Tatbestand
Die Beteiligten streiten über das Ruhen eines Anspruchs auf Krankengeld.
Die im Jahr 1983 geborene Klägerin war als abhängig beschäftigte Physiotherapeutin bei der Beklagten gesetzlich krankenversichert,
als sie erkrankte und ihre Hausärztin, die Fachärztin für Allgemeinmedizin H., ihr am 11. März 2016 eine seit dem 10. März
2016 bestehende Arbeitsunfähigkeit aufgrund der Diagnosen J06.9 (Akute Infektion der oberen Atemwege, nicht näher bezeichnet)
und R53 (Unwohlsein und Ermüdung) bescheinigte. Am 14. März 2016 (bis zum 18. März 2016), 22. März 2016 (bis zum 5. April
2016) stellte die Ärztin eine fortbestehende Arbeitsunfähigkeit aufgrund dieser Diagnosen und am 5. April 2016 (bis zum 20.
April 2016) nur noch aufgrund der Diagnose R53 fest. Bis zum 20. April 2016 erhielt die Klägerin Entgeltfortzahlung durch
ihre damalige Arbeitgeberin, der sie zunächst telefonisch von der Arbeitsunfähigkeit berichtet hatte.
Am 21. April 2016 (bis zum 30. April 2016) bescheinigte Frau H. eine fortbestehende Arbeitsunfähigkeit unter Angabe der Diagnosen
R53 und erstmals F43.2 (Anpassungsstörungen) sowie F48.0 (Neurasthenie).
Am 4. Mai 2016 (bis zum 10. Mai 2016) und 11. Mai 2016 (bis zum 8. Juni 2016) attestierte die Hausärztin der Klägerin eine
weiterhin bestehende Arbeitsunfähigkeit aufgrund der Diagnosen F43.2, F48.0 und R53. Schließlich stellte sie bei unveränderten
Diagnosen und (bis Oktober 2020) fortbestehendem Arbeitsverhältnis am 6. Juni 2016 eine weitere Folgebescheinigung bis zum
4. Juli 2016 aus.
Am 23. Juni 2016 gingen bei der Beklagten sämtliche Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen mit Ausnahme derjenigen vom 21. April
2016 ein. Die Klägerin, die zuvor von ihrer damaligen Arbeitgeberin aufgefordert worden war, ihr die Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen
zu übersenden, was sie gleichzeitig auch tat, bat in ihrem Begleitschreiben vom 20. Juni 2016 um Entschuldigung und Verständnis
für die späte Einreichung. Ihre mentale Situation habe ein frühzeitiges Handeln nicht zugelassen. Sie befinde sich zum ersten
Mal in der Situation, Krankengeld zu beziehen.
Mit Bescheid vom 27. Juni 2016 teilte die Beklagte der Klägerin mit, dass die Arbeitsunfähigkeit nicht innerhalb der gesetzlichen
Frist von sieben Tagen nach deren Feststellung und damit verspätet nachgewiesen worden sei (Hinweis auf § 49 Abs. 1 Nr. 5
des Fünften Buchs Sozialgesetzbuch <SGB V>). Daher ruhe der Anspruch auf Krankengeld für die Zeit vom 10. März 2016 bis zum
22. Juni 2016. Ein Anspruch auf Krankengeld bestehe erst ab dem 23. Juni 2016. Die Höhe betrug kalendertäglich 35,87 Euro
netto (40,92 Euro brutto), und die Zahlungen wurden in der Folge von der Beklagten bei fortlaufend bescheinigter und jeweils
rechtzeitig von der Klägerin angezeigter Arbeitsunfähigkeit bis zum 22. Februar 2017 fortgesetzt.
Die Klägerin erhob mit E-Mail vom 27. Juli 2016 und nachfolgendem Schreiben vom 8. August 2016 Widerspruch gegen die Ruhensregelung
bis zum 22. Juni 2016. Sie sei aus gesundheitlichen Gründen nicht in der Lage gewesen, die Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen
rechtzeitig vorzulegen. Darüber hinaus befinde sie sich zum ersten Mal in der Situation, Krankengeld zu beziehen. Daher seien
ihr die damit verbundenen Pflichten nicht bekannt gewesen. Selbst wenn dies der Fall gewesen wäre, wäre sie „vermutlich“ nicht
in der Lage gewesen, die Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen rechtzeitig bei der Beklagten einzureichen. Zur Unterstützung
ihres Vorbringens legte die Klägerin eine Bescheinigung ihrer Hausärztin vom 26. Juli 2016 vor, wonach die Art der Erkrankung
dazu führe, dass die Klägerin alltägliche Belange wie zum Beispiel die rechtzeitige Erledigung schriftlicher Aufgaben bzw.
Anfragen sowie finanzielle Angelegenheiten nicht ordnungsgemäß und zeitlich angemessen erledigen könne.
Die Beklagte wies den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 14. Dezember 2016 als unbegründet zurück. Der Gesetzgeber habe
für Notsituationen wie zum Beispiel die Überwindung von Akutsituationen im Krankheitsverlauf bereits eine ausreichende Vorlagefrist
für die Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen von bis zu einer Woche eingeräumt. Diese Frist habe die Versicherte weit überschritten.
Einen ausreichenden Verhinderungsgrund habe sie nicht anführen können.
Die Klägerin hat am 12. Januar 2017 Klage vor dem Sozialgericht (SG) Hamburg erhoben und die Verurteilung der Beklagten zur Zahlung von Krankengeld für die Zeit vom 21. April 2016 bis zum 22.
Juni 2016 begehrt.
