Anforderungen an die Zuerkennung des Nachteilsausgleichs "B" - Berechtigung für eine ständige Begleitung - nach dem SGB IX
Tatbestand
Die Beteiligten streiten um die Zuerkennung (behördliche Feststellung) der gesundheitlichen Voraussetzungen des Nachteilsausgleichs
(Merkzeichens) "B" (Berechtigung für eine ständige Begleitung).
Die 1966 geborene Klägerin deutscher Staatsangehörigkeit wohnt im Inland. Sie ist in zweiter Ehe verheiratet und hat zwei
erwachsene Kinder. Bei ihr besteht eine angeborene beiderseitige Taubheit mit einer Sprachentwicklungsstörung. Sie besuchte
die Gehörlosenabteilung der Staatlichen Schule für Gehörlose und Schwerhörige in S. und erwarb den Hauptschulabschluss. Seit
Herbst 2012 arbeitet die gelernte Bauzeichnerin in Teilzeit 5,5 Stunden pro Woche im Qualitätsmanagement auf einem Arbeitsplatz,
zu dem sie 15 km mit Bus/Bahn unterwegs ist.
Aufgrund der angeborenen beiderseitigen Taubheit mit Sprachentwicklungsstörung stellte das damalige Versorgungsamt F. bei
ihr mit Bescheid vom 11. Juli 1977 einen GdB (vormals Minderung der Erwerbsfähigkeit) von 100 sowie die Merkzeichen "G" (erhebliche
Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr) und "H" (Hilflosigkeit) fest. Mit Verfügung vom 13. August 1979
erkannte es zudem das Merkzeichen "B" zu und mit Verfügung vom 2. Februar 1983 das Merkzeichen "RF" (Befreiung von der Rundfunkgebührenpflicht),
während das Merkzeichen "H" ab dann wieder entfiel. Mit Bescheid vom 19. Januar 1984 entzog das damalige Versorgungsamt F.
das Merkzeichen "G" und mit Verfügung vom 21. Oktober 1985 entfiel auch das Merkzeichen "B" wieder. Mit Bescheid vom 6. Dezember
2001 erkannte das damalige Versorgungsamt F. der Klägerin das ab 1. Juli 2001 eingeführte Merkzeichen "Gl" (Gehörlosigkeit)
zu. Mithin sind bei der Klägerin gegenwärtig ein GdB von 100 sowie die Merkzeichen "Gl" und "RF" festgestellt.
Am 17. Juli 2014 beantragte die Klägerin die Zuerkennung des Merkzeichens "B". Sie führte aus, dass ihr Mann oder eines ihrer
Familienmitglieder sie ständig zu wichtigen Terminen begleite. Eine Verständigung mit Ärzten und Amtspersonal sei durch ihre
Gehörlosigkeit und verminderten Wortschatz erheblich erschwert. Eine Berechtigung für eine Begleitperson sei ihr dabei eine
sehr große Hilfe. Da sie kein Auto besitze, lege sie ihre Wege mit öffentlichen Verkehrsmitteln zurück. Eine volle Verständigung
bei Verkehrsproblemen sei nicht möglich. Durchsagen an Lautsprechern könne sie nicht hören. Befragungen beim Personal gestalteten
sich äußerst schwierig und hätten sehr oft Missverständnisse zur Folge.
Für den versorgungsärztlichen Dienst wertete Dr. K. den eingereichten Entlassungsbericht der Fachklinik B. vom 26. Juni 2012
über eine stationäre Rehabilitationsmaßnahme wegen der Asthmaerkrankung der Klägerin vom 29. Mai 2012 bis zum 19. Juni 2012
aus, wonach bei entsprechender Indikation die Wiederholung der stationären Behandlung empfohlen und in diesem Fall eine Begleitperson
zur Verständigung angeraten werde. Während der Maßnahme habe die Klägerin regelmäßig an der medizinischen Asthmaschulung und
an einem Vortrag teilgenommen sowie zusätzlich das Angebot zur individuellen Ernährungsberatung in einem Einzelgespräch wahrgenommen.
