Tatbestand:
Die Klägerin begehrt von dem Beklagten die Feststellung eines Grades der Behinderung (GdB) von 100.
Mit Bescheid vom 17. Oktober 1994 hatte der Beklagte bei der 1940 geborenen Klägerin einen GdB von 90 und das Vorliegen der
gesundheitlichen Voraussetzungen für das Merkzeichen "G" festgestellt. Auf den Verschlimmerungsantrag der Klägerin, den sie
später zurücknahm, leitete der Beklagte ein Überprüfungsverfahren ein. Nach Anhörung der Klägerin setzte der Beklagte mit
Bescheid vom 19. März 2002 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 20. Juni 2002 den GdB auf 70 herab. Nach erfolglosem
Klageverfahren vor dem Sozialgericht Berlin zum Az. S 41 SB 1597/02 legte die Klägerin Berufung bei dem Landessozialgericht Berlin zum Az. L 11 SB 24/03 ein. In der mündlichen Verhandlung vom 24. Februar 2005 verpflichtete der Beklagte sich im Wege des Vergleichs, der Klägerin
ab 1. April 2002 durchgehend einen GdB von 80 statt 70 zuzuerkennen und aufgrund des im Termin gestellten Neufeststellungsantrags
der Klägerin zu prüfen, ob ihr für die Zukunft ein höherer GdB als 80 zuzuerkennen sei. Die weitergehende Berufung nahm die
Klägerin zurück. Die Beteiligten erklärten den Rechtsstreit für erledigt.
Mit Ausführungsbescheid vom 4. April 2005 stellte der Beklagte mit Wirkung ab 1. April 2002 den GdB von 80 fest. Den hiergegen
gerichteten Widerspruch wies er mit Widerspruchsbescheid vom 19. Januar 2006 als unzulässig zurück.
Der Beklagte lehnte den Neufeststellungsantrag der Klägerin mit Bescheid vom 14. November 2005 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides
vom 20. Januar 2006 ab: Eine höhere Bewertung des GdB als 80 sei nicht zu rechtfertigen. Dieser Entscheidung legte er folgende
(verwaltungsintern mit den aus den Klammerzusätzen ersichtlichen Einzel-GdB bewertete) Funktionsbeeinträchtigungen zugrunde:
a) Wirbelsäulenverschleiß, Nervenwurzelreizerscheinungen, Osteoporose, Skoliose, schmerzhafte Funktionseinschränkungen (50),
b) operiertes Brustdrüsenleiden mit Achselrevision 12/89, erreichte Heilungsbewährung (30),
c) Hämangiom am rechten Leberlappen kaudal, Hepatomegalie (30),
d) Asthma bronchiale, Rechtsherzbelastung mit Neigung zu Herzrhythmusstörungen (30),
e) ödematöser variköser Symtomenkomplex, Lymphödem (20),
f) Blutunterdruck (10),
g) Hüftgelenkverschleiß beidseitig, Kniegelenkverschleiß rechts (10).
Mit der Klage bei dem Sozialgericht Berlin hat die Klägerin die Feststellung eines GdB von mehr als 80 begehrt: Der Ausführungsbescheid
vom 4. April 2005 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 19. Januar 2006 sei rechtswidrig, weil der Beklagte sich in
dem Vergleich verpflichtet habe, allein für die orthopädischen Leiden einen GdB von 80 anzuerkennen. Auch der Ablehnungsbescheid
vom 14. November 2005 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 20. Januar 2006 sei aufzuheben, da ihre Leiden nicht umfassend
anerkannt worden seien. Das Gericht hat neben Befundberichten der die Klägerin behandelnden Ärzte das Gutachten des Allgemeinmediziners
Dr. B vom 2. Februar 2007 mit ergänzenden Stellungnahmen vom 15. April 2007 und vom 17. Juli 2007 eingeholt, der auf der Grundlage
folgender Funktionseinschränkungen einen Gesamt-GdB von maximal 60 vorgeschlagen hat:
a) Belastungsbeschwerden der Wirbelsäule (bei Osteoporose und kongenitaler Fehlform des 8. BWK) ohne relevante Funktionseinbuße
bei vegetativer Überlagerung (40),
b) operiertes Brustdrüsenleiden bei erreichter Heilungsbewährung, geringgradiges Lymphödem des linken Armes (30),
c) primäre biliäre Zirrhose (unter Medikation ohne Galleabfluss-Störung), Hämangiom rechter Leberlappen (30),
d) obstruktive Bronchitis (mit gelegentlichen Infektexazerbationen) (20),
e) mäßig Schwellneigung der Unterschenkel (10).
