Begründung der Nichtzulassungsbeschwerde im sozialgerichtlichen Verfahren; Verletzung des Grundrechts auf den gesetzlichen
Richter
Gründe:
I
Die Klägerin ist Liquidatorin und war Geschäftsführerin der Fachklinik B. GmbH, die eine onkologische Fachklinik in O. betrieb
(im Folgenden "Fachklinik"). Die Fachklinik behandelte den bei der beklagten Ersatzkasse Versicherten G. S. (im Folgenden:
Versicherter) vom 28.5.1999 bis zu seinem Tod am 28.6.1999. Sie verfügte über keine Zulassung zur Behandlung von in der gesetzlichen
Krankenversicherung Versicherten. Die Eröffnung des Insolvenzverfahrens über ihr Vermögen wurde mangels Masse abgelehnt, die
Auflösung der GmbH am 16.6.2003 in das Handelsregister eingetragen. Die GmbH befindet sich seitdem im Stadium der Liquidation.
Die Fachklinik stellte der Beklagten im Jahr 2000 vergeblich für die Behandlung des Versicherten 7.132,52 Euro (13.950 DM)
in Rechnung. Das Amtsgericht N. (AG) verurteilte die Klägerin, der hiesigen Beklagten 4.733,31 Euro Schadensersatz wegen der
Nichtabführung von Gesamtsozialversicherungsbeiträgen nebst Zinsen zu zahlen (Urteil vom 8.6.2006 - 1 C 232/04 [70]). Auf die Berufung der Klägerin änderte das Landgericht Gießen das AG-Urteil im Zins und wies die Berufung im Übrigen
zurück (Urteil vom 13.12.2006 - 1 S 244/06). Die von der Klägerin beim AG N. erhobene Widerklage auf Zahlung von 7.132,52 Euro nebst Zinsen hat dieses abgetrennt und
an das Sozialgericht Gießen (SG) verwiesen. Nach der Erhebung der Einrede der Verjährung hat die Klägerin die Zahlungsklage auf eine Feststellungsklage umgestellt.
Klage und Berufung der Klägerin sind ohne Erfolg geblieben (Gerichtsbescheid des SG vom 13.11.2007; Urteil des Landessozialgerichts [LSG] vom 12.2.2009). Zur Begründung hat das LSG ua ausgeführt, die Klage
sei unzulässig. Soweit der Zulässigkeit der Klage nicht bereits die Subsidiarität der Feststellungsklage entgegenstehe, habe
die Klägerin kein berechtigtes Interesse an der alsbaldigen Feststellung eines Rechtsverhältnisses gerade gegenüber der Beklagten.
Mit ihrer Beschwerde wendet sich die Klägerin gegen die Nichtzulassung der Revision im LSG-Urteil und beruft sich auf Verfahrensfehler.
II
1. Die Beschwerde der Klägerin gegen die Nichtzulassung der Revision im LSG-Urteil vom 12.2.2009 ist zulässig. Die Klägerin
hat sie fristgerecht erhoben und den Verstoß gegen das Gebot des gesetzlichen Richters gemäß Art
101 Abs
1 Satz 2
GG hinreichend bezeichnet (§
160a Abs 2 Satz 3 iVm §
160 Abs
2 Nr
3 SGG).
2. Die Beschwerde ist auch begründet. Der gerügte Verfahrensfehler - ein absoluter Revisionsgrund - liegt vor. Das LSG war
in der mündlichen Verhandlung vom 12.2.2009 nicht vorschriftsmäßig besetzt (§
547 Nr 1
ZPO iVm §
202 SGG). An dem auf diese Verhandlung ergangenen Urteil hat eine Richterin mitgewirkt, die die Klägerin zwar zuvor erfolglos abgelehnt
hatte, deren Mitwirkung aber gleichwohl das Recht auf den gesetzlichen Richter verletzt hat. Die Zurückweisung des diese Richterin
betreffenden Ablehnungsgesuchs hat Bedeutung und Tragweite der Verfassungsgarantie des Art
101 Abs
1 Satz 2
GG grundlegend verkannt (vgl hierzu zB BVerfGE 82, 286, 298; Bundesverfassungsgericht [BVerfG] NVwZ 2005, 1304, 1307 f; BVerfG, Beschluss vom 26.5.2009 - 1 BvR 1057-1062/09, mwN).