Im von der Hausärztin Dr. B. beigezogenen Befundbericht vom 31. Juli 2014 teilte diese mit, dass die Klägerin auch allein
in die Praxis komme, in der Regel allerdings in Begleitung ihres Ehemannes. Nachdem Dr. K. zu dem Ergebnis gelangte, dass
öffentliche Verkehrsmittel ohne regelmäßige Hilfe benutzt werden könnten, lehnte das Landratsamt B. den Antrag mit Bescheid
vom 17. September 2014 ab.
Dagegen erhob die Klägerin Widerspruch, den sie damit begründete, dass sie aufgrund ihrer Gehörlosigkeit, einhergehend mit
einem deutlich verminderten Wortschatz, große Verständigungsprobleme habe. Lautsprecherdurchsagen und Hinweise könne sie nicht
verstehen. Bei Unklarheiten (Verkehrsprobleme, Verspätung und andere irreguläre Situationen) habe sie keine Möglichkeit, sich
entsprechend zu verständigen. Dies gelinge nur mit großer Mühe möglich und häufig komme es dabei zu Missverständnissen. Nachdem
Dr. F. für den versorgungsärztlichen Dienst ausführte, dass eine Abhilfe nicht möglich sei, da die Klägerin nach den Angaben
im Entlassungsbericht vom 26. Juni 2012 in der Lage gewesen sei, die Instruktionen bei der Rehabilitation zu verstehen und
an Vorträgen teilzunehmen, wies das Regierungspräsidium S. den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 4. Februar 2015 zurück.
Trotz ihrer Behinderung sei die Klägerin in der Lage, öffentliche Verkehrsmittel überwiegend ohne Hilfe beim Ein- und Aussteigen
oder während der Fahrt des Verkehrsmittels zu benutzen. Insbesondere der vermehrte Einsatz von dynamischen Schriftbandanzeigern
in den Bahnhöfen, an den Haltepunkten und an den Straßenbahnhaltestellen sowie von Laufbandanzeigen in den Zügen, Straßenbahnen
und Bussen stellten für Gehörlose eine sichtbare Hilfe dar. So könnten Verspätungen und sonstige Abweichungsinformationen
für Gehörlose vermittelt werden. Die Zuerkennung des Merkzeichens "B" lasse sich daher nicht begründen.
Hiergegen hat die Klägerin am 3. März 2015 Klage beim Sozialgericht F. (SG) erhoben. Sie hat ihr Vorbringen aus dem Widerspruchsverfahren wiederholt und ergänzt, dass dynamische Schriftenbandanzeiger
nicht flächendeckend eingeführt seien und nicht vorhersehbar sei, ob und in welchem Umfang diese tatsächlich eingesetzt würden
bzw. technisch funktionierten. Hinzu komme eine zunehmende Nervosität und Unsicherheit bei irregulären Situationen, die sich
noch verstärkend auf ihre ohnehin schon stark reduzierte Kommunikationsfähigkeit auswirke. Problematisch sei auch, dass sie
akustische Gefahrsignale nicht wahrnehme und dadurch in plötzlich auftretenden Gefahrensituationen nicht angemessen reagieren
könne.
Das SG hat die Hausärztin der Klägerin Dr. B. sowie die behandelnde Ohrenärztin Dr. W. schriftlich als sachverständige Zeugen vernommen.