Das Sozialgericht hat mit Gerichtsbescheid vom 14. Dezember 2007 die Klage als unbegründet abgewiesen. Die angegriffenen Bescheide
seien rechtmäßig. Der Ausführungsbescheid entspreche dem vereinbarten wirksamen Vergleich, in welchem der Beklagte sich verpflichtet
habe, der Klägerin ab 1. April 2002 einen GdB von 80 zuzuerkennen. Dem sei er nachgekommen.
Auch der Ablehnungsbescheid sei nicht zu beanstanden. Die Klägerin habe keinen Anspruch auf einen höheren GdB als 80. Dem
Sachverständigen Dr. B, der in seinem Gutachten sorgfältig und nachvollziehbar begründet dargelegt habe, dass nur ein Gesamt-GdB
von 60 zu rechtfertigen sei, werde gefolgt.
Mit der Berufung begehrt die Klägerin unter Wiederholung und Vertiefung ihres bisherigen Vorbringens die Feststellung eines
GdB von 100. Ihrer Ansicht nach lägen folgende Funktionsbeeinträchtigungen bei ihr vor:
d) Asthma bronchiale, Rechtsherzbelastung mit Neigung zu Herzrhythmusstörungen (50 - 80),
a) Wirbelsäulenverschleiß, Nervenwurzelreizerscheinungen, Osteoporose, Skoliose, schmerzhafte Funktionseinschränkungen (50),
c) primär biliäre Zirrhose, Hämangiom am rechten Leberlappen (40),
e) ödematöser variköser Symtomenkomplex, Lymphödeme beider Beine und des linken Armes (30),
b) operiertes Brustdrüsenleiden mit Achselrevision 12/89, erreichte Heilungsbewährung (30),
f) Hüftgelenksverschleiß beidseitig, Kniegelenkverschleiß rechts (mind. 10).
Der Senat hat das Gutachten des Internisten und Lungenfacharztes Prof. Dr. H vom 12. Mai 2009 mit ergänzender Stellungnahme
vom 29. September 2009 und nachgereichten Anlagen 1 und 2 eingeholt, der folgende Funktionseinschränkungen ermittelt hat:
a) Asthma bronchiale (30),
b) chronische Sinusitis (10),
c) primäre biliäre Zirrhose im Zustand der Stabilisierung (20),
d) Zustand nach Ablation mammae links mit Lymphstau des linken Armes (erreichte Heilungsbewährung) (30),
e) degenerative Veränderungen des statischen Apparates (40),
f) Lipödem (10)
g) Sjögren-Syndrom (10).
Die Klägerin wendet sich gegen dieses Gutachten; die Ergebnisse seien gefälscht.
Die Klägerin beantragt sinngemäß schriftsätzlich,
den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Berlin vom 14. Dezember 2007 aufzuheben sowie den Beklagten unter Änderung des Ausführungsbescheides
vom 4. April 2005 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 19. Januar 2006 sowie unter Aufhebung des Ablehnungsbescheides
vom 14. November 2005 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 20. Januar 2006 zu verurteilen, bei ihr ab 1. April 2002
einen Grad der Behinderung von 100 festzustellen.
Der Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Er hält an seinen Entscheidungen unter Berufung auf die von ihm vorgelegten versorgungsärztlichen Stellungnahmen fest.
Wegen der weiteren Ausführungen der Beteiligten wird auf deren Schriftsätze Bezug genommen. Ferner wird auf den übrigen Inhalt
der Gerichtsakte und des Verwaltungsvorgangs der Beklagten verwiesen, die vorgelegen haben und Gegenstand der mündlichen Verhandlung
gewesen sind.
Entscheidungsgründe:
Der Senat konnte trotz Ausbleibens der Klägerin im Termin verhandeln und entscheiden (§
153 Abs.
1 in Verbindung mit §
110 Abs.
1 Satz 2
Sozialgerichtsgesetz -
SGG-).
