Feststellung unzulässiger Arzneimittelverordnungen bei der Wirtschaftlichkeitsprüfung in der vertragsärztlichen Versorgung;
Rechtmäßigkeit eines Regresses
Tatbestand:
Die Beteiligten streiten um einen Regress wegen der Verordnung des Arzneimittels Nebilet im Quartal III/03.
Die Klägerin nimmt als Fachärztin für Innere Medizin an der vertragsärztlichen Versorgung im Bezirk B-K (Ortsteil B) teil.
Sie verordnete ihrer bei der Beigeladenen zu 2) krankenversicherten, 1958 geborenen Patientin C P (im Folgenden: die Versicherte)
zur Behandlung eines hyperkinetischen Herzsyndroms mit arteriellem Hypertonus am 14. Juli 2003 das Arzneimittel Nebilet 50
Tbl. (Packungsgröße N 2). Ausweislich der Fachinformation (Stand: März 2001) war dieses Arzneimittel, ein selektiver β-Rezeptorenblocker,
damals zur Behandlung der essenziellen Hypertonie zugelassen und enthält als Wirkstoff 5 mg Nebivolol (als Nebivololhydrochlorid).
Nach Auffassung des pharmazeutischen Herstellers unterscheidet sich der Wirkmechanismus von Nebivolol wesentlich von den Wirkmechanismen
anderer β-Rezeptorenblocker wie z.B. Bisoprolol und Metoprolol. Deren Wirkung beschränke sich darauf, dem Anstieg von Blutdruck
und Herzfrequenz entgegen zu wirken, indem sie an die β-1-Rezeptoren anbänden. Der pharmakologische Effekt von Nebivolol gehe
darüber hinaus, weil es gleichzeitig - nach Ziffer 5.1 der o.g. Fachinformation allerdings nur milde - vasodilatierend (gefäßerweiternd)
und somit ebenfalls blutdrucksenkend wirke (vgl. Beschluss des Senats vom 19. Dezember 2008, Az.: L 9 B 192/08 KR ER, veröffentlicht in Juris).
Mit am 17. Juni 2004 beim Prüfungsausschuss eingegangenen Schreiben stellte die Beigeladene zu 2) einen "Antrag auf Überprüfung
der Wirtschaftlichkeit der Verordnungsweise nach §
106 SGB V und §
25 Abs.
1 der Prüfvereinbarung" wegen der o.g. Verordnung der Klägerin. Zur Begründung führte die Beigeladene zu 2) aus:
"Die Auswertung der Verordnungen von Betablockern im 3. Quartal 2003 hat ergeben, dass in der Arztpraxis mehr als 15 % der
Verordnungen auf das kostspielige Präparat Nebilet (Wirkstoff Nebivolol) entfielen, obwohl preiswertere, therapeutisch gleichwertige
Alternativen zur Verfügung standen.
Damit liegt der Verordnungsanteil mehr als 100 % über dem Durchschnitt, den die Berliner Ärzte bei den Betablockern erreichten.
Bei Zugrundelegung von mehr als 70 % der GKV-Verordnungen in Berlin im angesprochenen Quartal hat sich gezeigt, dass bei den
drei Betablockern Atenolol, Metoprolol und Nebivolol insgesamt der Anteil der Nebivolol-Verordnungen 7,4 % ausmacht.
Nebivolol ist nach der Bewertung im Arzneiverordnungsreport (AVR 2003, S. 359), nur als Analogpräparat mit dreifach höheren Therapiekosten als Atenolol zu betrachten'.
Für die zusätzlichen vasodilatierenden Eigenschaften dieses langwirkenden Betablockers wurden signifikante Unterschiede in
der blutdrucksenkenden Wirkung und im peripheren Widerstand nicht nachgewiesen. Eine klinische Überlegenheit gegenüber vergleichbaren
Betablockern, z. B. Atenolol, ist durch Studien nicht belegt.
Auch die von der Arzneimittelkommission der Deutschen Ärzteschaft im Jahr 1998 veröffentlichten Empfehlungen zur Therapie
der arteriellen Hypertonie, welche der Vertragsarzt zu beachten hat, gaben keinen Hinweis auf besondere Eigenschaften des
Nebivolols.
Die Therapie mit Nebivolol ist in allen Packungsgrößen unwirtschaftlicher als mit den genannten vergleichbaren Betablockern,
die auch als preisgünstige Generika zur Verfügung stehen.
Daher ist für eine dem allgemein anerkannten Stand der medizinischen Erkenntnis entsprechende Therapie die Verordnung von
Nebivolol weder notwendig noch wirtschaftlich. Sie stellt somit einen Verstoß gegen das Wirtschaftlichkeitsgebot nach §
12 SGB V dar.
Auf diese Zusammenhänge und die Alternativen haben die Berliner Krankenkassen gemeinsam mit der KV Berlin in den letzten Jahren
mehrmals hingewiesen.
Wir beantragen daher, ein Schadenersatzverpflichtung in Höhe von 161,8 € festzusetzen. Die Einzelheiten sind aus der Anlage
zu entnehmen."
In ihrer vom Prüfungsausschuss veranlassten Stellungnahme vom 11. Juli 2004 gab die Klägerin bzgl. der Versicherten zusätzlich
zu den bereits genannten Diagnosen an:
"Klinisch imponiert das Bild eines hyperkinetischen Herzsyndroms mit art. Hypertonus. Die Patientin fühlte sich wegen beobachteter
Tachykardieneigung unter normaler Belastung deutlich körperlich eingeschränkt.
Da die Patientin auch berufstätig ist, sollte vorzugsweise ein Antihypertensivum mit gesicherter 24- Stunden- Wirkung verordnet
werden. Daneben bedarf es auch eines einfachen Behandlungsschemas.
Im weiteren wurde ein Augenmerk auf die Erhaltung der körperlichen Aktivität der Patientin gelegt, um letztlich auch hier
einen Arbeitsausfall zu vermeiden.