Dr. B. hat am 27. Juli 2015 ausgeführt, dass keine Notwendigkeit einer Begleitung bestehe, sofern es sich um kurze Strecken
handele (z.B. tägliche Fahrt zur Arbeit) und keine plötzliche Änderung (Verspätung, Fahrplanänderung) eintrete. Bei allen
anderen Nutzungen der öffentlichen Verkehrsmittel benötige die Klägerin eine Begleitung durch eine Hilfsperson, nicht zuletzt
auch, um ihre Ängste in Schach zu halten. Die leidvollen Erfahrungen im Laufe ihres Lebens führten ansonsten zur Vermeidung
jeglicher Situationen, die ihre Angst weiter steigern könnten, und damit verbunden zur Verminderung der Teilhabe am öffentlichen
Leben. Dr. W. hat am 7. Juli 2015 mitgeteilt, dass die Klägerin vor allem bei Fahrten außerhalb ihrer täglichen zum Arbeitsplatz
auf fremde Hilfe angewiesen sei, da sie verbale Mitteilungen nicht hören und verstehen könne, insbesondere in fremder Umgebung.
Mit Hörgeräten bestehe kein Hörgewinn. Daher sei für Fahrten außerhalb des Wohn-/Arbeitsbereiches Begleitung erforderlich.
Nach vorheriger Anhörung hat das SG die Klage mit Gerichtsbescheid vom 30. September 2016 abgewiesen. Die Klägerin sei nicht regelmäßig bei der Benutzung öffentlicher
Verkehrsmittel auf fremde Hilfe angewiesen. Aufgrund ihrer Gehörlosigkeit habe sie es schwerer als nicht behinderte Menschen,
sich in Verkehrsmitteln des öffentlichen Nahverkehrs, an Haltestellen und Bahnhöfen zu orientieren. Diese Erschwernisse seien
jedoch situationsabhängig und nicht ständig vorhanden. Eine ständig vorhandene verständliche Sorge vor dem Eintritt solcher
Situationen ersetze nicht die objektive Hilfelage selbst. Die gehörten Ärzte hätten bestätigt, dass die Klägerin ihre regelmäßigen
Fahrten zum Arbeitsplatz ohne Hilfe bewältigen könne und lediglich bei längeren Strecken als denjenigen zur Arbeit und bei
plötzlichen Veränderungen sowie im Übrigen wesentlich zur Bewältigung von Ängsten ein Bedarf an Begleitung bestehe. Dies sei
jedoch nicht gleichzusetzen mit den eigentlichen objektiven Gefahrenlagen.
Gegen die ihr am 6. Oktober 2016 zugestellte Entscheidung hat die Klägerin am 7. November 2016 (einem Montag) Berufung beim
Landessozialgericht Baden-Württemberg eingelegt. Zur Begründung trägt sie im Wesentlichen vor, dass sie bei der Benutzung
öffentlicher Verkehrsmittel nicht ausreichend kommunizieren könne und dass deswegen die Voraussetzungen für die Zuerkennung
des begehrten Merkzeichens vorlägen.
Die Klägerin beantragt,
den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts F. vom 30. September 2016 und den Bescheid des Beklagten vom 17. September 2014 in
der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 4. Februar 2015 aufzuheben sowie den Beklagten zu verpflichten, bei ihr die Voraussetzungen
des Nachteilsausgleichs "B" (Berechtigung für eine ständige Begleitung) festzustellen.
Der Beklagte beantragt,
die Berufung der Klägerin zurückzuweisen.
Er ist der Ansicht, dass sich aus der Berufungsbegründung keine neuen Gesichtspunkte zum Streitgegenstand ergäben. Voraussetzung
für die Feststellung des Merkzeichens "B" bei Taubheit oder an Taubheit grenzender Schwerhörigkeit sei die Kombination mit
erheblichen Störungen der Ausgleichsfunktion (Sehbehinderung, geistige Behinderung). Solche lägen bei der Klägerin jedoch
nicht vor, so dass sie nicht zum feststellungsberechtigten Personenkreis gehöre.
