Nachforderung von Sozialversicherungsbeiträgen, Zulässigkeit einer Änderung eines bestandskräftigen Beitragsbescheides nach
neuen Erkenntnissen zu einem bereits abgeschlossenen früheren Prüfzeitraum
Gründe:
Die Antragstellerin begehrt im einstweiligen Rechtsschutz die aufschiebenden Wirkung ihrer Klage gegen die Nachforderung von
Sozialversicherungsbeiträgen einschließlich Säumniszuschläge in Höhe von insgesamt 37.343,65 Euro anzuordnen.
I. Gegenstand des Betriebs der Antragstellerin ist eine Tankstelle mit Imbiss und Verkaufsshop sowie der Handel mit Kfz-Zubehör.
Nach einer Betriebsprüfung bei der Antragstellerin setzte die Antragsgegnerin mit Bescheid vom 18. Mai 2010 eine Nachforderung
von Beiträgen zur gesetzlichen Sozialversicherung in Höhe von 24.993,65 Euro und Säumniszuschläge in Höhe von 12.350 Euro
fest. Nachgefordert wurden zum einen Sozialversicherungsbeiträge für als geringfügig Beschäftigte geführte Personen. Die Antragsgegnerin
begründete die für das Jahr 2008 nachberechneten Beiträge mit einem Überschreiten der anteiligen Geringfügigkeitsgrenze. Da
die betroffenen Beschäftigten nur kürzere Beschäftigungsverhältnisse als einen Monat ausgeübt hätten, dürfe das erzielte Entgelt
den anteiligen Monatsbetrag (400 Euro als maximalen Monatsbetrag für geringfügige Beschäftigungen x Kalendertage des Beschäftigungsverhältnisses:
30) nicht überschreiten. Daneben forderte die Antragsgegnerin Beiträge zur gesetzlichen Sozialversicherung für die Jahre 2000
bis 2005 nach. Der Prüfzeitraum vom 1. Januar 2000 bis zum 31. Dezember 2004 war bereits Gegenstand einer früheren Betriebsprüfung
gewesen, die mit Bescheid vom 9. Juni 2006 abgeschlossen worden war. Die Antragsgegnerin stützte ihre neue Forderung auf die
Auswertung eines Berichts über die Lohnsteuer-Außenprüfung des Finanzamtes H. vom 13. Januar 2006. Darin hatte das Finanzamt
unter anderem beanstandet, dass für mehrere namentlich aufgeführte Arbeitnehmer als steuerfrei ausgezahlte Zuschläge dem steuerpflichtigen
Arbeitslohn zuzurechnen seien. Hinzu kamen nach Feststellungen des Finanzamtes Lohnauszahlungen ohne Lohnkonto und höhere
ausbezahlte Nettolöhne als in den Lohnkonten verbucht worden waren. Auf den Inhalt des Berichtes über die Lohnsteuer-Außenprüfung
vom 13. Januar 2006 auf Bl. I 64 ff der Verwaltungsakte der Antragsgegnerin wird Bezug genommen. Zu den Säumniszuschlägen
führte die Antragsgegnerin aus, die Antragstellerin habe aufgrund des Lohnsteuerhaftungsbescheides vom 18. Januar 2006 Kenntnis
von ihrer Zahlungspflicht von Sozialversicherungsbeiträgen hinsichtlich der Zuschläge für Sonntags- Feiertags- und Nachtarbeit,
der Lohnzahlung ohne Lohnkonto und der nicht versteuerten Lohnzahlungen gehabt. Daher seien Säumniszuschläge für die Zeit
vom 1. März 2006 bis zum 30. April 2010 zu berechnen. Auf den früheren Bescheid vom 9. Juni 2006 über die damals abgeschlossene
Betriebsprüfung nahm die Antragsgegnerin keinen Bezug.
Dagegen hat die Antragstellerin durch ihren Prozessbevollmächtigten mit Schreiben vom 8. Juni 2010 Widerspruch eingelegt und
zugleich die Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung ihres Widerspruchs beantragt. Die Antragstellerin hat geltend gemacht,
die auf die Lohnsteuerprüfung gestützten Beitragsnachforderungen seien bereits verjährt. Das Finanzamt habe nach Klärung mit
den Geschäftsführern die zunächst getroffenen Festsetzungen geändert und zum größeren Teil die Nachzahlungsbeträge aufgehoben.
