Rechtskraftdurchbrechung im sozialgerichtlichen Verfahren; Vollstreckung einer unrichtigen Gerichtsentscheidung; Grundsatz
von Treu und Glauben
Gründe:
I. Streitig ist, ob ein Zwangsgeld zu Recht angedroht worden ist.
Das Sozialgericht Würzburg (SG) hat der Beschwerdeführerin (Bf) mit Beschluss vom 13.05.2008 bis zum 27.06.2008 aufgegeben, der Verpflichtung aus dem Gerichtsbescheid
vom 09.01.2007 nachzukommen und für den Fall der Zuwiderhandlung ein Zwangsgeld in Höhe von 1000,00 EUR angedroht.
Das SG hatte im Rechtsstreit S 5 U 217/06 verbunden mit dem Rechtsstreit S 5 U 218/06 mit Gerichtsbescheid vom 09.01.2007 die Beklagte im Wege eines Bescheidungsurteils u.a. verpflichtet, für den Zeitraum vor
dem 01.01.2001 nachzuzahlende Rentenleistungen zu verzinsen. Dem lag folgender Sachverhalt zugrunde: Die Beschwerdegegnerin
(Bg) bezieht von der Bf Verletztenrente nach einer MdE von 50 vH seit 01.10.1992. Auf einen Antrag vom 28.12.2005 hin setzte
die Bf mit Bescheid vom 17.03.2006 den Jahresarbeitsverdient (JAV) mit Wirkung vom 27.12.1997 neu fest und wies darauf hin,
dass eventuelle Leistungsansprüche vor dem 01.01.2001 verjährt seien. Gründe für einen Verzicht auf die Einrede seien nicht
ersichtlich. Der Widerspruch war erfolglos (Widerspruchsbescheid vom 28.07.2006).
Der Gerichtsbescheid vom 09.01.2007 erwuchs in Rechtskraft.
Mit Bescheid vom 23.07.2007 stellte die Bf in Ausführung des Gerichtsbescheides vom 09.01.2007 fest, dass Leistungen nach
§ 48 Abs.4 Satz 1 iVm § 44 Abs.4 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X) nur bis vier Jahre vor der Antragstellung vom 28.12.2005 zu erbringen seien. Zur Begründung führte die Bf an, dass § 48 Abs.4 Satz 1 iVm § 44 Abs.4 SGB X anzuwenden sei und aufgrund dieser Norm die im Verwaltungsverfahren angeführte Verjährungsvorschrift des §
45 Abs.1 und 3 Erstes Buch Sozialgesetzbuch (
SGB I) nicht zum Tragen komme und im zurückliegenden Verwaltungs- und Sozialgerichtsverfahren über die Anwendung einer nicht zutreffenden
Rechtsvorschrift verhandelt worden sei. Es habe daher nicht, wie im Gerichtsbescheid vom 09.01.2007 vorgegeben, entschieden
werden können. § 44 Abs.4 SGB X billige dem Sozialleistungsträger keine Ermessensausübung zu. Sozialleistungen im Sinne der Erhöhung des JAV seien daher
erst ab 01.01.2001 zu erbringen. Der Widerspruch war erfolglos (Widerspruchsbescheid vom 04.12.2007). Die hiergegen gerichtete
Klage wurde zum Ruhen gebracht.
Die Bf hat gegen den Beschluss vom 13.05.2008 Beschwerde eingelegt und beantragt, den Beschluss aufzuheben. Die Bf sei der
Verpflichtung aus dem Gerichtsbescheid vom 09.01.2007 nachgekommen. Diese Bescheide seien Gegenstand des vor dem SG anhängigen Klageverfahrens. Über die Rechtmäßigkeit dieser Bescheide habe das SG noch nicht entschieden. Eine Zwangsvollstreckung des von der Bg geltend gemachten Anspruchs sei sittenwidrig. Es werde ein
Anspruch geltend gemacht, der von Gesetzes wegen ausgeschlossen sei.
Die Bg hat beantragt, die Beschwerde zurückzuweisen und der Bf die Kosten des Beschwerdeverfahrens aufzuerlegen. Der Gerichtsbescheid
vom 09.01.2007 sei ein rechtskräftiges Urteil, welches vollstreckbar sei. Die Bf habe den Gerichtsbescheid nicht ausgeführt,
da sie nicht unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts neu verbeschieden habe. Das Verhalten der Bf verstoße ihrerseits
gegen den Grundsatz von Treu und Glauben und sei in höchstem Maße sittenwidrig.
Ergänzend zum Sachverhalt wird auf die beigezogene Akte der Bf, die Akten des SG Würzburg Az: S 5 U 217/06, S 5 U 218/06 und sowie auf die Beschwerdeakte im vorliegenden Verfahren Bezug genommen.
II. Die Beschwerde ist zulässig, aber nicht begründet.
Kommt die Behörde in den Fällen des § 131 der im Urteil auferlegten Verpflichtung nicht nach, so kann das Gericht des ersten
Rechtszuges auf Antrag unter Fristsetzung ein Zwangsgeld bis zu tausend Euro durch Beschluss androhen und nach vergeblichem
Fristablauf festsetzen (§
201 Abs.1 Satz 1
Sozialgerichtsgesetz -
SGG -).
Der Gerichtsbescheid hat - entgegen der Auffassung der Bf - einen vollstreckungsfähigen Inhalt. Das SG hat ein Bescheidungsurteil erlassen. In diesen Fällen wird §
131 Abs.3
SGG entsprechend angewandt (Mayer-Ladewig/Keller/Leitherer aaO. §
131 Rdnr.12d). §
201 SGG findet bei Urteilen nach §
131 Abs.3
SGG Anwendung (aaO. §
201, Rdnr.2).