Die Klägerin hat auf Anforderung des damaligen Berichterstatters den Entlassungsbericht der Fachklinik B. vom 11. November
2016 über die dort wegen ihres Asthmas erneut durchgeführte Rehabilitationsmaßnahme vom 11. Oktober 2016 bis 1. November 2016
vorgelegt, worin festgehalten worden ist, dass die Anwesenheit ihres Mannes als Dolmetscher besonders hilfreich für sie gewesen
sei; so habe sie sehr viel mehr über ihre Erkrankung lernen können. Zudem hat sie die Bescheinigung ihres Lungenarztes Dr.
S. vom 7. November 2011 eingereicht, wonach wegen ihrer Gehörlosigkeit ihr Ehemann als Begleitpersonen an dieser Rehabilitationsmaßnahme
teilnehmen müsse, da ansonsten kein Erfolg für sie zu erwarten sei.
Der jetzige Berichterstatter hat die Sach- und Rechtslage mit den Beteiligten am 19. Oktober 2017 erörtert.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhaltes und des Vorbringens der Beteiligten wird auf die Gerichtsakten beider Instanzen
sowie die Verwaltungsakte der Beklagten verwiesen.
Entscheidungsgründe
Die Berufung der Klägerin ist nach §
143 Sozialgerichtsgesetz (
SGG) statthaft, insbesondere war sie nicht nach §
144 Abs.
1 Satz 1 Nr.
1 SGG zulassungsbedürftig, da die Klägerin keine Sach-, Dienst- oder Geldleistung begehrt, sondern eine Feststellung. Die Berufung
ist auch im Übrigen zulässig, insbesondere form- und fristgerecht (§
151 Abs.
1 SGG) eingelegt worden, aber unbegründet.
Gegenstand des Rechtsmittelverfahrens ist der angefochtene Gerichtsbescheid des SG vom 30. September 2016, mit dem die als kombinierte Anfechtungs- und Verpflichtungsklage (§
54 Abs.
1 Satz 1
SGG) erhobene Klage, mit welcher die Klägerin unter Aufhebung des Bescheides vom 17. September 2014 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides
vom 4. Februar 2015 die Verpflichtung des Beklagten zur Zuerkennung der Voraussetzungen des Merkzeichens "B" begehrt hat,
abgewiesen wurde. Maßgebender Zeitpunkt für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage ist bezogen auf die vorliegende Klageart
der Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung in der Tatsacheninstanz (vgl. Keller, in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt,
Kommentar zum
SGG, 12. Aufl. 2017, §
54 Rz. 34), die vorliegend am 22. Februar 2018 stattgefunden hat.
Der Anspruch der Klägerin richtet sich nach § 229 Abs. 2 Satz 1 Neuntes Buch Sozialgesetzbuch (
SGB IX) in der aktuellen, seit 1. Januar 2018 geltenden Fassung durch Art. 1 und 26 Abs. 1 des Gesetzes zur Stärkung der Teilhabe und Selbstbestimmung von Menschen mit Behinderungen (Bundesteilhabegesetz
- BTHG) vom 23. Dezember 2016 (BGBl. I S. 3234). Hiernach sind zur Mitnahme einer Begleitperson schwerbehinderte Menschen berechtigt, die bei der Benutzung von öffentlichen
Verkehrsmitteln infolge ihrer Behinderung regelmäßig auf Hilfe angewiesen sind. Die Feststellung bedeutet nach § 229 Abs. 2 Satz 2
SGB IX nicht, dass die schwerbehinderte Person, wenn sie nicht in Begleitung ist, eine Gefahr für sich oder für andere darstellt.