Mit Schreiben vom 29. Juni 2010 hat die Antragsgegnerin den Vollzug der Beitragsforderung in Höhe von 24.825,82 Euro für die
Dauer des Widerspruchsverfahrens ausgesetzt. Mit Widerspruchsbescheid vom 21. Januar 2011 hat die Antragsgegnerin schließlich
den Widerspruch der Antragstellerin zurückgewiesen und ihre Nachforderung in Höhe von insgesamt 37.343,65 Euro (einschließlich
12.350 Euro Säumniszuschläge) bestätigt. Zur Begründung hat die Antragsgegnerin ausgeführt, die Antragstellerin habe keine
Unterlagen über die Änderung des Lohnsteuerhaftungsbescheides vom 18. Januar 2006 vorgelegt. Trotz entsprechender Aufforderung
mit Schreiben vom 21. Juni 2010 und einer Erinnerung mit Schreiben vom 3. August 2010 habe die Antragstellerin keine entsprechenden
Nachweise übersandt. Die Betriebsprüfung habe im November 2009 begonnen. Der Prüfbericht des Finanzamtes falle noch in den
Rahmen der vierjährigen Verjährungsfrist und könne daher sozialversicherungsrechtlich ausgewertet werden.
Mit Schriftsatz vom 18. Februar 2011 hat die Antragstellerin Klage erhoben und mit Schreiben vom 12. April 2001 beim Sozialgericht
die Herstellung der aufschiebenden Wirkung ihrer Klage beantragt. Die Antragstellerin hat geltend gemacht, es bestünden ernstliche
Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angegriffenen Verwaltungsaktes. Die Vollziehung stelle für den Abgaben- und Kostenpflichtigen
eine unbillige, nicht durch überwiegende öffentliche Interessen gebotene Härte dar. Die geforderten Beitragszahlungen orientierten
sich an Schätzungen des Finanzamtes, die nicht zuträfen. Eine Darlegung der Beitragssituation könne erst nach diesbezüglicher
korrigierter Festsetzung durch das Finanzamt erfolgen. Mit Beschluss vom 20. Mai 2011 hat das Sozialgericht den Antrag abgelehnt.
Das Sozialgericht hat keinen Grund gesehen, die aufschiebende Wirkung der Klage anzuordnen. Die Interessenabwägung zwischen
den Belangen der Antragstellerin und der Antragsgegnerin erforderten kein Abweichen von dem gesetzlich vorgesehenen Regelfall
eines Ausschlusses der aufschiebenden Wirkung. Es bestünden nach summarischer Prüfung keine ernstlichen Zweifel an der Rechtmäßigkeit
des Bescheides vom 18. Mai 2010. Soweit Beiträge außerhalb der für die Verjährung maßgeblichen Vierjahresfrist nachgefordert
würden, spräche mehr für als gegen eine vorsätzliche Beitragsvorenthaltung. Hinsichtlich der geforderten Säumniszuschläge
bestünden allenfalls "offene Erfolgsaussichten". Die Antragstellerin habe trotz zweifacher Aufforderung durch die Antragsgegnerin
keine Nachweise darüber vorgelegt, dass gegen den Lohnsteuerhaftungsbescheid Einspruch eingelegt wurde. Nach einem Aktenvermerk
der Antragsgegnerin vom 23. Juni 2010 über ein Telefonat mit der Lohnsteuerprüfungsstelle des Finanzamtes H. sei der Bescheid
vielmehr bestandskräftig geworden.
Gegen den Beschluss des Sozialgerichts hat die Antragstellerin Beschwerde eingelegt.
Die Antragstellerin beantragt sinngemäß,
den Beschluss des Sozialgerichts Nürnberg vom 18. Mai 2011 aufzuheben und die aufschiebende Wirkung ihrer Klage gegen den
Bescheid vom 18. Mai 2010 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 21. Januar 2011 anzuordnen.
Die Antragsgegnerin beantragt sinngemäß,
die Beschwerde zurückzuweisen.
Trotz mehrfacher Aufforderung ist eine Beschwerdebegründung nicht eingegangen. Die Akten des Sozialgerichts sowie die Verwaltungsakten
der Antragsgegnerin wurden zum Gegenstand dieses Verfahrens.
II. Die form- und fristgerecht eingelegte Beschwerde ist zulässig (§§
172,
173 Sozialgerichtsgesetz,
SGG). Die Beschwerde ist auch weit überwiegend begründet.
Nach §
86a Abs.
