Zulässigkeit eines Ablehnungsgesuchs im sozialgerichtlichen Verfahren; Bindung des Revisionsgerichts an die Zurückweisung
von Ablehnungsgesuchen
Gründe:
I
Die klagende Fachklinik B. GmbH war eine onkologische Fachklinik in O. (im Folgenden "Fachklinik"), die über keine Zulassung
zur Behandlung von in der gesetzlichen Krankenversicherung Versicherten verfügte. Sie behandelte die bei der beklagten Ersatzkasse
Versicherte A. (im Folgenden: Versicherte) vom 14.6.1999 bis zum 2.7.1999 sowie vom 5.12.2000 bis zum 8.12.2000. Die Eröffnung
des Insolvenzverfahrens über ihr Vermögen wurde mangels Masse abgelehnt, ihre Auflösung am 16.6.2003 in das Handelsregister
eingetragen. Sie befindet sich seitdem im Stadium der Liquidation.
Die Klägerin stellte der Beklagten für die Behandlungen der Versicherten in den Jahren 1999 und 2000 vergeblich eine Vergütung
von 4.019,77 Euro (7.862 DM) bzw 690,25 Euro (1.350 DM) in Rechnung. Ihre Klage, die nach der Erhebung der Einrede der Verjährung
bezogen auf die Vergütung für die Behandlung im Jahr 1999 von einer Zahlungs- auf eine Feststellungsklage umgestellt worden
ist, und ihre Berufung sind ohne Erfolg geblieben (Urteil des Sozialgerichts vom 6.12.2006; Beschluss des Landessozialgerichts
[LSG] vom 27.5.2009). Zur Begründung hat das LSG ua ausgeführt: Die Feststellungsklage sei unzulässig. Soweit der Zulässigkeit
der Klage nicht bereits die Subsidiarität der Feststellungsklage entgegenstehe, habe die Klägerin kein berechtigtes Interesse
an der alsbaldigen Feststellung eines Rechtsverhältnisses gegenüber der Beklagten. Die auf die Vergütung der Behandlung im
Jahr 2000 gerichtete Leistungsklage sei unbegründet, weil eine Notfallbehandlung iS des §
76 Abs
1 Satz 2
SGB V nicht vorgelegen habe.
Mit ihrer Beschwerde wendet sich die Klägerin gegen die Nichtzulassung der Revision im LSG-Beschluss und beruft sich auf die
grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache, Divergenz und Verfahrensfehler.
II
1. Die Beschwerde der Klägerin gegen die Nichtzulassung der Revision in dem nach §
153 Abs
4 SGG ergangenen LSG-Beschluss vom 27.5.2009 ist zulässig. Die Klägerin hat sie fristgerecht erhoben und den Verstoß gegen das
Gebot des gesetzlichen Richters gemäß Art
101 Abs
1 Satz 2
GG hinreichend bezeichnet (§
160a Abs 2 Satz 3 iVm §
160 Abs
2 Nr
3 SGG).
2. Die Beschwerde ist auch begründet. Der gerügte Verfahrensfehler - ein absoluter Revisionsgrund - liegt vor. Das LSG war
bei seinem Beschluss vom 27.5.2009 nicht vorschriftsmäßig besetzt (§
547 Nr 1
ZPO iVm §
202 SGG). An diesem Beschluss hat eine Richterin mitgewirkt, die die Klägerin zwar zuvor erfolglos abgelehnt hatte, deren Mitwirkung
aber gleichwohl das Recht auf den gesetzlichen Richter verletzt hat. Die Zurückweisung des diese Richterin betreffenden Ablehnungsgesuchs
hat Bedeutung und Tragweite der Verfassungsgarantie des Art
101 Abs
1 Satz 2
GG grundlegend verkannt (vgl hierzu zB BVerfGE 82, 286, 298; Bundesverfassungsgericht [BVerfG] NVwZ 2005, 1304, 1307 f; BVerfG, Beschlüsse vom 26.5.2009 - 1 BvR 1057-1062/09, mwN).