Konventionelle β- Blocker schränken häufig die körperliche Leistungsfähigkeit deutlich ein, da sowohl Stoffwechsel als auch
die periphere Durchblutung negativ beeinflusst werden.. Sollen Patienten zur sportlichen Aktivität motiviert werden, darf
ihre körperliche Leistungsfähigkeit nicht beschnitten werden.
Nebivolol erhält die körperliche Leistungsfähigkeit der hypertonen Patientin."
Mit Beschluss vom 4. Oktober 2004 setzte der Prüfungsausschuss "gemäß § 25 der Prüfvereinbarung vom 20. Juni 2003 [....] eine
Schadensersatzverpflichtung in Höhe von € 66,52 fest" und führte zur Begründung u.a. aus: Bei drei Patientinnen der Klägerin,
u.a. der Versicherten, sei Nebilet in der Primärtherapie eingesetzt worden, d.h., die Klägerin habe, um evtl. Nebenwirkungen
zu vermeiden, das Präparat verordnet, ohne vorher einen Therapieversuch mit einem wirtschaftlicheren Medikament durchzuführen.
Dies sei nicht nachvollziehbar, weil die in den Fachinformationen angegebenen Kontraindikationen Nebenwirkungen und Anwendungsbeschränkungen
für alle β-Rezeptorenblocker gleichermaßen gälten. Den auf die Versicherte entfallende Schadensbetrag in Höhe von 22,17 €
errechnete der Prüfungsausschuss aus der Nettodifferenz zwischen Nebilet und dem Referenzwirkstoff Bisoprolol bei der verordneten
Packungsgröße N 2, da dieses Präparat der Wirkungsweise von Nebilet am nächsten komme.
Gegen diese Entscheidung erhoben sowohl die Klägerin als auch die Beigeladene zu 1) Widerspruch. Die Klägerin brachte im Widerspruchsverfahren
vor, Therapieziel sei die Senkung des Bluthochdrucks bei gleichzeitiger Erhaltung der körperlichen Leistungsfähigkeit gewesen.
Im Vergleich zu anderen β-Blockern habe Nebivolol keinen negativen Einfluss auf die körperliche Leistungsfähigkeit. Bei Bisoprolol
schwankten unter körperlicher Belastung die Plasmaspiegel, während sie unter Nebivolol stabil blieben. Dies ergebe sich aus
den näher benannten Studien. Der vom Prüfungsausschuss geforderte Therapieversuch mit Bisoprolol scheide daher bei der Versicherten
aus medizinisch-wissenschaftlichen Gründen aus.
Mit Beschluss vom 02. Juni 2005 wies der Beklagte den Widerspruch der Beigeladenen zu 1) zurück, da diese nicht Beteiligte
an dem nach § 25 Prüfvereinbarung (PV) durchgeführten Verfahren sei und mangels Verletzung eigener Rechte auch nicht hätte
beteiligt werden müssen. Zugleich änderte der Beklagte auf den Widerspruch der Klägerin den Beschluss des Prüfungsausschusses
vom 4. Oktober 2004 insoweit ab, als eine Ersatzverpflichtung in Höhe von 44,34 € festgesetzt werde. Während sich bezüglich
der Patientin I S. die medizinische Notwendigkeit der Verordnung von Nebilet aus dem Gesamtkrankheitsbild ergebe, seien für
die Versicherte sowie eine weitere Patientin weitere sich auf den Einsatz des beanstandenden Präparates Nebilet beziehende
Diagnosen bzw. Informationen auch nach Hinzuziehung der jeweiligen Behandlungsscheine nicht zu entnehmen.
Im Klageverfahren hat die Klägerin geltend gemacht, dass dem Rechtsstreit grundsätzliche Bedeutung zukomme. Die Besonderheit
liege darin, dass hier nicht die antragstellende Krankenkasse nach interner Prüfung zu der Überzeugung gelangt sei, eine unwirtschaftliche
Verordnung habe im Einzelfall vorgelegen. Stattdessen nutzten nach der früheren BKK Berlin (heute: City BKK) nun auch 3 Ersatzkassen
das Verfahren der Überprüfung der Wirtschaftlichkeit im Einzelfall, um ohne konkrete Informationen zum Einzelfall sämtliche
Verordnungen bestimmter Fertigarzneimittel unter Regress zu stellen. Durch die Einleitung dieser Regressverfahren seien die
Ärzte trotz der vergleichsweise geringen Regressdrohung gezwungen, ihre Verordnungsweise im Einzelfall darzulegen. Da sämtliche
Nebivolol-Verordnungen unter Regressdrohung gestellt würden, käme auf die betroffenen Vertragsärzte regelmäßig ein enormer
Arbeitsaufwand zu. Da die mit dem umfangreichen Prüfverfahren einhergehenden Kosten in keinem Verhältnis zum möglichen Regressbetrag
stünden, erkläre sich die Vorgehensweise der Krankenkassen allein so, dass durch Verursachung von Mehrarbeit bei den Ärzten
von der Verordnung von Nebivolol abgeschreckt werden solle. Es gehe also weniger um die Überprüfung einer Unwirtschaftlichkeit
im Einzelfall als vielmehr um einen Verdrängung so genannter Analogpräparate (noch unter Patentschutz stehende Arzneimittel
mit "analogen" Wirkungen wie die älteren Präparate derselben Medikamentenklasse). Durch eine neuerliche Antragswelle der Krankenkassen
im Sommer 2005 habe sich die Bedeutung der Angelegenheit dramatisch verschärft.