a) Zwar ist das Revisionsgericht im Hinblick auf §
557 Abs
2 ZPO (iVm §
202 SGG) an Entscheidungen gebunden, die dem Endurteil des LSG vorausgegangen sind, sofern sie unanfechtbar sind. Dies gilt grundsätzlich
auch für Entscheidungen der Vorinstanz, die ein Ablehnungsgesuch unter fehlerhafter Anwendung einfachen Rechts zurückgewiesen
haben (§§
60,
177 SGG; vgl hierzu entsprechend BVerfGE 31, 151, 164; Bundessozialgericht [BSG] SozR 4-1100 Art 101 Nr 3 RdNr 5 mwN). Das Revisionsgericht ist nur in engen Ausnahmen wegen
eines fortwirkenden Verstoßes gegen das Gebot des gesetzlichen Richters iS des Art
101 Abs
1 Satz 2
GG an die Zurückweisung von Ablehnungsgesuchen, die dem Endurteil des LSG vorausgegangen sind, nicht gebunden, wenn die zuvor
erfolglos abgelehnten Richter an der Endentscheidung des LSG mitgewirkt haben. Die Bindung des Revisionsgerichts fehlt, wenn
die Zurückweisung des Ablehnungsgesuchs - was hier ausscheidet - auf willkürlichen manipulativen Erwägungen beruht, die für
die Fehlerhaftigkeit des als Mangel gerügten Vorgangs bestimmend gewesen sind (vgl BSG SozR 4-1500 § 160a Nr 1 RdNr 9 mwN),
oder wenn die Zurückweisung des Ablehnungsgesuchs jedenfalls darauf hindeutet, dass das Gericht Bedeutung und Tragweite der
Verfassungsgarantie des Art
101 Abs
1 Satz 2
GG grundlegend verkannt hat (vgl BSG SozR 4-1100 Art
101 Nr 3 RdNr 5 mwN). Letzteres liegt hier vor.
b) Ein fortwirkender Verstoß gegen das Gebot des gesetzlichen Richters und zugleich eine "Entziehung" des gesetzlichen Richters
durch ein Gericht ist hier dem LSG im angefochtenen Urteil unterlaufen. Die abgelehnte Richterin D. hat nämlich vor der Verkündung
des Urteils am 12.2.2009 an dem von ihr in der öffentlichen Sitzung verkündeten Beschluss mitgewirkt, der das gegen sie gerichtete
Befangenheitsgesuch als unzulässig verworfen hat, da das Befangenheitsgesuch "nicht substantiiert begründet" worden sei. Der
verkündete Beschluss bezieht sich nach Würdigung aller Umstände auch auf das vorliegende Verfahren. Die Ausführungen des LSG
in diesem Beschluss beruhen auf grob fehlerhaften Erwägungen und deuten darauf hin, dass das LSG die Tragweite der Verfassungsgarantie
des Art
101 Abs
1 Satz 2
GG grundlegend verkannt hat. Art
101 Abs
1 Satz 2
GG lässt nämlich lediglich in dem Fall eines unzulässigen oder missbräuchlich angebrachten Ablehnungsgesuchs eine Selbstentscheidung
des abgelehnten Richters über das Gesuch zu.
Art
101 Abs
1 Satz 2
GG hat nach der gefestigten Rechtsprechung des BVerfG einen materiellen Gewährleistungsgehalt. Die Verfassungsnorm garantiert,
dass der Rechtsuchende im Einzelfall vor einem Richter steht, der unabhängig und unparteilich ist und der die Gewähr für Neutralität
und Distanz gegenüber den Verfahrensbeteiligten bietet (vgl BVerfGE 10, 200, 213 f; 21, 139, 145 f; 30, 149, 153; 40, 268, 271; 82, 286, 298; 89, 28, 36). Die verfassungsrechtlich gebotene (vgl BVerfGK
5, 269 ff = NJW 2005, 3410 ff) Unparteilichkeit des Gerichts wird ua durch das Recht der Beteiligten gesichert, Gerichtspersonen wegen Besorgnis der
Befangenheit abzulehnen (§
60 Abs
1 SGG iVm §§
42 ff
ZPO). Ein Ablehnungsantrag hat grundsätzlich zur Folge, dass die abgelehnten Richter nur unaufschiebbare Prozesshandlungen vor
Erledigung des Ablehnungsgesuchs vornehmen dürfen (§
60 Abs
1 SGG, §
47 ZPO). Bei dem kollegial besetzten LSG ist über den Ablehnungsantrag grundsätzlich ohne den abgelehnten Richter von dem zuständigen
Senat mit dem nach der Geschäftsverteilung berufenen Vertreter zu entscheiden. Dies gilt jedoch nicht, wenn lediglich über
die Zulässigkeit des Ablehnungsantrags zu befinden ist (vgl BSG, Beschluss vom 16.2.2001 - B 11 AL 19/01 B -, juris RdNr 6).
Diese Vorschriften dienen dem durch Art
101 Abs
1 Satz 2
GG verbürgten Ziel, auch im Einzelfall die Neutralität und Distanz der zur Entscheidung berufenen Richter zu sichern. Die Zuständigkeitsregelung
trägt dem Umstand Rechnung, dass es nach der Natur der Sache an der völligen inneren Unbefangenheit und Unparteilichkeit eines
Richters fehlen wird, wenn er über die vorgetragenen Gründe für seine eigene angebliche Befangenheit selbst entscheiden müsste.