a) Zwar ist das Revisionsgericht im Hinblick auf §
557 Abs
2 ZPO (iVm §
202 SGG) an Entscheidungen gebunden, die dem Endurteil des LSG - hier: dem Instanz beendenden Beschluss - vorausgegangen sind, sofern
sie unanfechtbar sind. Dies gilt grundsätzlich auch für Entscheidungen der Vorinstanz, die ein Ablehnungsgesuch unter fehlerhafter
Anwendung einfachen Rechts zurückgewiesen haben (§§
60,
177 SGG; vgl hierzu entsprechend BVerfGE 31, 151, 164; Bundessozialgericht [BSG] SozR 4-1100 Art 101 Nr 3 RdNr 5 mwN). Das Revisionsgericht ist nur in engen Ausnahmen wegen
eines fortwirkenden Verstoßes gegen das Gebot des gesetzlichen Richters iS des Art
101 Abs
1 Satz 2
GG an die Zurückweisung von Ablehnungsgesuchen, die der Endentscheidung des LSG vorausgegangen sind, nicht gebunden, wenn die
zuvor erfolglos abgelehnten Richter an der Endentscheidung des LSG mitgewirkt haben. Die Bindung des Revisionsgerichts fehlt,
wenn die Zurückweisung des Ablehnungsgesuchs - was hier ausscheidet - auf willkürlichen manipulativen Erwägungen beruht, die
für die Fehlerhaftigkeit des als Mangel gerügten Vorgangs bestimmend gewesen sind (vgl BSG SozR 4-1500 § 160a Nr 1 RdNr 9
mwN), oder wenn die Zurückweisung des Ablehnungsgesuchs jedenfalls darauf hindeutet, dass das Gericht Bedeutung und Tragweite
der Verfassungsgarantie des Art
101 Abs
1 Satz 2
GG grundlegend verkannt hat (vgl BSG SozR 4-1100 Art
101 Nr 3 RdNr 5 mwN). Letzteres liegt hier vor.
b) Ein fortwirkender Verstoß gegen das Gebot des gesetzlichen Richters und zugleich eine "Entziehung" des gesetzlichen Richters
durch ein Gericht ist hier dem LSG im angefochtenen, die Berufung zurückweisenden Beschluss vom 27.5.2009 unterlaufen. Die
abgelehnte Richterin D. hat nämlich zuvor an dem Beschluss vom 8.4.2009 (L 1 SF 94/09) mitgewirkt, der ua das gegen sie gerichtete Befangenheitsgesuch als unzulässig verworfen hat, da das Befangenheitsgesuch
"nicht substantiiert begründet" worden sei. Die Ausführungen des LSG in diesem Beschluss beruhen auf grob fehlerhaften Erwägungen
und deuten darauf hin, dass das LSG die Tragweite der Verfassungsgarantie des Art
101 Abs
1 Satz 2
GG grundlegend verkannt hat. Art
101 Abs
1 Satz 2
GG lässt nämlich lediglich in dem Fall eines unzulässigen oder missbräuchlich angebrachten Ablehnungsgesuchs eine Selbstentscheidung
des abgelehnten Richters über das Gesuch zu.
Art
101 Abs
1 Satz 2
GG hat nach der gefestigten Rechtsprechung des BVerfG einen materiellen Gewährleistungsgehalt. Die Verfassungsnorm garantiert,
dass der Rechtsuchende im Einzelfall vor einem Richter steht, der unabhängig und unparteilich ist und der die Gewähr für Neutralität
und Distanz gegenüber den Verfahrensbeteiligten bietet (vgl BVerfGE 10, 200, 213 f; 21, 139, 145 f; 30, 149, 153; 40, 268, 271; 82, 286, 298; 89, 28, 36). Die verfassungsrechtlich gebotene (vgl BVerfGK
5, 269 ff = NJW 2005, 3410 ff) Unparteilichkeit des Gerichts wird ua durch das Recht der Beteiligten gesichert, Gerichtspersonen wegen Besorgnis der
Befangenheit abzulehnen (§
60 Abs
1 SGG iVm §§
42 ff
ZPO). Ein Ablehnungsantrag hat grundsätzlich zur Folge, dass die abgelehnten Richter nur unaufschiebbare Prozesshandlungen vor
Erledigung des Ablehnungsgesuchs vornehmen dürfen (§
60 Abs
1 SGG, §
47 ZPO). Bei dem kollegial besetzten LSG ist über den Ablehnungsantrag grundsätzlich ohne den abgelehnten Richter von dem zuständigen
Senat mit dem nach der Geschäftsverteilung berufenen Vertreter zu entscheiden. Dies gilt jedoch nicht, wenn lediglich über
die Zulässigkeit des Ablehnungsantrags zu befinden ist (vgl BSG, Beschluss vom 16.2.2001 - B 11 AL 19/01 B -, juris RdNr 6).
Diese Vorschriften dienen dem durch Art
101 Abs
1 Satz 2
GG verbürgten Ziel, auch im Einzelfall die Neutralität und Distanz der zur Entscheidung berufenen Richter zu sichern. Die Zuständigkeitsregelung
trägt dem Umstand Rechnung, dass es nach der Natur der Sache an der völligen inneren Unbefangenheit und Unparteilichkeit eines
Richters fehlen wird, wenn er über die vorgetragenen Gründe für seine eigene angebliche Befangenheit selbst entscheiden müsste.