Der Bescheid des Beklagten sei aus mehreren Gründen rechtswidrig. Zum einen sei die vom Beklagten in Bezug genommene Prüfvereinbarung
vom 20. Juni 2003 erst im August 2003 im KV-Blatt veröffentlicht worden und könne daher nur Sachverhalte erfassen, die sich
nach dem August 2003 ereignet hätten. Soweit § 28 Abs. 1 Satz 1 der PV vom 20. Juni 2003 das Inkrafttreten dieser Vereinbarung
zum 1. Oktober 2002 anordne, liege eine verfassungswidrige echte Rückwirkung vor, da in einen abgeschlossenen Sachverhalt
eingegriffen werde. Der Antrag der Beigeladenen zu 2) hätte daher als rechtsmissbräuchlich zurückgewiesen werden müssen. Darüber
hinaus beeinträchtige die Einleitung eines Wirtschaftlichkeitsprüfverfahrens den betroffenen Vertragsarzt in seiner Berufsfreiheit,
weil er unabhängig vom Ausgang des Verfahrens jedenfalls durch seine Mitwirkungspflichten belastet werde. Aber auch sämtliche
Vertragsärzte sowie die Versicherten würden durch die Auslösung von kostenverursachenden Prüfverfahren finanziell belastet
und damit ebenfalls in ihren Grundrechten beeinträchtigt. Ohne konkrete Anhaltspunkte, quasi "ins Blaue hinein" gestellte
Prüfanträge seien unzulässig. Die Möglichkeit, evtl. einzelne unwirtschaftliche Verordnungen dadurch herauszufiltern, dass
sämtliche Arzneimittelverordnungen dem Pauschalverdacht der Unwirtschaftlichkeit unterworfen werden, sei kein von §
106 Sozialgesetzbuch Fünftes Buch (
SGB V) verfolgtes Ziel. Auch wenn konkrete Anhaltspunkte fehlten, könne die Unwirtschaftlichkeit bei der Verordnungsweise durch
andere nach §
106 SGB V vorgesehene Instrumentarien, insbesondere die Richtgrößenprüfung, geprüft werden. Entgegen der Darstellung der Beigeladenen
zu 2) entfielen von den gesamten β-Blocker-Verordnungen der Klägerin im Quartal III/03 nur 10,9 % auf Nebilet. Dieses Arzneimittel
überschreite damit den von der Beigeladenen zu 2) behaupteten Durchschnittsanteil der Nebivolol-Verordnungen an den β-Blocker-Verordnungen
in Höhe von 7,4 % nur um 40 %, was für eine auf die Behandlung von Herz-Kreislauf-Erkrankungen spezialisierte Fachärztin eher
wenig erscheine. Schließlich sei die Mitwirkung von Herrn W Sch als Vertreter der Krankenkassen an der Entscheidung des Beklagten
gemäß § 3 Abs. 3 PV i.V.m. § 17 Abs. 2, § 16 Abs. 4 Sozialgesetzbuch Zehntes Buch (SGB X) verfahrensfehlerhaft, weil Herr Sch gemäß § 17 Abs. 1 Satz 1 SGB X nicht geeignet gewesen sei, an der Entscheidung mitzuwirken. Da Herr Sch an der Erarbeitung des Konzepts zum flächendeckenden
Angriff auf Analogpräparate maßgeblich beteiligt gewesen sei, liege ein Grund vor, der geeignet sei, Misstrauen gegen eine
unparteiische Amtsausübung zu rechtfertigen. Er habe die standardisierten Formulierungen in den Anträgen der BKK Berlin, denen
sich einzelne andere Krankenkassen für spätere Quartale angeschlossen hätten, ausgearbeitet und zahlreiche Widerspruchsbegründungen
in durch Anträge der BKK Berlin eingeleiteten Prüfverfahren verfasst. Der Prüfantrag vom 17. Juni 2004 verstoße jedoch auch
gegen die in § 25 Abs. 2 Satz 2 PV geregelte Bagatellgrenze von 50,00 € je Arzneimittelverordnung. Der Prüfantrag sei ferner
unbegründet, weil die Auffassung, vor dem Einsatz eines teureren Arzneimittels sei ein Therapieversuch mit einem billigeren
Arzneimittel durchzuführen, rechtlich nicht haltbar sei. Sei das teurere Präparat aus medizinischen Gründen notwendig, die
die Preisdifferenz überwögen, so sei die Verordnung wirtschaftlich, ohne dass es eines vorhergehenden Therapieversuchs mit
einem billigeren Präparat bedürfe. Die im Widerspruchsverfahren vorgelegte Ausarbeitung der abstrakten Unterschiede zwischen
Nebivolol und Atenolol belege, dass in Einzelfällen eine Verordnung von Nebivolol statt Atenolol wirtschaftlich, weil medizinisch
notwendig sein könne. Vor dem Hintergrund von §
106 Abs.
5 Satz 2
SGB V, wonach gezielte Beratungen weiteren Maßnahmen in der Regel vorangehen sollten, sei die angegriffene Entscheidung auch ermessensfehlerhaft.
Die Verordnung von sieben unterschiedlichen β-Blockern im streitigen Quartal III/03 belege, dass die Klägerin eine patientenindividuelle
Auswahl treffe. Außerdem lasse sich den Frühwarndaten für das Quartal III/03 entnehmen, dass die Klägerin die Arzneimittelrichtgröße
um über 73 % unterschreite, was die kostenbewusste und wirtschaftliche Verordnungsweise der Klägerin verdeutliche.
Mit Urteil vom 31. Mai 2006 hob das Sozialgericht den Bescheid des Beklagten vom 2. Juni 2005 auf und führte zur Begründung
aus, eine Einzelfallprüfung bezüglich der Verordnung zugunsten der Versicherten habe mangels Anhaltspunkten für eine Unwirtschaftlichkeit
sowie wegen Unterschreitens der Bagatellgrenze nicht durchgeführt werden dürfen.
Gegen dieses ihr am 31. Oktober 2006 zugestellte Urteil richtet sich die am 15. November 2006 eingelegte, vom Sozialgericht
zugelassene Berufung des Beklagten, zu dessen Begründung er ausführt: Das Sozialgericht habe die Frage der Zulässigkeit eines
Antrages mit dessen Begründetheit verknüpft. Auch seine Ausführungen zur so genannten Bagatellgrenze seien rechtsirrig. Sowohl
§ 24 Abs. 3 PV als auch § 25 Abs. 2 PV knüpften an § 51 Bundesmantelvertrag-Ärzte (BMV-Ä) an. Dort heiße es, dass der Schadensbetrag
pro Vertragsarzt, Krankenkasse und Quartal über der Bagatellgrenze liegen müsse. Als Alternativmedikament werde Bisoprolol-ratiopharm
10 benannt.