Das Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) ist ermächtigt, durch Rechtsverordnung mit Zustimmung des Bundesrates
die Grundsätze aufzustellen, die für die Voraussetzungen für die Vergabe von Merkzeichen maßgebend sind, die nach Bundesrecht
im Schwerbehindertenausweis einzutragen sind (§
153 Abs.
2 SGB IX). Solange diese Rechtsverordnung nicht erlassen ist, gelten nach der Übergangsregelung in § 241 Abs. 5
SGB IX - wie bisher schon - die Maßstäbe des § 30 Abs. 1 Bundesversorgungsgesetz (BVG) und der auf Grund des § 30 Absatz 16 BVG erlassenen Rechtsverordnungen entsprechend. Hierbei handelt es sich um die zum 1. Januar 2009 in Kraft getretene Verordnung
zur Durchführung des § 1 Abs. 1 und 3, des § 30 Abs. 1 und des § 35 Abs. 1 BVG (Versorgungsmedizin-Verordnung - VersMedV) vom 10. Dezember 2008 (BGBl. I S. 2412), die unter anderem die maßgebenden Grundsätze für die medizinische Bewertung von Schädigungsfolgen und die Feststellung
des Grades der Schädigungsfolgen im Sinne des § 30 Abs. 1 BVG regelt (vgl. § 1 VersMedV). Die zugleich in Kraft getretene, auf der Grundlage des aktuellen Standes der medizinischen Wissenschaft unter Anwendung
der Grundsätze der evidenzbasierten Medizin erstellte und fortentwickelte Anlage "Versorgungsmedizinische Grundsätze" (VG)
zu § 2 VersMedV ist an die Stelle der bis zum 31. Dezember 2008 heranzuziehenden "Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im Sozialen
Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertenrecht" (AHP) getreten. Diese Regelungen gelten zur objektiven Gleichbehandlung
aller behinderten Menschen als Rechtssätze unmittelbar (vgl. BSG, Urteil vom 16. Dezember 2014 - B 9 SB 2/13 R -, juris, Rz. 10 m.w.N.).
Nach den VG, Teil D, Nr. 2 b ist die Berechtigung für eine ständige Begleitung bei schwerbehinderten Menschen gegeben, bei
denen die Voraussetzungen für die Merkzeichen "G", "Gl" oder "H" vorliegen, wenn diese Menschen bei der Benutzung öffentlicher
Verkehrsmittel infolge ihrer Behinderung regelmäßig auf fremde Hilfe angewiesen sind. Dementsprechend ist zu beachten, ob
sie bei der Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel regelmäßig auf fremde Hilfe beim Ein- und Aussteigen oder während der Fahrt
des Verkehrsmittels angewiesen sind oder ob Hilfen zum Ausgleich von Orientierungsstörungen (z.B. bei Sehbehinderung, geistiger
Behinderung) erforderlich sind. Die Berechtigung für eine ständige Begleitung ist vor allem anzunehmen bei Querschnittgelähmten,
Ohnhändern, Blinden und Sehbehinderten, Hörbehinderten, geistig behinderten Menschen sowie Anfallskranken, bei denen die Annahme
einer erheblichen Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr gerechtfertigt ist (VG, Teil D, Nr. 2 c). Aber
auch in diesen Fällen der Regelung in Buchstabe c ist zusätzlich festzustellen, ob sie bei der Benutzung von öffentlichen
Verkehrsmitteln infolge ihrer Behinderung regelmäßig auf Hilfe angewiesen sind (Urteil des Senats vom 22. September 2016 -
L 6 SB 5073/15 -, juris, Rz. 77). Anderenfalls - würde man dem Wortlaut in den VG, Teil D, Nr. 2 c folgen und auf die Notwendigkeit einer
ständigen Begleitung verzichten - hielte sich diese Regelung als Rechtsverordnung nicht im materiell-rechtlichen Rahmen der
parlamentsgesetzlichen Vorgaben aus § 229 Abs. 2 Satz 1
SGB IX und wäre nach Art.
80 Abs.
1 Satz 1
Grundgesetz (
GG) insoweit unwirksam. Diese Anforderungen decken sich mit denjenigen, die auch nach bisheriger Rechtslage galten (vgl. Urteil
des Senats vom 21. Februar 2013 - L 6 SB 5788/11 -, juris, Rz. 23).