2 Nr.
1 SGG entfällt bei der Entscheidung über Versicherungs-, Beitrags- und Umlagepflichten sowie der Anforderung von Beiträgen, Umlagen
und sonstigen Abgaben einschließlich darauf entfallenden Nebenkosten - wie hier - die aufschiebende Wirkung von Widerspruch
und Anfechtungsklage. Davon erfasst wird auch die Festsetzung von Säumniszuschlägen nach §
24 Viertes Buch Sozialgesetzbuch,
SGB IV (a.A. Keller in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer,
SGG, 9. Auflage, §
86a Rdnr. 13a).
Es steht nach §
86b Abs.
1 Satz 1 Nr.
2 SGG im Ermessen des Gerichts, die aufschiebende Wirkung eines Widerspruchs oder einer Klage herzustellen. Dabei hat eine Interessenabwägung
stattzufinden zwischen den Belangen der Antragstellerin und der Antragsgegnerin. Das Interesse der Antragsgegnerin an der
sofortigen Vollziehung ihrer Beitragsnachforderung ist dem Interesse der Antragstellerin an einer Aussetzung der Vollziehung
vor endgültiger Klärung des Rechtsstreits gegenüber zu stellen. Regelmäßig ist ein überwiegendes öffentliches Interesse an
der sofortigen Vollziehung anzunehmen, wenn sich ohne weiteres und in einer jeden vernünftigen Zweifel ausschließenden Weise
erkennen lässt, dass der angefochtene Verwaltungsakt rechtmäßig ist und die Rechtsverfolgung des Bürgers keinerlei Erfolg
verspricht (vgl BT Drucks 14/5943, S. 25 unter Bezugnahme auf Bundesverwaltungsgericht, NJW 1974, 1294 [1295]). Dagegen wird das private Aufschubinteresse überwiegen, wenn ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angegriffenen
Verwaltungsakts bestehen oder wenn die Vollziehung für den Abgaben- oder Kostenpflichtigen eine unbillige, nicht durch überwiegende
öffentliche Interessen gebotene Härte zur Folge hätte.
Der Senat hat bereits mit Urteil vom 18. Januar 2011 einen Rechtsstreit entschieden, der die Nachforderung von Beiträgen für
einen vor dem Prüfzeitraum der streitgegenständlichen Betriebsprüfung liegenden Zeitraum zum Gegenstand hatte. Auch in diesem
Verfahren hatte sich die Beklagte auf neue Ergebnisse einer Lohnsteueraußenprüfung des Finanzamtes über einen bereits abgeschlossenen
Prüfzeitraum gestützt (Az.: L 5 R 752/08). Nachdem die Antragsgegnerin bereits mit Bescheid vom 9. Juni 2006 über den früheren Prüfzeitraum vom 1. Januar 2000 bis
31. Dezember 2004 entschieden und einen Beitragsbescheid nach § 28p
SGB IV erlassen hatte, hätte sie aufgrund der bei Auswertung der Erkenntnisse des Finanzamtes in seinem Bericht über die Lohnsteuer-Außenprüfung
vom 13. Januar 2006 entdeckten Fehler in den von der Antragstellerin abgeführten Beitragshöhen zunächst den ursprünglichen
Bescheid vom 9. Juni 2006 zurücknehmen müssen nach § 45 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X). Dies ist nicht geschehen. Die Antragsgegnerin hat in ihrem Bescheid vom 18. Mai 2010 auf den früheren Bescheid nicht Bezug
genommen. Es ist nicht erkennbar, dass die Antragsgegnerin die Vorgaben des § 45 SGB X beachtet hat (vgl. dazu das Urteil des erkennenden Senats vom 18. Januar 2011, L 5 R 752/08, Rz. 37 ff - zitiert nach juris). Damit bestehen ernstliche Zweifel an der Rechtsmäßigkeit der streitigen Entscheidung der
Antragsgegnerin soweit die Beitragsjahre 2000 bis 2004 erfasst sind. Insoweit wird die aufschiebende Wirkung der Klage angeordnet.
Die Kostenentscheidung folgt aus §
197a Abs.
1 Satz 1
SGG i.V.m. §
155 Abs.
1 Satz 3
VwGO. Da nahezu die gesamte Summe der Nachforderung die Jahre 2000 bis 2004 betrifft, trägt allein die Antragsgegnerin die Kosten
des Eilverfahrens. Die Streitwertfestsetzung folgt der Festsetzung durch das Sozialgericht (§
197a Abs.
1 Satz 1
SGG i.V.m. § 52 Abs. 3, § 47 Abs. 2 Seite 1 Gerichtskostengesetz).
Dieser Beschluss ist gemäß §
177 SGG unanfechtbar.