Wie im Zivil- und Strafprozess ist auch im sozialgerichtlichen Verfahren anerkannt, dass abweichend von dem aufgezeigten Grundsatz
der Spruchkörper ausnahmsweise in alter Besetzung unter Mitwirkung des abgelehnten Richters über unzulässige Ablehnungsgesuche
in bestimmten Fallgruppen entscheidet.
Hierzu hat das BVerfG entschieden, dass bei strenger Beachtung der Voraussetzungen des Vorliegens eines gänzlich untauglichen
oder rechtsmissbräuchlichen Ablehnungsgesuchs eine Selbstentscheidung mit der Verfassungsgarantie des Art
101 Abs
1 Satz 2
GG nicht in Konflikt gerät, weil die Prüfung keine Beurteilung des eigenen Verhaltens des abgelehnten Richters voraussetzt und
deshalb keine Entscheidung in eigener Sache ist (vgl BVerfGK 5, 269, 281 f = NJW 2005, 3410, 3412). Nach seiner Rechtsprechung ist aber eine enge Auslegung der Voraussetzungen geboten. Ein vereinfachtes Ablehnungsverfahren
soll nur echte Formalentscheidungen ermöglichen oder einen offensichtlichen Missbrauch des Ablehnungsrechts verhindern. Eine
völlige Ungeeignetheit eines Ablehnungsgesuchs in diesem Sinne ist anzunehmen, wenn für eine Verwerfung als unzulässig jedes
Eingehen auf den Gegenstand des Verfahrens entbehrlich ist. Ist hingegen eine - wenn auch nur geringfügige - Befassung mit
dem Verfahrensgegenstand erforderlich, scheidet eine Ablehnung als unzulässig aus. Eine gleichwohl erfolgende Ablehnung ist
dann willkürlich. Über eine bloß formale Prüfung hinaus darf sich der abgelehnte Richter nicht durch Mitwirkung an einer näheren
inhaltlichen Prüfung der Ablehnungsgründe zum Richter in eigener Sache machen. Diese Voraussetzungen für eine Selbstentscheidung
des abgelehnten Richters über den ihn betreffenden Befangenheitsantrag sind verfassungsrechtlich durch Art
101 Abs
1 Satz 2
GG vorgegeben (vgl BVerfG, Beschluss vom 20.7.2007 - 1 BvR 2228/06 -, juris RdNr 20 ff mwN = NJW 2007, 3771 ff). Das LSG hat sie verkannt.
Die abgelehnte Richterin hat über das gegen sie gerichtete Befangenheitsgesuch mit zwei anderen Richterinnen entschieden,
weil sie es lediglich nicht für "substantiiert begründet" hielt. Damit wird das Selbstentscheidungsrecht auf Fälle der mangelnden
Begründetheit eines Ablehnungsgesuchs ausgedehnt. Um einen sonst vorliegenden Verstoß gegen Art
101 Abs
1 Satz 2
GG zu vermeiden, darf ein derart vereinfachtes Ablehnungsverfahren demgegenüber nicht einmal auf Situationen "offensichtlicher
Unbegründetheit" des Ablehnungsgesuchs erstreckt werden (vgl BVerfGK 5, 269 = NJW 2005, 3410, juris RdNr 55 mwN).
3. Der hier vorliegende absolute Revisionsgrund der nicht vorschriftsmäßigen Besetzung des erkennenden Gerichts (§
547 Nr 1
ZPO iVm §
202 SGG) führt in einem Revisionsverfahren - nach der entsprechenden Rüge - zur Aufhebung und Zurückverweisung, weil unwiderlegbar
feststeht, dass die angefochtene Entscheidung auf diesem Verfahrensmangel beruht. §
170 Abs
1 Satz 2
SGG ist dagegen grundsätzlich nicht anwendbar, wenn ein absoluter Revisionsgrund vorliegt. Deshalb dürfte der Senat die zuzulassende
Revision selbst dann nicht zurückweisen, wenn die LSG-Entscheidung sich aus anderen Gründen als richtig darstellen sollte
(vgl näher BSG SozR 4-1100 Art 101 Nr 1 RdNr 13 mwN).
4. Nach §
160a Abs
5 SGG kann das BSG in dem Beschluss über die Nichtzulassungsbeschwerde das angefochtene Urteil aufheben und die Sache zur erneuten
Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückverweisen, wenn die Voraussetzungen des §
160a Abs
2 Nr
3 SGG vorliegen, was - wie ausgeführt - hier der Fall ist. Der Senat macht von dieser Möglichkeit Gebrauch. Die Verweisung an einen
anderen Senat des LSG gemäß §
563 ZPO iVm §
202 SGG ist dagegen nicht im Interesse einer unbefangenen Rechtsfindung zur Vermeidung eines - möglichen - Anscheins der Voreingenommenheit
geboten.
5. Die Entscheidung über die Kosten des Beschwerdeverfahrens bleibt der Entscheidung des LSG vorbehalten.