Rückwirkende Befreiung einer Rechtsanwältin von der Rentenversicherungspflicht
Tatbestand
Die Beteiligten streiten um die rückwirkende Befreiung der Klägerin von der Rentenversicherungspflicht.
Die Klägerin war seit dem 17. April 2008 als Rechtsanwältin zugelassen und Mitglied in der Bayerischen Versorgungskammer,
ab 13. Juli 2009 im Versorgungswerk der Rechtsanwälte in Baden-Württemberg. Mit Bescheid der Beklagten vom 31. Juli 2008 wurde
sie ab dem 17. April 2008 von der Versicherungspflicht in der gesetzlichen Rentenversicherung befreit. Die Befreiung erfolgte
aufgrund ihrer Tätigkeit als angestellte Rechtsanwältin bei D. Ab dem 1. Februar 2011 arbeitete die Klägerin als Legal C.
im Bereich Administration bei der Firma S. GmbH. Die Tätigkeit war zunächst befristet bis zum 31. Januar 2013. Mit Schreiben
vom 9. März 2011 teilte die Beklagte mit, dass sich die Befreiung vom 31. Juli 2008 auf diese Tätigkeit erstrecke.
Nachdem das Arbeitsverhältnis in ein unbefristetes Arbeitsverhältnis umgewandelt wurde, beantragte die Klägerin bei der Beklagten
am 4. Februar 2013 erneut die Befreiung von der Versicherungspflicht in der gesetzlichen Rentenversicherung. Mit Bescheid
vom 4. Juli 2013 lehnte die Beklagte die Befreiung ab, da es sich bei der Tätigkeit der Klägerin um keine berufsspezifische
(anwaltliche) Tätigkeit handele. Gegen diesen Bescheid legte die Klägerin am 2. August 2013 Widerspruch ein. Das Widerspruchsverfahren
wurde aufgrund eines zu dieser Frage beim Bundessozialgericht (BSG) anhängigen Verfahrens zum Ruhen gebracht.
Am 18. März 2016 beantragte die Klägerin bei der Beklagten aufgrund der mittlerweile eingetretenen Rechtsänderung die rückwirkende
Befreiung von der Rentenversicherungspflicht und die Erstattung zu Unrecht gezahlter Beiträge. Mit Bescheid vom 14. September
2016 ließ die Rechtsanwaltskammer Freiburg die Klägerin als Syndikusrechtsanwältin für ihre Tätigkeit bei der Firma S. GmbH
zu. Die Klägerin hat die Urkunde am 23. September 2016 erhalten. Mit Bescheid vom 15. November 2016 wurde die Klägerin daraufhin
ab dem 23. September 2016 von der Versicherungspflicht in der gesetzlichen Rentenversicherung befreit. Mit Bescheid vom 3.
März 2017 befreite die Beklagte die Klägerin rückwirkend vom 1. April 2014 bis zum 22. September 2016 für ihre Tätigkeit bei
der Firma S. GmbH von der Rentenversicherungspflicht. Mit weiterem Bescheid vom 3. März 2017 lehnte die Beklagte die rückwirkende
Befreiung von der Rentenversicherungspflicht und Erstattung zu Unrecht gezahlter Beiträge für die Zeit vom 1. Februar 2013
bis 31. März 2014 ab. Die Klägerin habe keine einkommensbezogenen Pflichtbeiträge an ein berufsständisches Versorgungswerk
gezahlt.
Am 28. März 2017 erhob die Klägerin hiergegen Widerspruch. Sie habe Mindestbeiträge i.H.v. 30 % des Regelpflichtbeitrages
geleistet. Dabei handele es sich auch um einkommensbezogene Pflichtbeiträge im Sinne des §
231 Abs.
4b SGB VI. Mit Widerspruchsbescheid vom 27. Juli 2017 wurde der Widerspruch zurückgewiesen. Mindestbeiträge, die keinen unmittelbaren
Bezug zum Einkommen hätten, sondern sich pauschal auf Grundlage des Höchstbetrages zur gesetzlichen Rentenversicherung ermittelten
Regelbetrages ergeben, seien keine einkommensbezogenen Pflichtbeiträge.