Bei der Klägerin liegen die Voraussetzungen für das Merkzeichen "Gl" vor, das aufgrund ihrer angeborenen beiderseitigen Taubheit
festgestellt ist. Sie ist jedoch nicht entsprechend den VG, Teil D, Nr. 2 b infolge ihrer Behinderung bei der Benutzung der
öffentlichen Verkehrsmittel regelmäßig auf fremde Hilfe beim Ein- und Aussteigen oder während der Fahrt des Verkehrsmittels
angewiesen, auch sind keine Hilfen zum Ausgleich von Orientierungsstörungen erforderlich. Die Klägerin ist im Gegenteil in
der Lage, regelmäßig ihre 15 km von der Wohnung entfernte Arbeitsstelle aufzusuchen und die hierfür notwendige Strecke allein
mit dem öffentlichen Nahverkehr zurückzulegen. Ganz offensichtlich ist also die Voraussetzung einer regelmäßigen Notwendigkeit
fremder Hilfe nicht gegeben. Dies bestätigen zudem die behandelnde Ohrenärztin Dr. W. und die Hausärztin Dr. B., die als sachverständige
Zeuginnen vor dem SG beide mitgeteilt haben, dass die Klägerin jedenfalls auf ihrem täglichen Arbeitsweg keine Hilfe benötigt (nach der Auskunft
von Dr. B. vom 31. Juni 2014 kann die Klägerin sie zudem auch allein in der Praxis aufsuchen).
Beide Ärztinnen haben allerdings - entsprechend dem Vortrag der Klägerin - eingeschränkt, dass es sich um kurze Strecken bzw.
Fahrten innerhalb des Wohn-/Arbeitsbereiches handeln müsse und keine plötzlichen Änderungen (Verspätungen, Fahrplanänderungen)
eintreten dürften. Ansonsten sei eine Begleitung notwendig, was Dr. W. damit begründet, dass die Klägerin verbale Mitteilungen
nicht hören und verstehen könne, insbesondere nicht in fremder Umgebung. Dr. B. führt zusätzlich an, dass die Klägerin eine
Hilfsperson auch dazu benötige, ihre Ängste aufgrund nicht näher erläuterter leidvoller Erfahrungen im Laufe ihres Lebens
in Schach zu halten, weil sie ansonsten solche Situationen meiden und nicht mehr am öffentlichen Leben teilnehmen könne. Eine
derartige Begleitung mag hilfreich sein, es handelt sich dabei aber nicht um denjenigen Nachteilsausgleich, den das Merkzeichen
"B" ermöglichen soll. Denn dessen Zweck ist es, die Nutzung öffentlicher Verkehrsmittel solchen Personen zu erschließen, die
dazu ohne fremde Hilfe ansonsten aufgrund ihrer Behinderung überhaupt nicht in der Lage wären, was vor allem durch das Erfordernis
der Regelmäßigkeit der notwendigen Hilfe und überdies durch das Abstellen auf den Ein- und Aussteigevorgang und die Fahrt
selbst (also insbesondere auf körperliche Unterstützung wie z.B. Festhalten, Heben oder Führen) zum Ausdruck kommt. Auf eine
solche Begleitung ist die Klägerin aber nicht angewiesen. Zum einen macht sie selbst geltend, dass sie nur ausnahmsweise -
und somit gerade nicht regelmäßig - eine Begleitperson brauche und zum anderen geht es ihr nicht um die beschriebene körperliche
Unterstützung, sondern um eine Form von Serviceleistung im Falle von Verspätungen oder Fahrplanänderungen bzw. um psychischen
Beistand zur Verringerung von nicht näher dargelegten Ängsten.