Wie im Zivil- und Strafprozess ist auch im sozialgerichtlichen Verfahren anerkannt, dass abweichend von dem aufgezeigten Grundsatz
der Spruchkörper ausnahmsweise in alter Besetzung unter Mitwirkung des abgelehnten Richters über unzulässige Ablehnungsgesuche
in bestimmten Fallgruppen entscheidet.
Hierzu hat das BVerfG entschieden, dass bei strenger Beachtung der Voraussetzungen des Vorliegens eines gänzlich untauglichen
oder rechtsmissbräuchlichen Ablehnungsgesuchs eine Selbstentscheidung mit der Verfassungsgarantie des Art
101 Abs
1 Satz 2
GG nicht in Konflikt gerät, weil die Prüfung keine Beurteilung des eigenen Verhaltens des abgelehnten Richters voraussetzt und
deshalb keine Entscheidung in eigener Sache ist (vgl BVerfGK 5, 269, 281 f = NJW 2005, 3410, 3412). Nach seiner Rechtsprechung ist aber eine enge Auslegung der Voraussetzungen geboten. Ein vereinfachtes Ablehnungsverfahren
soll nur echte Formalentscheidungen ermöglichen oder einen offensichtlichen Missbrauch des Ablehnungsrechts verhindern. Eine
völlige Ungeeignetheit eines Ablehnungsgesuchs in diesem Sinne ist anzunehmen, wenn für eine Verwerfung als unzulässig jedes
Eingehen auf den Gegenstand des Verfahrens entbehrlich ist. Ist hingegen eine - wenn auch nur geringfügige - Befassung mit
dem Verfahrensgegenstand erforderlich, scheidet eine Ablehnung als unzulässig aus. Eine gleichwohl erfolgende Ablehnung ist
dann willkürlich. Über eine bloß formale Prüfung hinaus darf sich der abgelehnte Richter nicht durch Mitwirkung an einer näheren
inhaltlichen Prüfung der Ablehnungsgründe zum Richter in eigener Sache machen. Diese Voraussetzungen für eine Selbstentscheidung
des abgelehnten Richters über den ihn betreffenden Befangenheitsantrag sind verfassungsrechtlich durch Art
101 Abs
1 Satz 2
GG vorgegeben (vgl BVerfG, Beschluss vom 20.7.2007 - 1 BvR 2228/06 -, juris RdNr 20 ff mwN = NJW 2007, 3771 ff). Das LSG hat sie verkannt.
Die abgelehnte Richterin hat über das gegen sie gerichtete Befangenheitsgesuch mit zwei anderen Richterinnen entschieden,
weil sie es lediglich nicht für "substantiiert begründet" hielt. Damit wird das Selbstentscheidungsrecht auf Fälle der mangelnden
Begründetheit eines Ablehnungsgesuchs ausgedehnt. Um einen sonst vorliegenden Verstoß gegen Art
101 Abs
1 Satz 2
GG zu vermeiden, darf ein derart vereinfachtes Ablehnungsverfahren demgegenüber nicht einmal auf Situationen "offensichtlicher
Unbegründetheit" des Ablehnungsgesuchs erstreckt werden (vgl BVerfGK 5, 269 = NJW 2005, 3410, juris RdNr 55 mwN).
3. Der hier vorliegende absolute Revisionsgrund der nicht vorschriftsmäßigen Besetzung des erkennenden Gerichts (§
547 Nr 1
ZPO iVm §
202 SGG) führt in einem Revisionsverfahren - nach der entsprechenden Rüge - zur Aufhebung und Zurückverweisung, weil unwiderlegbar
feststeht, dass die angefochtene Entscheidung auf diesem Verfahrensmangel beruht. §
170 Abs
1 Satz 2
SGG ist dagegen grundsätzlich nicht anwendbar, wenn ein absoluter Revisionsgrund vorliegt. Deshalb dürfte der Senat die zuzulassende
Revision selbst dann nicht zurückweisen, wenn die LSG-Entscheidung sich aus anderen Gründen als richtig darstellen sollte
(vgl näher BSG SozR 4-1100 Art 101 Nr 1 RdNr 13 mwN).
4. Nach §
160a Abs
5 SGG kann das BSG in dem Beschluss über die Nichtzulassungsbeschwerde die angefochtene Entscheidung aufheben und die Sache zur
erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückverweisen, wenn die Voraussetzungen des §
160a Abs
2 Nr
3 SGG vorliegen, was - wie ausgeführt - hier der Fall ist. Der Senat macht von dieser Möglichkeit Gebrauch. Die Verweisung an einen
anderen Senat des LSG gemäß §
563 ZPO iVm §
202 SGG ist dagegen nicht im Interesse einer unbefangenen Rechtsfindung zur Vermeidung eines - möglichen - Anscheins der Voreingenommenheit
geboten.
5. Die Entscheidung über die Kosten des Beschwerdeverfahrens bleibt der Entscheidung des LSG vorbehalten.