Die zulässige Berufung ist unbegründet. Das Sozialgericht hat mit der angegriffenen Entscheidung die Klage zu Recht abgewiesen.
Der Ausführungsbescheid vom 4. April 2005 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 19. Januar 2006 ist nicht zu beanstanden.
Denn er entspricht dem Vergleich vom 24. Februar 2005. Für den Vortrag der Klägerin, der Beklagte habe sich in dem Vergleich
verpflichtet, allein für die orthopädischen Leiden einen GdB von 80 anzuerkennen, ist nichts ersichtlich.
Auch der Ablehnungsbescheid vom 14. November 2005 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 20. Januar 2006 ist rechtmäßig,
da die Klägerin keinen Anspruch auf Festsetzung eines GdB von 100 hat. Nach den §§
2 Abs.
1,
69 Abs.
1 Sozialgesetzbuch, Neuntes Buch (
SGB IX) sind die Auswirkungen der länger als sechs Monate anhaltenden Funktionsstörungen nach Zehnergraden abgestuft entsprechend
den Maßstäben des § 30 Bundesversorgungsgesetz zu bewerten. Hierbei sind als antizipierte Sachverständigengutachten die vom Bundesministerium für Gesundheit und Soziale
Sicherung herausgegebenen Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit (AHP) heranzuziehen, und zwar entsprechend dem
streitgegenständlichen Zeitraum in den Fassungen von 2005 und - zuletzt - 2008. Seit dem 1. Januar 2009 sind die in der Anlage
zur Versorgungsmedizin-Verordnung (VersMedV) vom 10. Dezember 2008 (BGBl. I S. 2412) festgelegten "Versorgungsmedizinischen Grundsätze" in Form einer Rechtsverordnung in Kraft, welche die AHP - ohne dass hinsichtlich
der medizinischen Bewertung eine grundsätzliche Änderung eingetreten wäre - abgelöst haben.
Die Beteiligten gehen - im Einklang mit den gutachterlichen Vorschlägen - übereinstimmend und mit Recht davon aus, dass das
operierte Brustdrüsenleiden bei erreichter Heilungsbewährung mit einem Einzel-GdB von 30 zu berücksichtigen ist. Dies entspricht
den Vorgaben in Teil B Nr. 14.1 (Bl. 70) der Anlage zur VersMedV.
Die Belastungsbeschwerden der Wirbelsäule sind mit einem Einzel-GdB von 40 anzusetzen. In diesem Sinne haben sich beide gerichtlichen
Sachverständigen ausgesprochen. Ein Einzel-GdB von 50, den die Klägerin fordert, ist nicht gerechtfertigt. Nach Teil B Nr.
18.9 (Bl. 90) der Anlage zur VersMedV kommt ein GdB in dieser Höhe erst bei Wirbelsäulenschäden mit besonders schweren Auswirkungen
(z. B. Versteifung großer Teile der Wirbelsäule; anhaltende Ruhigstellung durch Rumpforthese, die drei Wirbelsäulenabschnitte
umfasst, schwere Skoliose) in Betracht. Die vorliegenden Befunde geben keine Anhaltspunkte für das Vorliegen derartig schwerer
Schäden.
Nicht zu beanstanden ist, dass der Beklagte das Bronchialasthma mit einem Einzel-GdB von 30 bewertet hat. Diese Einschätzung
entspricht den Vorgaben in Teil B Nr. 8.5 (Bl. 45) der Anlage zur VersMedV. Der Sachverständige Prof. Dr. H hat überzeugend
dargelegt, dass die Klägerin unter einer medikamentös gut kontrollierten Atemwegserkrankung leidet. Atemmechanisch besteht
nur eine leichte Störung. Eine pulmonale Insuffizienz unter Belastungsbedingungen konnte bei der Untersuchung nicht nachgewiesen
werden. Die Einwände der Klägerin gegen das Gutachten überzeugen nicht. Insbesondere kann der Senat nach den Ausführungen
der Klägerin weder Fälschungen der Untersuchungsergebnisse noch eine Böswilligkeit des Sachverständigen ihr gegenüber erkennen.
Die klägerischen Einwende gegen die Untersuchungsmethoden des Gutachters sind nicht nachzuvollziehen.