Die Bf ist - entgegen der von ihr mit Schriftsatz vom 15.09.2008 geäußerten Auffassung - der Verpflichtung aus dem Gerichtsbescheid
vom 09.01.2007 nicht mit Bescheid vom 23.07.2008 idF des Widerspruchsbescheides vom 04.12.2007 nachgekommen. Vielmehr weigert
sie sich den Gerichtsbescheid vom 09.01.2007 in vollem Umfang auszuführen und beruft sich auf die Ausschlussfrist des § 44 Abs.4 SGB X.
Das SG verpflichtete die Bf mit Gerichtsbescheid vom 09.01.2007, nachzuzahlende Rentenleistungen für die Zeit vor dem 01.01.2001
zu verzinsen. Das SG stützte seine Rechtsauffassung auf ein Urteil des Bundessozialgerichts vom 05.05.1993 in SozR 3-1200 § 45 Nr.2. Dort wird
in den Entscheidungsgründen u.a. ausgeführt, dass ein Änderungsbescheid bei einer Zugunstenregelung grundsätzlich unbeschränkte
Rückwirkung nach § 48 Abs.1 Satz 2 Nr.1 SGB X habe und § 44 Abs.4 SGB X auch nicht analog anwendbar sei. Das SG hat bei seiner Entscheidung vom 09.01.2007 übersehen, dass mit Wirkung ab 18.06.1994 das Zweite Gesetz zur Änderung des SGB
vom 13.06.1994 (BGBl I 1229) die Vorschrift des § 48 Abs.4 SGB X um die Verweisung u.a. auf § 44 Abs.4 SGB X ergänzt hat. Dies bedeutet, dass auch in den Anwendungsfällen des § 48 Abs.1 SGB X die Rückwirkung zugunsten des Betroffenen (§ 48 Abs.1 Satz 2 Nr.1 SGB X) auf vier Jahre begrenzt ist (BSG SozR 4-1300 § 44 Nr.9).
Die Androhung von Zwangsgeld ist aber nicht deshalb sittenwidrig, weil hier die Vorschrift des § 44 Abs.4 SGB X nicht beachtet wurde. Die Bg ist nicht nach Treu und Glauben gemäß §
242 Bürgerliches Gesetzbuch (
BGB) gehindert, sich auf die Rechtskraft der Entscheidung des SG zu berufen.
Nach gefestigter höchstrichterlicher Rechtsprechung kann der Grundsatz von Treu und Glauben der Berufung auf eine rechtskräftige,
aber materiell unrichtige Entscheidung entgegenstehen. Die Rechtskraft muss zurücktreten, wenn es mit dem Gerechtigkeitsgedanken
schlechthin unvereinbar wäre, dass der Titelinhaber seine formelle Rechtsstellung unter Missachtung der materiellen Rechtslage
zu Lasten des Gegners ausnutzt. Wäre dies hier der Fall, dann wäre es der Bg verwehrt, sich auf die Rechtskraft des im Vorprozess
ergangenen Urteils zu berufen (vgl. KG Berlin Urteil vom 24.05.2004 Az: 8 U 320/03 zitiert nach Juris).
Eine Durchbrechung der Rechtskraft muss auf besonders schwerwiegende, eng begrenzte Ausnahmefälle beschränkt bleiben, weil
sonst die Rechtskraft ausgehöhlt, die Rechtssicherheit beeinträchtigt und der Rechtsfrieden in Frage gestellt würde (BGH,
NJW 1993, 3204 mit weiteren Nachweisen). Dazu reicht eine objektive Unrichtigkeit des Titels nicht aus. Es müssten vielmehr besondere Umstände
hinzutreten, aufgrund deren es der Bg zugemutet werden müsste, die ihr mit dem rechtskräftigen Titel unverdient zugefallene
Rechtsposition aufzugeben (vgl. BGH, NJW-RR 1996, 826).
Diese Voraussetzungen sind vorliegend nicht gegeben. Es liegen keine besonderen Umstände vor, die eine Rechtskraftdurchbrechung
rechtfertigen könnten.
Zum einen können die Grundsätze, unter denen ausnahmsweise gegen ein rechtskräftiges Urteil vorgegangen werden kann, dann
nicht angewendet werden, wenn der Titelschuldner die Unrichtigkeit des Titels selbst durch nachlässige Prozessführung verursacht
hat (vgl. nur BGH 25.02.1988 NJW - RR 1988, 957 = WM 1988, 845; OLG Düsseldorf 14.02.1991 VersR 1992, 764). Dazu zählt auch die Nichteinlegung der Berufung gegen ein Urteil, das nicht der geltenden Gesetzeslage entspricht.
Zum anderen liegen keine Umstände vor, welche die Ausnutzung des rechtskräftigen Titels durch die Bg als in hohem Maße unbillig
und geradezu unerträglich erscheinen ließen (vgl. Landesarbeitsgericht Berlin Urteil vom 02.12.2005 Az: 13 Sa 1348/05, zitiert nach Juris). Die Bg hat nicht im Bewusstsein der Unrichtigkeit einen objektiv falschen Titel erlangt (vgl. LG Berlin,
Beschluss vom 24.08.2005 Az: 4 0 609/05, zitiert nach Juris mwN).
Nach alledem war die Beschwerde als unbegründet zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung beruht auf der entsprechenden Anwendung des §
193 SGG.
Diese Entscheidung ist nicht anfechtbar (§
177 SGG).