Es ist zwar nachvollziehbar, dass eine Begleitperson der Klägerin bei der Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel Sicherheit
geben kann und ebenso wie die Anwesenheit ihres Ehemannes als Dolmetscher zu einer Erleichterung in der Kommunikation führt
(insoweit zeigen die Entlassungsberichte der Fachklinik B. allerdings entgegen der Bescheinigung von Dr. S. nicht, dass die
Anwesenheit des Ehemannes zwingend notwendig ist, sondern nur, dass die Klägerin durch dessen Dolmetschertätigkeit zusätzlich
profitiert, während sie auch ohne diese in der ersten Rehabilitation in der Lage war, gewinnbringend an den Veranstaltungen
teilzunehmen). Insbesondere bei der Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel kann sie jedoch ihre Behinderung in der Regel ausgleichen,
da sie die Fahrpläne, Anzeigetafeln, dynamische Schriftbandanzeiger und Aufschriften auf den Fahrzeugen und Bahnhöfen lesen
kann. Dabei kann dahinstehen, inwieweit konkrete Bahnhöfe mit welcher bestimmten Anzeigetechnik ausgerüstet sind und inwieweit
diese durchgängig funktionstüchtig ist, denn da es auf die regelmäßige Erforderlichkeit fremder Hilfe beim Ein- und Aussteigen
oder während der Fahrt des Verkehrsmittels ankommt, ist die Ausrüstung mit Informationssystemen auf dem Bahnhof ebenso ohne
Belang wie dessen bauliche Beschaffenheit insgesamt (Urteil des Senats vom 27. August 2015 - L 6 SB 1430/15 -, juris, Rz. 35). Überdies entstehen Schwierigkeiten nach dem Vortrag der Klägerin ohnehin vor allem in irregulären Ausnahmesituationen
wie z.B. bei Fahrplan- bzw. Gleisänderungen, die per Lautsprecher durchgesagt werden. In solchen Fällen ist die Klägerin zunächst
auf das Erkennen der Reaktion der anderen Fahrgäste angewiesen und muss sich dann über Zeichen oder Schreiben verständigen.
Wie die Klägerin vorträgt, kann dies zu weiterer Nervosität und Unsicherheit führen, ist in entsprechend hektischen Situationen
auch sicherlich schwierig und kann Zeitverluste bedingen. Da es sich hierbei jedoch um Ausnahmesituationen handelt, ändert
dies nichts daran, dass die Klägerin regelmäßig in der Lage ist, selbstständig öffentliche Verkehrsmittel zu benutzen (vgl.
Urteil des Senats vom 15. März 2007 - L 6 SB 363/06 -, nicht veröffentlicht). Beim Ein- und Aussteigen oder während der Fahrt des Verkehrsmittels ist fremde Hilfe hingegen nicht
erforderlich.
Die Klägerin bedarf mithin keiner ständigen Begleitung, um bei der Benutzung von öffentlichen Verkehrsmitteln aus ihrer Behinderung
folgende Gefahren für sich oder andere zu vermeiden. Eine solche Annahme wäre dann gerechtfertigt, wenn sich bei gehörlosen
Menschen in aller Regel die Störung der Kommunikationsfähigkeit auf ihre Orientierungs- und damit auf ihre Bewegungsfähigkeit
im Straßenverkehr auswirken würde. Ein vor Spracherwerb Ertaubter, der - wie die Klägerin - die Gehörlosenschule abgeschlossen
und das 16. Lebensjahr vollendet hat, hat hingegen nach ständiger Rechtsprechung des Bundessozialgerichts im Regelfall keinen
Anspruch auf die Merkzeichen "G" und "B" (BSG, Urteil vom 10. Dezember 2003 - B 9 SB 4/02 R -, juris, Rz. 22 und Urteil vom 12. November 1996 - 9 RVs 5/95 -, juris, LS 2). Eine Auswirkung der Störung der Kommunikationsfähigkeit auf die Orientierungs- und dadurch Bewegungsfähigkeit
im Straßenverkehr setzt vielmehr eine nennenswerte Störung der Ausgleichsfunktionen (vor allem bei den Sinnen Sehen und Fühlen)
voraus, die bei der Klägerin jedoch nicht vorliegt.