Entgegen der Auffassung der Klägerin kann die Erkrankung ihrer Leber nicht mit einem Einzel-GdB von 30 bewertet werden. Sie
leidet an einer primären biliären Zirrhose, die nach Teil B Nr. 10.3.5 (Bl. 60) der Anlage zur VersMedV je nach Aktivität
und Verlauf analog zur chronischen Hepatitis oder Leberzirrhose zu beurteilen ist. Heranzuziehen ist danach die Bewertung
in Teil B Nr. 10.3.1 (Bl. 58) der Anlage zur VersMedV, wonach für eine chronischen Hepatitis ohne (klinisch-) entzündliche
Aktivität ein Einzel-GdB von 20 vorgesehen ist, da nach den übereinstimmenden Feststellungen der Gutachter eine Stabilisierung
eingetreten ist.
Die Schwellneigung der Unterschenkel ist in Anlehnung an die Vorgaben in Teil B Nr. 9.2.1 (Bl. 49) der Anlage zur VersMedV
mit einem Einzel-GdB von 20 zu bewerten. Für das geringgradige Lymphödem des linken Armes ist als Folgeerscheinung des operierten
Brustdrüsenleidens kein eigenständiger Einzel-GdB anzusetzen.
Unter Berücksichtigung der einzelnen Funktionsbeeinträchtigungen ist die von der Klägerin begehrte Bildung eines Gesamt-GdB
von 100 nicht möglich. Liegen - wie hier - mehrere Beeinträchtigungen am Leben in der Gesellschaft vor, ist der GdB gemäß
§
69 Abs.
3 SGB IX nach den Auswirkungen der Beeinträchtigungen in ihrer Gesamtheit unter Berücksichtigung ihrer wechselseitigen Beziehungen
festzustellen. Nach Teil A Nr. 3c der Anlage zur VersMedV ist bei der Beurteilung des Gesamt-GdB von der Funktionsstörung
auszugehen, die den höchsten Einzel-GdB bedingt, und dann im Hinblick auf alle weiteren Funktionsbeeinträchtigungen zu prüfen,
ob und inwieweit hierdurch das Ausmaß der Behinderung größer wird.
Aus dem Einzel-GdB von 40 für die Belastungsbeschwerden der Wirbelsäule, dem Einzel-GdB von 30 für das operierte Brustdrüsenleiden
und das geringgradige Lymphödem des linken Armes sowie dem Einzel-GdB von 30 für das Bronchialasthma kann jedenfalls kein
höherer Gesamt-GdB als 80 gebildet werden. Die chronische Nasennebenhöhlenentzündung und das Sjögren-Syndrom sind nicht geeignet,
den Gesamt-GdB zu erhöhen, da sie jeweils nur mit einem Einzel-GdB von 10 zu bewerten sind. Denn nach Teil A Nr. 3d (Bl. 10)
der Anlage zu § 2 VersMedV führen zusätzliche leichte Gesundheitsstörungen, die nur einen GdB von 10 bedingen, nicht zu einer
Zunahme des Ausmaßes der Gesamtbeeinträchtigung. Aus diesem Grund bedarf es keiner weiteren Ermittlungen, ob der Hüftgelenksverschleiß
beidseitig und der Kniegelenkverschleiß rechts - wie die Klägerin vorbringt - tatsächlich die Zuerkennung eines Einzel-GdB
von 10 rechtfertigen. Eine Erhöhung kommt auch nicht im Hinblick auf die primäre biliäre Leberzirrhose im Zustand der Stabilisierung
und die mäßige Schwellneigung der Unterschenkel in Betracht, da sie jeweils nur mit einem Einzel-GdB von 20 zu bewerten sind.
Denn auch bei leichten Funktionsbeeinträchtigungen mit einem GdB von 20 ist es nach Teil A Nr. 3d (Bl. 10) der Anlage zu §
2 VersMedV vielfach nicht gerechtfertigt, auf eine wesentliche Zunahme des Ausmaßes der Behinderung zu schließen.
Die Kostenentscheidung beruht auf §
193 SGG.
Die Voraussetzungen für die Zulassung der Revision (§
160 Abs.
2 SGG) sind nicht erfüllt.