauigkeit des Zahnersatzes hätte bestätigen können, von den Mitarbeitern
der Krankenkasse rechtswidrig bewilligt und bezahlt worden. Damit seien die Entschädigungsleistungen für den entstandenen
körperlichen Gesundheitsschaden dem
OEG zuzuordnen bzw. gleichzusetzen. Die Krankenkasse sei verpflichtet, vor Bewilligung und Bezahlung einer Leistung die medizinische
Notwendigkeit zu klären. Die Mitarbeiter der Krankenkasse seien medizinische Laien und nicht befugt, über die Notwendigkeit
einer medizinischen Leistung zu entscheiden. Hier hätten diese eine gegen das geltende Recht gerichtete Handlung vorgenommen.
Das Urteil des SG habe nicht berücksichtigt, dass kein medizinischer Befund vorhanden gewesen sei. Ein Heilauftrag bzw. eine Heilungsabsicht
bleibe ohne medizinisch begründete Befunde wirkungslos, weil nur Vermutungen ohne ärztliche Aufklärung der Notwendigkeit nicht
ausreichten, um medizinische Leistungen zu Lasten der Krankenkasse zu erhalten. Ihre schweren Gesundheitsschäden habe das
SG nicht gewürdigt.
Die Klägerin beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Halle vom 10. Juli 2013 sowie den Bescheid des Beklagten vom 21. Oktober 2011 in der Gestalt
des Widerspruchsbescheids vom 3. Januar 2012 aufzuheben und den Beklagten zu verurteilen, ihr eine Beschädigtenrente nach
einem Grad der Schädigung von mindestens 25 v. H. ab 16. Mai 2011 zu zahlen.
Der Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Er verweist auf die aus seiner Sicht zutreffenden Entscheidungsgründe des erstinstanzlichen Urteils.
Hinsichtlich des weiteren Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichtsakte und die Verwaltungsakte des Beklagten, die Gegenstand
der mündlichen Verhandlung und Entscheidungsfindung gewesen sind, Bezug genommen.
Entscheidungsgründe:
Die zulässige Berufung ist unbegründet.
Der Bescheid des Beklagten vom 21. Oktober 2011 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 3. Januar 2012 ist nicht rechtswidrig
und verletzt die Klägerin nicht in ihren Rechten. Diese hat keinen Anspruch auf Beschädigtenversorgung nach §
1 Abs.
1 Satz 1
OEG i. V. m. dem Bundesversorgungsgesetz (BVG) wegen der Folgen des zahnärztlichen Eingriffs und der stationären Krankenhausbehandlung.
Nach §
1 Abs.
1 Satz 1
OEG erhält eine natürliche Person, die im Geltungsbereich des
OEG durch einen vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriff eine gesundheitliche Schädigung erlitten hat, wegen der gesundheitlichen
und wirtschaftlichen Folgen auf Antrag Versorgung in entsprechender Anwendung der Vorschriften des BVG. Der Tatbestand des §
1 Abs.
1 Satz 1
OEG besteht aus drei Gliedern (tätlicher Angriff, Schädigung und Schädigungsfolgen) die durch einen Ursachenzusammenhang miteinander
verbunden sind. Als tätlicher Angriff ist grundsätzlich eine in feindseliger Willensrichtung unmittelbar auf den Körper eines
anderen zielende gewaltsame Einwirkung anzusehen, wobei die Angriffshandlung in aller Regel den Tatbestand einer jedenfalls
versuchten, vorsätzlichen Straftat gegen das Leben oder die körperliche Unversehrtheit erfüllt. In den Fällen eines ärztlichen
Eingriffs hat das BSG im Urteil vom 29. April 2010 (B 9 VG 1/09 R, juris) seine bisherige Rechtsprechung weiterentwickelt und ausführlich dargelegt, in welchen Fällen Versorgungsleistungen
nach dem
OEG in Betracht kommen. Im erstinstanzlichen Urteil wurde diese Rechtsprechung ausführlich dargelegt und unter Berücksichtigung
dieser dargestellt, weshalb bei der Klägerin diese Voraussetzungen nicht vorliegen. Auf die zutreffenden Ausführungen wird
zur Vermeidung von Wiederholungen verwiesen.
Ergänzend ist Folgendes auszuführen: Beweismittel, die den Nachweis eines vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriffs
zur vollen richterlichen Überzeugung des Senates erbringen könnten, hat die nach ärztlicher Feststellung unter wahnhaften
Störungen leidende Klägerin auch im Berufungsverfahren nicht angeführt. Dies betrifft sowohl die zahnärztliche als auch die
krankenhausärztliche Behandlung. Ärztliche Kunstfehler sind für sich genommen keine Gewalttaten im Sinne des §
1 OEG (BSG, Urteil vom 29. April 2010, aaO., Rn. 42, 44, juris). Genau eine solche Haftung für vermeintliche Kunstfehler begehrt aber
die Klägerin, die mit ihren zahn- und krankenhausärztlichen Behandlungen nicht zufrieden ist. Das von ihr vorgetragene Argument,
dass sie beim Wissen um den (aus ihrer Sicht) Misserfolg der Behandlungen nicht in diese eingewilligt hätte, kann letztlich
bei jedem Kunstfehlerprozess angeführt werden. Zu einer Gewalttat im Sinne des
OEG wird das ärztliche- bzw. zahnärztliche Verhalten dadurch aber nicht. Denn auch im Berufungsverfahren wird von der Klägerin
der Heilauftrag der Zahnärztin und der behandelnden Ärzte im Krankenhaus nicht in Abrede gestellt. Damit unterscheidet sich
der hier vorliegende Sachverhalt grundlegend von dem, den das BSG in seinem Urteil vom 29. April 2010 zu entscheiden hatte. Der zu einer mehrjährigen Freiheitsstrafe verurteilte Arzt hatte
weder in objektiver noch in subjektiver Heilungstendenz die ärztlichen Eingriffe vorgenommen, sondern sich von finanziellen
Motiven leiten lassen. Die Annahme der Klägerin, dass beide Sachverhalte gleich zu entscheiden seien, geht daher fehl.
Sofern die Klägerin schließlich meint, durch die Bewilligung und Kostenübernahme der Behandlungen liege eine Pflichtverletzung
vor, für die die Krankenkasse als Körperschaft des öffentlichen Rechtes einstehen müsse, steht dem Anspruch nach §
1 Abs.
1 OEG schon entgegen, dass von den Mitarbeitern der Krankenkasse kein tätlicher Angriff vorgenommen wurde. Die aus der Sicht der
Klägerin unterlassene Prüfung der Notwendigkeit der Zahnbehandlung ist nicht als unmittelbare Gewaltanwendung anzusehen (dazu
BSG, Urteil vom 16. Dezember 2014, B 9 V 1/13 R, juris).
Die Kostenentscheidung beruht auf §
193 SGG.
Gründe für die Zulassung der Revision liegen nicht vor, §
160 Abs.
2 SGG.