Leistungen nach dem SGB II
Verfahrensrüge im Nichtzulassungsbeschwerdeverfahren
Übergehen eines Antrags auf Bewilligung einer Reiseentschädigung
Gründe
I
Der Kläger wendet sich mit fünf verschiedenen Beschwerden gegen mehrere Urteile des LSG vom selben Tage. In diesem Verfahren
begehrt er Leistungen nach dem SGB II für die Zeit vom 1.2.2015 bis 31.1.2016. Umstritten ist seine Hilfebedürftigkeit. Das LSG hat - ohne förmliche Verbindung
- in dem vorliegend angegriffenen Urteil über zwei weitere, insgesamt also über drei Berufungen in einem einzigen Urteil entschieden
(Urteil vom 27.2.2020 in den Verfahren L 5 AS 139/16, L 5 AS 757/18 und L 5 AS 710/18).
Gegenstand aller fünf Verfahren waren Gerichtsbescheide des SG. Das LSG hat die Berufungsverfahren jeweils dem Senatsvorsitzenden als Berichterstatter nach §
153 Abs
5 SGG übertragen. Der Senatsvorsitzende hat in allen fünf Verfahren Termin zur mündlichen Verhandlung bestimmt auf den 27.2.2020,
13.30 Uhr, die Beteiligten geladen und das persönliche Erscheinen des unvertretenen Klägers ausdrücklich nicht angeordnet
(Ladung vom 27.1.2020). Der Kläger hat daraufhin geltend gemacht: "Antrag auf Reisekosten und Anordnung persönlicher Teilnahme, erforderlich zu
der Sachaufklärung Art 103 gg beachtlich und erforderlich. …" (Fax vom 30.1.2020). Nach Hinweis des Senatsvorsitzenden, dass das persönliche Erscheinen zur Aufklärung des Sachverhalts nicht erforderlich
sei, hat der Kläger sein Begehren zweifach ohne Erfolg wiederholt und mit einem am Terminstag um 11.16 Uhr eingegangenen Schreiben
einen Befangenheitsantrag gegen den Vorsitzenden gestellt, verbunden mit einem Antrag auf Terminsaufhebung.
Der Senat hat nach Einholung einer dienstlichen Äußerung in der Besetzung mit drei Berufsrichtern, also ohne den Vorsitzenden
und ohne ehrenamtliche Richter, in der Zeit von 13.50 Uhr bis 13.55 Uhr - gemäß der Niederschrift in öffentlicher Sitzung
in Abwesenheit der nicht erschienenen Beteiligten - beschlossen und verkündet, dass das Ablehnungsgesuch des Klägers unbegründet
ist. Um 13.56 Uhr ist der LSG-Senat in der Besetzung mit dem Vorsitzenden und zwei ehrenamtlichen Richtern in die mündliche
Verhandlung der fünf Berufungen eingetreten und hat diese jeweils durch Urteil zurückgewiesen, ohne die Revision zuzulassen.
Der Beschluss über das Ablehnungsgesuch ist dem Kläger mit Begründung, dienstlicher Äußerung und Niederschrift am 5.3.2020
übersandt worden, ebenso die Urteile und die Niederschrift zur Verhandlung der Berufungen.
Mit seiner Nichtzulassungsbeschwerde rügt der Kläger als Verfahrensmangel eine Verletzung seines Anspruchs auf rechtliches
Gehör wegen fehlender Entscheidung seiner Anträge auf Übernahme von Reisekosten zur mündlichen Verhandlung. Darüber hinaus
beanstandet er das Übergehen des Antrags auf Verlegung des Termins und die Übertragung des Rechtsstreits auf den kleinen Senat
ohne vorherige Anhörung.
II
Die zulässige Beschwerde des Klägers führt zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und zur Zurückverweisung der Sache an das
LSG. Das LSG-Urteil beruht auf einem Verfahrensfehler (Revisionszulassungsgrund des §
160 Abs
2 Nr
3 SGG), den der Kläger entsprechend den Anforderungen des §
160a Abs
2 Satz 3
SGG hinreichend bezeichnet.
Nach §
160 Abs
2 Nr
3 SGG ist die Revision dann zuzulassen, wenn ein Verfahrensmangel geltend gemacht wird, auf dem die angefochtene Entscheidung beruhen
kann; der geltend gemachte Verfahrensmangel kann nicht auf eine Verletzung der §§
109 und
128 Abs
1 Satz 1
SGG und auf eine Verletzung des §
103 SGG nur gestützt werden, wenn er sich auf einen Beweisantrag bezieht, dem das LSG ohne hinreichende Begründung nicht gefolgt
ist. Ein Verfahrensmangel liegt hier vor, denn das Urteil des LSG ist unter Verletzung des Anspruchs des Klägers auf rechtliches
Gehör (§
62 SGG, Art
103 Abs
1 GG, Art 47 Abs 2 Satz 1 Charta der Grundrechte der Europäischen Union, Art 6 Abs 1 Europäische Menschenrechtskonvention <EMRK>) ergangen. Das LSG hat es versäumt, vorab über den "Antrag auf Reisekosten", den der Kläger rechtzeitig gestellt und an dem
er festgehalten hat, nach Maßgabe der Anordnung des Ministeriums für Justiz und Gleichstellung des Landes Sachsen-Anhalt vom
17.1.2014 über die Gewährung von Reiseentschädigungen (JMbl LSA 2014, 27) zu entscheiden. Diese Ausführungsverordnung sieht vor, dass mittellosen Beteiligten auf Antrag Mittel für die Reise zum Ort
einer Verhandlung gewährt werden können.