Der Beklagte beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 31. Mai 2006 aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Die Klägerin beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Sie hält das Urteil des Sozialgerichts für zutreffend. Dass § 24 Abs. 3 und § 25 Abs. 2 PV an § 51 BMV-Ä anknüpften, sei sowohl
wegen der andersartigen Formulierung als auch der unterschiedlichen Höhe der Bagatellgrenze (25,26 € nach § 51 BMV-Ä) sehr
unwahrscheinlich.
Die Beigeladenen stellen keine Anträge und äußern sich nicht zur Sache.
Mit Beschluss vom 31. Juli 2007 hat der Senat das die Patientin G S betreffende Verfahren vom hiesigen Rechtsstreit L 7 KA 131/06 abgetrennt und unter dem Aktenzeichen L 7 KA 119/07 fortgeführt.
Wegen des Sach- und Streitstandes im Einzelnen sowie wegen des weiteren Vorbringens der Beteiligten wird auf die Gerichtsakte
sowie die beigezogene Verwaltungsakte, die Gegenstand der mündlichen Verhandlung war, verwiesen.
Entscheidungsgründe:
Die Berufung ist zulässig, aber unbegründet. Im Ergebnis zu Recht hat das Sozialgericht den Bescheid des Beklagten vom 2.
Juni 2005 aufgehoben, denn dieser erweist sich als rechtswidrig.
I. Einer Entscheidung des Senats steht nicht entgegen, dass das Sozialgericht Berlin im Rechtsstreit S 79 KA 260/05 mit rechtskräftigem Urteil ebenfalls vom 31. Mai 2006 auf eine Klage der hiesigen Beigeladenen zu 1) hin den (auch im hiesigen
Rechtsstreit) angegriffenen Bescheid des Beklagten vom 2. Juni 2005 aufgehoben hat. Obwohl der Antrag der dortigen Klägerin
auf vollständige Aufhebung dieses Bescheids gerichtet war und der Urteilstenor eine nur eingeschränkte Aufhebung des Bescheids
nicht erkennen lässt, ist aufgrund einer sachgerechten Auslegung des Urteils und des dortigen klägerischen Vorbringens davon
auszugehen, dass eine Aufhebung des Bescheids vom 2. Juni 2005 nur insoweit erfolgen sollte, als dieser die dortige Klägerin
durch Zurückweisung ihres Widerspruchs wegen Unzulässigkeit beschwerte.
II. Rechtsgrundlage des Bescheids vom 2. Juni 2005 sind §
106 Abs.
2 und
3 SGB V in der vom 1. Januar 2004 bis zum 7. November 2006 geltenden, hier maßgeblichen Fassung (alte Fassung - aF) i.V.m. § 14 der
zwischen der Beigeladenen zu 2) und den (Landes-)Verbänden der Krankenkassen im Land Berlin abgeschlossenen Prüfvereinbarung
vom 10. Januar 1994 (PV aF).
Nach §
106 Abs.
2 Satz 1
SGB V wird die Wirtschaftlichkeit der Versorgung geprüft durch
1. arztbezogene Prüfung ärztlich verordneter Leistungen bei Überschreitung der Richtgrößenvolumina nach §
84 SGB V (Auffälligkeitsprüfung),
2. arztbezogene Prüfung ärztlicher und ärztlich verordneter Leistungen auf der Grundlage von arztbezogenen und versichertenbezogenen
Stichproben, die mindestens 2 vom Hundert der Ärzte je Quartal umfassen (Zufälligkeitsprüfung).
Die Landesverbände der Krankenkassen und die Verbände der Ersatzkassen können gemeinsam und einheitlich mit den Kassenärztlichen
Vereinigungen über die in Satz 1 vorgesehenen Prüfungen hinaus Prüfungen ärztlicher und ärztlich verordneter Leistungen nach
Durchschnittswerten oder andere arztbezogene Prüfungsarten vereinbaren (§
106 Abs.
2 Satz 4, 1. Halbsatz
SGB V). Nach Abs. 3 Sätze 1 und 3 dieser Vorschrift vereinbaren die in Absatz 2 Satz 4 genannten Vertragspartner Inhalt und Durchführung
u.a. der Prüfung der Wirtschaftlichkeit nach Absatz 2 gemeinsam und einheitlich. In den Verträgen ist auch festzulegen, unter
welchen Voraussetzungen Einzelfallprüfungen durchgeführt und pauschale Honorarkürzungen vorgenommen werden; festzulegen ist
ferner, dass der Prüfungsausschuss auf Antrag der Kassenärztlichen Vereinigung, der Krankenkasse oder ihres Verbandes Einzelfallprüfungen
durchführt.
1. Da die hier streitgegenständliche Verordnung bereits im Juli 2003 erfolgte, konnte der Klägerin zu diesem Zeitpunkt die
erst am 1. August 2003 veröffentlichte Prüfvereinbarung vom 20. Juni 2003 noch nicht bekannt sein. Ob in der rückwirkend zum
1. Oktober 2002 erfolgten In-Kraft-Setzung dieser Vereinbarung ein Verstoß gegen das Rückwirkungsverbot liegt, kann offen
bleiben, da die streitgegenständliche Regressforderung auch auf die Vorgängervorschrift (§ 14 aF) gestützt werden kann. Dieser
Austausch der Rechtsgrundlage ist zulässig, da das Gericht nur die Rechtmäßigkeit des Verfügungssatzes überprüft, ohne an
die von der Behörde herangezogene Begründung gebunden zu sein.
§ 14 PV aF ("Prüfung in besonderen Fällen/sonstiger Schaden") lautete:
"1. Der Prüfungsausschuss entscheidet auf Antrag einer Krankenkasse im Einzelfall über einen Anspruch auf Schadensersatz,
wenn der Vertragsarzt oder eine der Personen, für die er haftet, bei Erfüllung der vertragsärztlichen Pflichten die nach den
Umständen erforderliche Sorgfalt außer acht gelassen hat. Unterschiedliche vertragliche Regelungen (Bundesmantelvertrag, Arzt-/Ersatzkassenvertrag)
finden Anwendung.