Daraufhin hat die Klägerin am 3. August 2017 Klage zum Sozialgericht Freiburg (SG) erhoben. Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) habe in seiner Entscheidung vom 19. Juli 2016 (1 BvR 2584/14, juris) überzeugend die Rechtsauffassung vertreten, dass es sich bei den Mindestbeiträgen um einkommensbezogene Pflichtbeiträge
handele. Die Beklagte hat vorgetragen, dass es sich bei den Beschlüssen des BVerfG nicht um materiell-rechtliche Entscheidungen
gehandelt habe. §
231 Abs.
4b S. 4
SGB VI knüpfe an den Wortlaut des §
6 Abs.
1 Satz 1 Nr.
1 SGB VI an, welcher ebenfalls die Zahlung einkommensbezogener Pflichtbeiträge erfordere. Dazu zählten unbestritten nicht Mindestbeiträge,
die keinen unmittelbaren Bezug zum Einkommen hätten. Die Rechtfertigung für die Befreiung von der Versicherungspflicht sei
die Vermeidung doppelter Beitragspflichten. Dies setze jedoch voraus, dass die an die Stelle der gesetzlichen Rentenversicherung
tretende anderweitige Absicherung der Absicherung in der gesetzlichen Rentenversicherung gleichwertig sei, was bei einer Zahlung
von Mindestbeiträgen nicht gewährleistet wäre. Das SG hat mit Urteil vom 14. November 2017 den Bescheid vom 3. März 2017 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 27. Juli
2017 aufgehoben und die Beklagte verpflichtet, die Klägerin ab dem 1. Februar 2013 von der Versicherungspflicht in der gesetzlichen
Rentenversicherung zu befreien und die zu Unrecht gezahlten Pflichtbeiträge für die Zeit vom 1. Februar 2013 bis 31. März
2014 zu erstatten. Die Befreiung wirke auch für Zeiten vor dem 1. April 2014, hier ab dem 1. Februar 2013, da die von der
Klägerin gezahlten Mindestbeiträge einkommensbezogene Pflichtbeiträge im Sinne des §
231 Abs.
4b Satz 4
SGB VI darstellten. Dies habe auch das BVerfG ausgeführt (BVerfG, Beschluss vom 19. Juli 2016,1 BvR 2584/14, juris Rdnr. 16).
Gegen das der Beklagten am 27. November 2017 zugestellte Urteil hat sie am 20. Dezember 2017 Berufung eingelegt. Sie hat ihre
Auffassung aufrecht erhalten und ihre Begründung vertieft.
Die Beklagte beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Freiburg vom 14. November 2017 aufzuheben und die Klage abzuweisen, hilfsweise die Revision
zuzulassen.
Die Klägerin beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Die Klägerin trägt vor, sie sei Pflichtmitglied des Versorgungswerks der Rechtsanwälte in Baden-Württemberg gewesen und aufgrund
dieser Mitgliedschaft und ihrer vorübergehend eingetretenen Versicherungspflicht in der gesetzlichen Rentenversicherung verpflichtet
gewesen, so genannte besondere Beiträge zu leisten, die eine feste, aus dem Durchschnittseinkommen im Gebiet der alten Bundesländer
nach den Regeln über die Bestimmung der Beitragsbemessungsgrenze zur Rentenversicherung bemessene Höhe haben, nämlich unveränderlich
eine Höhe von drei Zehntel des Regelpflichtbeitrags. Diese Beiträge seien einkommensbezogene Beiträge im Sinne des §
231 Abs.
4 Buchst. b S. 4
SGB VI, was das BVerfG entschieden habe. Nur deshalb sei die Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung angenommen worden. Sie
sei auch nicht befugt gewesen, diese Beiträge aufzustocken, was sich aus § 14 Abs. 3 Buchst. e der Satzung des Versorgungswerkes
ergebe.
Im Termin zur Erörterung des Sachverhalts am 25. Juli 2018 haben die Beteiligten einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung
zugestimmt. Wegen §§ 13, 14 der Satzung des Versorgungswerkes der Rechtsanwälte in Baden-Württemberg in der Fassung vom 1.
September 2012 wird auf die Anlage zum Protokoll verwiesen. Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts wird auf die
Verwaltungsakten der Beklagten sowie auf die Gerichtsakten beider Rechtszüge ergänzend Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
Der Senat konnte mit Zustimmung der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung entscheiden (§
124 Abs.
2 SGG).
Die zulässige Berufung der Beklagten ist unbegründet. Das SG hat der Klage zu Recht stattgegeben, da der angefochtene Bescheid vom 3. März 2013 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides
vom 27. Juli 2017 rechtswidrig ist.