Das Übergehen eines Antrags auf Bewilligung einer Reiseentschädigung zur - anders nicht möglichen - Teilnahme an der mündlichen
Verhandlung bei einem mittellosen und nicht rechtskundig vertretenen Kläger stellt eine Versagung rechtlichen Gehörs dar.
Nach §
124 Abs
1 SGG entscheidet das Gericht - soweit nichts anderes bestimmt ist - aufgrund mündlicher Verhandlung. Der Mündlichkeitsgrundsatz
gewährt den Beteiligten grundsätzlich das Recht, zur mündlichen Verhandlung zu erscheinen und mit ihren Ausführungen gehört
zu werden. Diese dient dem Zweck, dem Anspruch der Beteiligten auf rechtliches Gehör zu genügen und mit ihnen den Streitstoff
erschöpfend zu erörtern (vgl zum Ganzen BSG vom 11.2.2015 - B 13 R 329/13 B - juris RdNr 11; BSG vom 19.12.2017 - B 1 KR 38/17 B - juris RdNr 6, jeweils mwN).
Vorliegend hat der Kläger mehrfach und ausdrücklich geltend gemacht, dass er an der mündlichen Verhandlung teilnehmen möchte
und zudem ausdrücklich Reisekosten beantragt. Damit hat er sinngemäß zugleich dargelegt, nicht über ausreichende eigene Mittel
zu verfügen, um eine Teilnahme sicherzustellen (vgl zu den Darlegungsanforderungen in diesem Punkt BSG vom 29.1.2019 - B 5 R 286/18 B - juris RdNr 11 f). Seine Mittellosigkeit ist schon deshalb nicht fernliegend, weil seine Hilfebedürftigkeit Gegenstand des geführten Rechtsstreits
ist. Indem das LSG über den Antrag auf Reiseentschädigung nicht zeitnah vor dem Termin entschieden, sondern lediglich erläutert
hat, warum es die Anordnung des persönlichen Erscheinens für entbehrlich hält, hat es den Anspruch des Klägers auf rechtliches
Gehör verletzt.
Die Entscheidung des LSG kann auch auf diesem Verfahrensfehler beruhen. Grundsätzlich bedarf es keines vertieften Vortrags
zum "Beruhen" der angegriffenen Entscheidung auf dem Verfahrensfehler, wenn ein Beschwerdeführer behauptet, um sein Recht
auf eine mündliche Verhandlung gebracht worden zu sein; wegen der besonderen Wertigkeit der mündlichen Verhandlung als Kernstück
des sozialgerichtlichen Verfahrens genügt es, dass eine andere Entscheidung nicht auszuschließen ist, wenn der Betroffene
Gelegenheit gehabt hätte, in der mündlichen Verhandlung vorzutragen (vgl nur BSG vom 19.12.2017 - B 1 KR 38/17 B - juris RdNr 8 mwN). Vorliegend ist jedenfalls nicht auszuschließen, dass das LSG zu einem anderen Ergebnis gekommen wäre, wenn der Kläger Gelegenheit
gehabt hätte, sich in einer mündlichen Verhandlung zu den rechtlichen und tatsächlichen Aspekten des Rechtsstreits zu äußern.
Dies gilt in besonderem Maße, da eine mündliche Verhandlung in der ersten Instanz nicht stattgefunden hat (vgl BSG vom 9.4.2019 - B 1 KR 81/18 B - juris RdNr 7 unter Hinweis auf Art 6 Abs 1 EMRK) und außerdem vom LSG sogar über das Ablehnungsgesuch des Klägers mündlich verhandelt worden ist.
Vor diesem Hintergrund bedarf es keiner Erörterung, ob die weiteren vom Kläger bezeichneten Verfahrensmängel ebenfalls vorgelegen
haben und die Entscheidung des LSG auch hierauf beruhen kann.
Gemäß §
160a Abs
5 SGG kann das BSG in dem Beschluss über die Nichtzulassungsbeschwerde die angefochtene Entscheidung aufheben und die Sache zur erneuten Verhandlung
und Entscheidung an das LSG zurückverweisen, wenn die Voraussetzungen des §
160 Abs
2 Nr
3 SGG - wie hier - vorliegen. Zur Vermeidung weiterer Verfahrensverzögerungen macht der Senat von dieser Möglichkeit Gebrauch.
Die Entscheidung über die Kosten des Beschwerdeverfahrens bleibt dem LSG vorbehalten.