2. Der Antrag ist zu begründen und muss innerhalb einer Frist von 6 Monaten seit Bekanntwerden des Sachverhalts beim Prüfungsausschuss
vorliegen. Bei nicht verordnungsfähigen Präparaten beginnt die Frist mit dem Eingang der sortierten Rezepte bei der jeweiligen
Krankenkasse. Die Krankenkasse muss dem Antrag alle zur Beurteilung erforderlichen Unterlagen und die Nachweise zur Schadenshöhe
beifügen sowie die Höhe des Schadens benennen.
3. Hält die KV Berlin Regressansprüche gegen einen Vertragsarzt wegen der Verordnung von Arznei-, Heil- oder Hilfsmitteln,
die von der Versorgung ausgeschlossen sind, für berechtigt, wird sie den Vertragsarzt entsprechend informieren und den jeweiligen
Schadensbetrag bei Einverständnis des Vertragsarztes einbehalten und an die Krankenkasse abführen.
4. Der Antrag kann sich nur auf den Zeitraum der letzten, dem Antrag vorausgegangenen 2 Kalenderjahre erstrecken.
5. Ein Antrag ist ausgeschlossen, wenn der vermutete Schadensbetrag DM 100,00 nicht übersteigt. Dies gilt nicht für Anträge
betreffend ausgeschlossene Arznei-, Heil- und Hilfsmittel gemäß gesetzlicher oder vertraglicher Regelungen."
Der Bescheid des Beklagten erweist sich als rechtswidrig. Zwar liegen die tatbestandlichen Voraussetzungen für eine auf §
14 PV aF gestützte Schadensersatzforderung des Beklagten vor. Der Beklagte hat jedoch das ihm zustehende Ermessen nicht ausgeübt.
2. Nach dem dem Senat bekannten Sachverhalt ist die Durchführung einer - eingeschränkten, d.h. die von der Klägerin angegebenen
Diagnosen als zutreffend unterstellenden (BSG, Urteil vom 21. Juni 1995, Az.: 6 RKa 43/94 = BSGE 77, 53) - Einzelfallprüfung durch den Beklagten nicht zu beanstanden. Einzelfallprüfungen sind insbesondere dann sachgerecht - und
ihre Auswahl daher rechtmäßig -, wenn das individuelle Vorgehen eines Arztes in einem bestimmten Behandlungsfall hinsichtlich
des Behandlungs- und Verordnungsumfangs am Maßstab des Wirtschaftlichkeitsgebots überprüft werden soll (BSG, Urteile vom 5.
November 2008, Az.: B 6 KA 63/07 R und B 6 KA 64/07 R, und vom 6. Mai 2009, Az.: B 6 KA 3/08 R, aller veröffentlicht in Juris). Zwar könnte das von der Beklagten zu 2) gewählte Aufgreifkriterium - der statistische Vergleich
der Verordnung von β-Blockern - eine Prüfung nach Durchschnittswerten nahe legen. Die u.U. vorrangige statistische Vergleichsprüfung
nach Durchschnittswerten (BSG, Urteil vom 28. Juni 2000, Az.: B 6 KA 36/98, veröffentlicht in Juris m.w.N.) hätte allerdings
vorausgesetzt, dass die beim geprüften Arzt zugrunde gelegte Fallzahl mindestens 20 % der durchschnittlichen Fallzahl je Arzt
(BSG aaO. m.w.N.) innerhalb einer aus mindestens sieben Kollegen bestehenden Vergleichsgruppe (BSG, Urteil vom 23. Februar
2005, Az.: B 6 KA 72/03, veröffentlicht in Juris) beträgt. Dies war anhand der dem Senat mitgeteilten Daten nicht zu beurteilen.
Eine als Alternative ebenfalls in Betracht kommende Richtgrößenprüfung hätte sämtliche Arzneimittelverordnungen der Klägerin
innerhalb eines Jahres zum Gegenstand gehabt, jedoch die quartalsbezogene Prüfung, ob die Verordnung bestimmter Arzneimittel
bzw. Wirkstoffe wirtschaftlich erfolgte, gerade nicht ermöglicht.
3. Die streitgegenständliche Verordnung vom 14. Juli 2003 war unwirtschaftlich.
Grundsätzlich gilt das Wirtschaftlichkeitsprinzip in der Gesetzlichen Krankenversicherung auch im Verhältnis zweier therapeutisch
gleichwertiger, aber unterschiedlich teurer Arzneimittel. Dies zählt als sog. Minimalprinzip schon seit der Einführung von
§ 368 p
Reichsversicherungsordnung zum 1. Januar 2005 zu den Kernbestandteilen des Wirtschaftlichkeitsgebots im engeren Sinne (BSG, Urteil vom 31. Mai 2007,
Az.: B 6 KA 13/05 R - "Clopidogrel" -, veröffentlicht in Juris) und ist vom Vertragsarzt bei der Auswahl der Präparate zu beachten (BSG, Beschluss
vom 31. Mai 2006, Az.: B 6 KA 68/05 B; Urteil vom 20. Oktober 2004, Az.: B 6 KA 41/03 R, beide veröffentlicht in Juris).
Im Rahmen der Prüfung, ob die Verordnung eines Arzneimittels unwirtschaftlich war, ist dem Beschwerdeausschuss kein Beurteilungsspielraum
eingeräumt. Zwar besteht für die Prüfgremien bei einer statistischen Vergleichsprüfung nach Durchschnittswerten (BSG, Urteil
vom 27. Juni 2007, Az.: B 6 KA 27/06 R, veröffentlicht in Juris, m.w.N.) oder einer Richtgrößenprüfung (BSG, Urteil vom 2. November 2005, Az.: B 6 KA 63/04 R, veröffentlicht in Juris, m.w.N.) ein eingeschränkter Beurteilungsspielraum. Bei einem Einzelverordnungsregress kann die
Frage der Unwirtschaftlichkeit jedoch regelmäßig nur bejaht oder verneint werden (BSG, Urteile vom 5. November 2008 und vom