Das SG hat die Rechtsgrundlagen für die rückwirkende Befreiung von der Versicherungspflicht der gesetzlichen Rentenversicherung
für die Tätigkeit der Klägerin als Syndikusrechtsanwältin bei der Firma S. GmbH zutreffend dargelegt und festgestellt, dass
diese Voraussetzungen vorliegen, da u.a. für diese Zeiten einkommensbezogene Pflichtbeiträge an ein berufsständisches Versorgungswerk
im Sinne des §
231 Abs.
4b Satz 4
SGB VI gezahlt worden sind. Der Senat verweist auf das angefochtene Urteil und sieht von einer Darstellung der Entscheidungsgründe
gemäß §
153 Abs.
2 SGG ab. Das BVerfG hat in seinem Nichtannahmebeschluss vom 19. Juli 2016,1 BvR 2584/14, juris, Rdnr. 16, unter Hinweis auf zahlreiche Literatur überzeugend dargelegt, dass auch die nach § 13 Abs. 1 der Satzung
des Versorgungswerks der Rechtsanwälte in Baden-Württemberg in der Fassung vom 1. September 2009 vorgesehenen Mindestbeiträge
i.H.v. 30 % des Regelpflichtbeitrages - entspricht auch der Fassung ab 1. September 2012 bzw. 1. März 2014 - einkommensbezogene
Pflichtbeiträge im Sinne von §
231 Abs.
4b SGB VI sind (s. aber auch BVerfG, Nichtannahmebeschluss vom 22. Juli 2016, 1 BvR 2543/14, juris; so auch Hauck/Haines, §
231 SGB VI Rdnr. 44, Keck/Michaelis, §
231 SGB VI Anm. 13.; Kreikebohm, 5. Auflage, §
231 SGB VI Rdnr. 14; SG Berlin, Urteil vom 11. Januar 2017, S 11 R 645/16 WA, juris). Da die Klägerin auch keine zusätzlichen Beiträge zahlen konnte (vgl. § 14 Abs. 3 der Satzung in der ab 1. September
2012 bzw. 1. März 2014 geltenden Fassung),0, hielte der Senat eine andere Auslegung des §
231 Abs.
4b Satz 4
SGB VI für zweckverfehlend. Das BVerfG hat in seinem Nichtannahmebeschluss vom 22. Juli 2016, 1 BvR 2534/14, juris, insbesondere darauf hingewiesen, dass der Gesetzgeber - mit Ausnahme der hier nicht einschlägigen Ausnahme einer
eingetretenen Bestandskraft - einen umfassenden Vertrauens- und Bestandschutz einräumen wollte. Die von der Beklagten befürchtete
nicht vollwertige Absicherung kann durch einen Ausgleich nach §
286f Satz 1
SGB VI abgewendet werden (s. BVerfG, a.a.o.).
Die Kostenentscheidung beruht auf §
193 SGG. Im Rahmen des den Gerichten danach eingeräumten Ermessens sind alle Umstände des Einzelfalles zu berücksichtigen, insbesondere
die Sach- und Rechtslage bzw. der Ausgang des Verfahrens (s. Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, Kommentar zum
SGG, 11. Auflage, §
193 Rdnr. 12 ff.). Hiernach war für den Senat maßgeblich, dass die Klägerin mit der Rechtsverfolgung Erfolg hat und die Beklagte
Anlass zur Klageerhebung gegeben hat. Der Senat hält es im Falle einer Zurückweisung des Rechtsmittels nach dem Grundsatz
der Einheitlichkeit der Kostenentscheidung für erforderlich, nicht nur über die Kosten des Rechtsmittelverfahrens zu entscheiden,
sondern auch über die Kosten der vorausgehenden Instanz (so Lüdtke/Berchtold, Kommentar zum
SGG, 5. Aufl., §
193 Rdnr. 8; ausführlich erkennender Senat, Urteil vom 19. November 2013, L 13 R 1662/12, veröffentlicht in Juris; a.A. Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, a.a.O., §
193 Rdnr. 2a; Hintz/Lowe, Kommentar zum
SGG, §
193 Rdnr. 11; Jansen, Kommentar zum
SGG, 4. Auflage, §
193 Rdnr. 4).
Der Senat sieht in Anbetracht der Entscheidungen des BVerfG keinen Grund, die Revision wegen einer grundsätzlichen Bedeutung
(§
160 Abs.
2 Nr.
1 SGG) zuzulassen, zumal es sich um Übergangsrecht handelt. Die von der Beklagten vorgelegten Entscheidungen von Sozialgerichten,
die einen Mindestbeitrag nicht ausreichen lassen, können nicht zur Zulassung der Revision im Sinne einer Divergenz führen,
da es sich nicht um Gerichte handelt, die in §
160 Abs.
2 Nr.
2 SGG aufgeführt sind ...