Die tiefgreifenden Kommunikationsstörungen, an denen Gehörlose typischerweise leiden, wirken sich demgegenüber in der Regel
längstens bis zum Abschluss der Berufsausbildung aus, weil Wahrnehmung, Erkenntnis und Lernen durch die Sprache vermittelt
und gesteuert werden (vgl. BSG, Urteil vom 23. Juni 1993 - B 9/9a RVs 1/91 -, juris. Rz. 19). Bei früh ertaubten, aber des Lesens und Schreibens kundigen Gehörlosen ist nicht davon auszugehen, dass
sie gehäuft auf eine Kommunikation mit den Mitmenschen angewiesen sind. Denn auch der Gehörlose kann schriftliche Informationen
zu Rate ziehen. Wo sich diese als nicht ausreichend erweisen sollten, wird er regelmäßig in der Lage sein, Passanten und mitfahrende
Personen schriftlich um Auskunft zu bitten. Ohnehin gilt, dass für die gewöhnlichen und eingeübten Wege, welche nach der allgemeinen
Lebenserfahrung die Mehrzahl der zurückgelegten Wegstrecken ausmachen, eine Kommunikation nur im Ausnahmefall erforderlich
ist (BSG, Urteil vom 12. November 1996 - 9 RVs 5/95 -, juris, Rz. 24). Sofern früh ertaubte, aber des Lesens und Schreibens kundige Gehörlose - wie die Klägerin - unbekannte
Wege erstmals zurückzulegen haben, sind sie ebenfalls nicht gehäuft auf Kommunikation mit den Mitmenschen angewiesen, sondern
können im Internet frei zugängliche Stadtpläne, Verkehrsnetze, genaue Wegbeschreibungen nebst Fahrplänen und aktuelle Verkehrsmeldungen
ebenso nutzen wie die auf den handelsüblichen Smartphones verfügbaren Navigationsgeräte mit GPS-Peilung, die sogar eine Ortung
und die Anzeige von Fahrtalternativen bei Verkehrsstörungen ermöglichen. Sollte der Gehörlose trotz all dieser möglichen Hilfen
sein Wegeziel gelegentlich verfehlen, kann gleichwohl noch nicht von einer Störung der Orientierungsfähigkeit gesprochen werden
(Urteil des Senats vom 21. Februar 2013 - L 6 SB 5788/11 -, juris, Rz. 24).
Auch nach den VG, Teil D, Nr. 2 c kann die Klägerin die Zuerkennung des Merkzeichens "B" nicht verlangen. Denn sie ist zwar
hörbehindert, die Annahme einer erheblichen Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr ist jedoch nicht gerechtfertigt,
da wie vorangehend bereits dargestellt bei ihr - der auch das Merkzeichen "G" nicht zuerkannt ist - keine Störung der Ausgleichsfunktionen
vorliegt.
Weitere Behinderungen, die außerhalb der in den VG, Teil D, Nr. 2 geregelten Fallgruppen, also unmittelbar auf Grund der gesetzlichen
Grundlage in § 229 Abs. 2 Satz 1
SGB IX zu einem Anspruch auf das Merkzeichen "B" führen könnten, weist die Klägerin ebenfalls nicht auf. Insbesondere liegt bei
ihr keine Erkrankung mit einer Fallsucht - also einer aus neurologischen Gründen erhöhten Sturzgefahr - vor. Zudem wäre auch
in diesem Rahmen darauf hinzuweisen, dass die Klägerin die üblichen Wegstrecken im öffentlichen Nahverkehr wie dargestellt
allein zurücklegen kann.
Nach alledem war die Berufung zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung beruht auf §
193 SGG.
Die Revision war nicht zuzulassen, da die Voraussetzungen des §
160 Abs.
2 SGG nicht vorliegen.