6. Mai 2009, aaO.)
Unwirtschaftlich ist eine Arzneimittelverordnung schon dann, wenn anstelle des verordneten Wirkstoffes ein preiswerterer,
therapeutisch generell gleichwertiger Wirkstoff zur Verfügung steht. Der Senat stellt insofern bewusst auf den abstrakten,
d.h. losgelöst von der betroffenen Versicherten vorgenommenen Vergleich von Wirkstoffen ab. Zwar könnte auch bereits auf dieser
ersten Prüfungsstufe ein Vergleich konkreter Arzneimittel vorgenommen werden. Dem steht jedoch zum einen entgegen, dass hierfür
in der Entscheidung des Beschwerdeausschusses ein konkretes Alternativpräparat benannt werden müsste. Sollte sich dieses im
Laufe des Gerichtsverfahrens - z.B. wegen Kontraindikationen oder Nebenwirkungen im Hinblick auf weitere Erkrankungen der
konkreten Versicherten - als ungeeignet herausstellen, hätten die Gerichte der Sozialgerichtsbarkeit wegen des fehlenden Beurteilungsspielraums
bei der Prüfung der Unwirtschaftlichkeit selbst zu ermitteln, welches der generell in Betracht kommenden Alternativpräparate
im konkreten Fall vorzugswürdig gewesen wäre. Der Umstand, dass gegenwärtig allein 107 bisoprolol-haltige, 164 metoprolol-haltige
und 85 atenolol-haltige Arzneimittel (recherchiert über das vom Deutschen Institut für medizinische Dokumentation und Information
- DIMDI - unter www.pharmnet-bund.de zur Verfügung gestellt Arzneimittelinformationssystem) zugelassen sind - die weiteren
9 in der Untergruppe C07AB ("Beta-Adrenorezeptor-Antagonisten, selektiv") des ATC-Codes aufgeführten Wirkstoffe seien an dieser
Stelle unberücksichtigt -, belegt, dass die Gerichte der Sozialgerichtsbarkeit hiermit überfordert wären.
Gegen einen Arzneimittelvergleich schon auf dieser ersten Prüfungsstufe spricht zum anderen, dass dieser sinnvoll nur unter
Berücksichtigung des gesamten Gesundheitszustands sowie ggf. weiterer Lebensumstände (Berufstätigkeit etc.) der konkret betroffenen
Versicherten durchgeführt werden kann. Die Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls findet jedoch nach der Rechtsprechung
des BSG (Urteil vom 28. April 1999, Az.: B 6 KA 63/98 R, veröffentlicht in Juris, m.w.N.) typischerweise erst im Rahmen der Ermessensausübung statt.
Die Unwirtschaftlichkeit im vorliegenden Fall ergibt sich daraus, dass anstelle des teureren Wirkstoffs Nebivolol der - wohl
aufgrund einer Festbetragsfestsetzung - preiswertere Wirkstoff Bisoprolol zur Verfügung steht und letzterer ausweislich der
Fachinformation (Stand: Januar 2002) ebenfalls zur Behandlung der arteriellen Hypertonie zugelassen ist. Soweit im Rahmen
der Wirtschaftlichkeitsprüfung die Feststellung eines Mehraufwandes gefordert wird, besteht dieser zumindest in der Differenz
zwischen dem packungsgrößenbezogenen Nettopreis (d.h. nach Abzug von Apothekenrabatt und Eigenanteil der Versicherten) von
Nebilet und dem teuersten Arzneimittel aus der Gruppe der selektiven β-Rezeptorenblocker.
4. Die vom Beklagten aufgrund der festgestellten Unwirtschaftlichkeit verfügte Rechtsfolge, die Festsetzung einer Ersatzverpflichtung
i.H.v. 22,17 €, steht wegen fehlender Ermessensausübung mit geltendem Recht nicht in Einklang.
a.) Grundsätzlich ist im Rahmen von Wirtschaftlichkeitsprüfungen gemäß §
106 SGB V Ermessen hinsichtlich der Höhe des Regresses auszuüben (BSG aaO.; Clemens in Schlegel/Voelzke/Engelmann [Hrsg], jurisPraxisKommentar
SGB V, 2008, §
106 RdNr 145-147 m.w.N.)Bei der Festlegung der Regresshöhe als Reaktion auf die festgestellte Unwirtschaftlichkeit steht den
Prüfgremien regelmäßig ein Ermessensspielraum zu, der die Möglichkeit einer ganzen Bandbreite denkbarer vertretbarer Entscheidungen
eröffnet. Gemäß §
54 Abs
2 Satz 2
SGG ist eine derartige Ermessensentscheidung von den Gerichten der Sozialgerichtsbarkeit nur daraufhin zu überprüfen, ob die
Behörde die gesetzlichen Grenzen des Ermessens eingehalten und vom Ermessen in einer dem Zweck der Ermächtigung entsprechenden
Weise Gebrauch gemacht hat. Ein Gericht darf sein Kürzungsermessen dagegen nicht an die Stelle desjenigen der Prüfgremien
setzen (BSG, Urteil vom 21. Mai 2003, Az.: B 6 KA 32/02 R, veröffentlicht in Juris, m.w.N.)
Im Rahmen der Ermessensausübung hat der Beschwerdeausschuss zunächst dem beanstandeten Arzneimittel ein konkretes Alternativpräparat
gegenüber zu stellen (hierzu unter aa), um ausgehend hiervon den (maximalen) Schadensbetrag zu bestimmen (hierzu unter bb).
In einem weiteren Schritt hat er sodann zu prüfen, in welcher konkreten Höhe ein Regress festgesetzt werden soll oder ob ggf.
im Hinblick auf eine vorrangige Beratung von einem Regress abzusehen ist (hierzu unter cc).
aa.) Soll wegen der Verordnung eines teureren Arzneimittels ein Regress festgelegt werden, weil eine preiswertere, therapeutisch
gleichwertige Alternative zur Verfügung steht, setzt dies zwingend einen Vergleich des beanstandeten mit einem anderen nach
Wirkstärke und Darreichungsform konkretisierten Arzneimittel voraus, welches vom Beschwerdeausschuss in seiner Entscheidung
zu benennen ist. Erst auf der Grundlage einer solchen Konkretisierung sind die Fragen nach der therapeutischen Gleichwertigkeit
und - darauf aufbauend - dem Kostenvergleich möglich. Denn nur wenn - typischerweise zunächst anhand der arzneimittelrechtlichen
Fachinformation nach § 11 a Arzneimittelgesetz - feststeht, für welche Anwendungsgebiete das Alternativpräparat zugelassen ist und welche Kontraindikationen, Warnhinweise,
Neben- und Wechselwirkungen bestehen, ist zu beurteilen, ob dieses Alternativpräparat aus medizinischer Sicht bei der konkreten
Versicherten unter Berücksichtigung ihres Gesundheitszustands sowie ggf. weiterer Lebensumstände (Berufstätigkeit etc.) hätte
zum Einsatz kommen können. An dieser Stelle kommt der gerichtlich nur eingeschränkt überprüfbare Entscheidungsspielraum zum
Tragen, der in der Rechtssprechung des BSG (Urteil vom 28. Juni 2000, aaO.) den Prüfgremien nach §
106 Abs.
4 SGB V als paritätisch und fachkundig besetzten Einrichtungen zugestanden wird. In diesem Zusammenhang sind die zwischen den Beteiligten
und dem Senat in der mündlichen Verhandlung erörterten Fragen zu klären, ob im Hinblick auf bestimmte Nebenwirkungen ggf.
bestehende Begleiterkrankungen ein Ausschlusskriterium darstellen und welche Bedeutung der Häufigkeit dieser Nebenwirkungen
sowie den pharmakodynamischen und -kinetischen Eigenschaften der zu vergleichenden Arzneimittel zukommen.
bb.) Hat ein Vergleich des beanstandeten Arzneimittels mit einem oder mehreren Alternativpräparaten ergeben, dass diese als
therapeutisch gleichwertig anzusehen sind, ist in einem weiteren Schritt zu ermitteln, ob zumindest eines dieser Alternativpräparate
preiswerter ist. Hierfür ist zunächst ein Wirkstärkenvergleich anhand der definierten Tagesdosis (defined daily dose - DDD)
vorzunehmen. Letzter ergibt sich aus der ATC-DDD, dem anatomisch-therapeutisch-chemischen Klassifikationssystem (ATC-Code)
- einer von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) offiziell herausgegebenen internationalen Klassifikation für Arzneistoffe
-, das vom DIMDI seit dem 1. Januar 2004 in einer jährlich aktualisierten amtlichen Fassung mit definierten Tagesdosen gemäß
§
73 Abs.
8 Satz 5
SGB V herausgegeben wird. Auf der Grundlage der DDD sind für die verglichenen Arzneimittel diejenigen Mengen zu ermitteln, die
zur gleichen Wirkung bei der konkreten Versicherten führen (bei gleicher DDD je Verabreichungseinheit - z.B. Tablette - sind
die Kosten gleicher Packungsgrößen gegenüberzustellen). Zu prüfen ist sodann, ob Besonderheiten der Dosierung Abweichungen
bei den ansonsten wirkungsgleichen Mengen der zu vergleichenden Arzneimittel nach sich ziehen. So enthält Ziffer 4.2 ("Dosierung,
Art und Dauer der Anwendung") der Fachinformation für Bisoprolol-ratiopharm 10 u.a. folgende Hinweise:
"Die Dosierung sollte individuell angepasst werden. Es wird empfohlen, mit der geringst möglichen Dosis zu beginnen. Bei manchen
Patienten können 5 mg/Tag ausreichend sein. Die übliche Dosis beträgt 10 mg 1-mal täglich bei einer empfohlenen maximalen
Tagesdosis von 20 mg.
...
Die Behandlung sollte nicht abrupt beendet werden (siehe Abschnitt 4.4 "Warnhinweise und Vorsichtsmaßnahmen für die Anwendung").
Die Dosierung sollte langsam durch eine wöchentliche Halbierung der Dosis verringert werden."
Hinweise dieser Art veranlassen zur Prüfung, ob sich die Behandlung mit dem beanstandeten Arzneimittel in der Anfangs- oder
Endphase befindet. Denn z.B. bei erstmaliger Verordnung wäre nach den o.g. Anwendungshinweisen zu prüfen, ob und ggf. wie
lange zunächst Bisoprolol-ratiopharm 5 einzunehmen ist, sodass ggf. auch eine N1-Packung dieses Arzneimittels in den Preisvergleich
eingestellt werden müsste. Entsprechendes gilt bei letztmaliger Verordnung.
Der Beschwerdeausschuss darf an dieser Stelle jedoch auch nicht außer Acht lassen, dass weder der Vertragsarzt noch der in
der Regel pflichtversicherte Patient gehalten sind, zahlreiche Therapieversuche durchzuführen. Macht der Vertragsarzt z.B.
geltend, einem Versicherten schon zwei preiswertere Arzneimittel mit demselben Anwendungsgebiet verordnet zu haben, die beide
zu unerwünschten Nebenwirkungen geführt hätten, dürfte er nicht verpflichtet sein, vor Verordnung des teureren (Original-)Präparates
zunächst sämtliche preiswerteren Nachahmerprodukte (Generika) bei diesem Versicherten auszutesten. Insbesondere vor dem Hintergrund,
dass "der Gesetzgeber durch die Anordnung von Zwangsmitgliedschaft und Beitragspflicht in einem öffentlich-rechtlichen Verband
der Sozialversicherung die allgemeine Betätigungsfreiheit des Einzelnen durch Einschränkung ihrer wirtschaftlichen Voraussetzungen
nicht unerheblich einengt" (BVerfGE 115, 25 m.w.N.), erscheint es auch im Lichte des Wirtschaftlichkeitsgebots unzumutbar, (Pflicht-)Versicherten im Rahmen der Versorgung
mit Arzneimitteln Therapieexperimente abzuverlangen. Unabhängig hiervon hält es der Senat für möglich, dass der Versuch, bei
einem Versicherten vor Verordnung eines teureren zunächst möglichst viele preiswertere Arzneimittel zum Einsatz zu bringen,
im Ergebnis unwirtschaftlicher sein kann, weil nach jedem Abbruch der Therapie mit einem der preiswerteren, aber medizinisch
(z.B. wegen unerwünschter Nebenwirkungen) ungeeigneten Präparate der größte Teil der verordneten Medikamentenpackung ungenutzt
bleibt.
cc.) Schließlich ist eine Entscheidung über die Höhe des Regressbetrages zu treffen. In diesem Zusammenhang können Abschläge
wegen Unsicherheiten über die konkrete Schadenshöhe (z.B. für den soeben dargestellten Fall von Empfehlungen zur aufbauenden
bzw. ausschleichenden Dosierung des Alternativpräparates) vorgenommen werden. Denkbar ist jedoch auch der völlige Verzicht
auf die Festsetzung eines Regresses, weil in Anbetracht der Umstände des Einzelfalles (z.B. Anfängerpraxis, geringe Schadenshöhe,
Vielzahl der in Betracht zu ziehenden Alternativpräparate, Vielzahl der Begleiterkrankungen der konkreten Versicherten) eine
Beratung als ausreichende Reaktion angesehen wird.
Das Erfordernis vorgängiger Beratung stellt gemäß §
106 Abs.
5 Satz 2
SGB V aF nur eine "Soll"-Vorgabe dar, die entsprechend dem Sinn und Zweck dieser Bestimmung nicht für den Fall unzweifelhafter
Unwirtschaftlichkeit gilt. Eine solche Konstellation ist bei statistischen Durchschnittsprüfungen daran festgemacht worden,
ob ein Mehraufwand im Bereich des sog. offensichtlichen Missverhältnisses vorliegt; eine vorausgehende Beratung ist dann nicht
erforderlich. Nichts anderes gilt bei Regressen aufgrund von Einzelfallprüfungen, wenn schon die Verordnungsfähigkeit fehlt.
Dies ist ein "Basis"mangel, sodass unzweifelhaft Unwirtschaftlichkeit gegeben ist und somit ein Fall vorliegt, in dem eine
vorgängige Beratung regelmäßig nicht mehr erforderlich ist (BSG, Urteil vom 6. Mai 2009, aaO.). In Fällen, in denen die Unwirtschaftlichkeit
auf der Verordnung eines teureren Arzneimittel beruht, für das eine preiswertere, therapeutische gleichwertige Alternative
besteht, könnte ggf. etwas anderes gelten, weil bereits eine Beratung dazu führt, dass der Vertragsarzt sich künftig die unterschiedlichen
Kosten vergegenwärtigt und einzelfallbezogen abwägt, ob der Einsatz des preiswerteren Arzneimittels vertretbar ist (vgl. hierzu
BSG, Urteil vom 20. Oktober 2004, aaO.).
b.) Ermessenserwägungen dieser Art finden sich in der angegriffenen Entscheidung des Beklagten nicht. Ungeachtet der fehlenden
Benennung eines konkreten Alternativpräparates sowie der daraus folgenden fehlenden Auseinandersetzung mit Begleiterkrankungen
der Versicherten einerseits und Nebenwirkungen dieses Alternativpräparates andererseits lässt die Entscheidung des Beklagten
in keiner Weise erkennen, dass er sich seines Ermessensspielraums bewusst war. Eine wertende Würdigung der Umstände des Einzelfalls
ist ihr nicht zu entnehmen.
Ohne die erforderliche Ermessensausübung ist der Bescheid des Beklagten gemäß §
54 Abs.
2 Satz 2
SGG rechtswidrig. Diese Vorschrift ist über ihren Wortlaut hinaus auch auf den hier vorliegenden sog. Ermessensnichtgebrauch
anzuwenden (Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer
Sozialgerichtsgesetz, 9.A., §
54 Rd. 27). Im Falle des Ermessensnichtgebrauchs ist auch eine Heilung des Begründungsmangels durch das Nachschieben von Ermessenserwägungen
(vgl. § 41 Abs. 2 i.V.m. Abs. 1 Nr. 2 SGB X) nicht möglich (aaO. Rd. 36 m.w.N.).
Deshalb kann offen bleiben, ob eine analoge Anwendung von §
114 Satz 2
Verwaltungsgerichtsordnung (
VwGO) hier in Betracht käme. Nach dieser Vorschrift kann die Verwaltungsbehörde ihre Ermessenserwägungen hinsichtlich des Verwaltungsaktes
auch noch im verwaltungsgerichtlichen Verfahren ergänzen. Die erstmalige Ausübung von Ermessen während des gerichtlichen Verfahrens
mit anschließender Mitteilung der Ermessenserwägungen ist von §
114 Satz 2
VwGO jedoch nicht erfasst (Bundesverwaltungsgericht DVBl. 07, 260).
Selbst wenn man das Nachholen einer Ermessensausübung während des Gerichtsverfahrens für zulässig hielte, stünden dem im Rahmen
der Wirtschaftlichkeitsprüfung gewichtige Bedenken entgegen, sollte das Nachholen - wie hier - allein durch den - grundsätzlich
umfassend zur Vertretung des Beschwerdeausschusses berechtigten - Vorsitzenden erfolgen. Denn die besondere aus seiner Zusammensetzung
herrührende Fachkunde dieses Gremiums, die die Einräumung eines gerichtlich nur eingeschränkt überprüfbaren Ermessensspielraums
rechtfertigt, käme in einem solchen Fall nicht zum Tragen.
5. Ob die Entscheidung des Beklagten vom 2. Juni 2005 aus weiteren Gründen - etwa wegen der Mitwirkung von Herrn Sch, wegen
unzureichender "Begründung" i.S.v. § 25 Nr. 2 Satz 1 PV oder wegen Missachtung der Bagatellgrenze - unwirksam ist, kann demzufolge
offen bleiben.
III. Die Kostenentscheidung beruht auf §
197 a Abs.
1 Satz 1, 2. Hs.
SGG i.V.m. §
154 Abs.
2, §
162 Abs.
3 VwGO und entspricht dem Ergebnis des Rechtsstreites.
Die Revision wird wegen grundsätzlicher Bedeutung zugelassen (§
160 Abs.
2 Nr.
1 SGG).