Sie hat ihr Vorbringen aus dem Widerspruchsverfahren wiederholt und vertieft. Ihre Erkrankung habe zu starker Antriebsstörung,
Merk- und Konzentrationsstörungen geführt. Sie sei unfähig gewesen, den Tagesablauf zu strukturieren und sich um die Erledigung
bürokratischer Angelegenheiten zu kümmern. Zudem habe sie Angst vor sozialen Kontakten gehabt und solche daher in der Folge
vermieden. Insgesamt habe sie sich in einem Zustand befunden, der von Grübeleien, Apathie und völliger Passivität bzw. Handlungsunfähigkeit
geprägt gewesen sei. So sei sie im fraglichen Zeitraum nicht in der Lage gewesen, ihren Briefkasten zu leeren und sich um
ihre Angelegenheiten zu kümmern. Dementsprechend habe sie es auch zweimal versäumt, ihre Hausärztin rechtzeitig zur nahtlosen
Ausstellung einer Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung aufzusuchen. Zur Bestätigung dieses Vortrags hat die Klägerin sich auf
Atteste ihrer Hausärztin H. vom 23. September 2016 mit Ergänzung nach Beendigung der dortigen Behandlung am 16. November 2016
sowie der weiterbehandelnden Ärztin T. von der Verhaltenstherapie F. GmbH – Psychotherapie, Psychiatrie, Psychosomatik für
Erwachsene und Kinder, Ambulanz und Tagesklinik – (im Folgenden: M.) vom 2. Februar 2017 (Diagnosen: F33.1 <Rezidivierende
depressive Störung, gegenwärtig mittelgradige Episode mit starker Antriebsstörung>, F50.3 <Atypische Bulimia nervosa> und
Z73 V <Verdacht auf Akzentuierung der Persönlichkeit <<selbstunsicher>> >) berufen.
Die Beklagte hat dem entgegengehalten, dass sich aus der klar und strukturiert abgefassten (Widerspruchs-)E-Mail der Klägerin
nicht erkennen lasse, dass die gesundheitlichen Einschränkungen so gravierend gewesen seien, dass es der Klägerin unmöglich
gewesen wäre, die Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen mit der Post zu versenden. Zudem sei es der Klägerin auch möglich gewesen,
am 11., 14. und 22. März, 5. April, 4. und 11. Mai sowie 6. Juni 2016 die behandelnde Hausärztin aufzusuchen. Es wäre ihr
ohne weiteres möglich gewesen, die Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen auf dem Weg von der Praxis nach Hause bei der Post aufzugeben.
Das SG hat einen Befundbericht von Frau H. (vom 31. Mai 2017 mit anliegenden Berichten des M. vom 29. September und 9. Dezember
2016) angefordert, über die Klage am 14. Oktober 2020 mündlich verhandelt und diese mit Urteil vom selben Tag als unbegründet
abgewiesen.
Der Bescheid der Beklagten vom 27. Juni 2016 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 14. Dezember 2016 sei rechtmäßig und
verletze die Klägerin nicht in ihren Rechten. Die Klägerin habe keinen Anspruch auf Krankengeld für die Zeit vom 21. April
2016 bis zum 22. Juni 2016.
Anspruchsgrundlage für einen Anspruch auf Krankengeld sei §
44 Abs.
1 SGB V. Danach hätten Versicherte Anspruch auf Krankengeld, wenn die Krankheit sie arbeitsunfähig mache oder sie auf Kosten der
Krankenkasse stationär in einem Krankenhaus, einer Vorsorge- oder Rehabilitationseinrichtung (§ 23 Abs. 4, §§ 24, 40 Abs.
2 und §
41) behandelt würden. Der Anspruch auf Krankengeld entstehe gemäß §
46 S. 1 Nr. 2
SGB V von dem Tag der ärztlichen Feststellung der Arbeitsunfähigkeit an und bleibe nach §
46 S. 2
SGB V jeweils bis zu dem Tag bestehen, an dem die weitere Arbeitsunfähigkeit wegen derselben Krankheit ärztlich festgestellt werde,
wenn diese ärztliche Feststellung spätestens am nächsten Werktag nach dem zuletzt bescheinigten Ende der Arbeitsunfähigkeit
erfolge.
Diese Voraussetzungen hätten vorgelegen. Zwischen den Beteiligten sei unstreitig, dass die Klägerin im streitgegenständlichen
Zeitraum arbeitsunfähig gewesen sei. Auch sei ihr die Arbeitsunfähigkeit von ihrer Hausärztin lückenlos bescheinigt worden.
Der Krankengeldanspruch habe jedoch für den streitgegenständlichen Zeitraum vom 21. April 2016 bis zum 22. Juni 2016 geruht.
Nach §
49 Abs.
1 Nr.
5 SGB V ruhe der Anspruch auf Krankengeld, solange die Arbeitsunfähigkeit der Krankenkasse nicht gemeldet werde; dies gelte nicht,
wenn die Meldung innerhalb einer Woche nach Beginn der Arbeitsunfähigkeit erfolge. Diese Wochenfrist sei hier nicht eingehalten.
Die Klägerin habe sämtliche in der Zeit vom 10. März 2016 bis zum 6. Juni 2016 ausgestellten Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen
der Beklagten erst im Juni 2016 übersandt. Sie seien bei der Beklagten erst am 23. Juni 2016 und damit nicht innerhalb der
Wochenfrist des §
49 Abs.
1 Nr.
5 SGB V eingegangen.
Es liege auch kein Ausnahmefall vor, in dem auf der Grundlage der bereits zu §
49 Abs.
1 Nr.
5 SGB V ergangenen Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) von der strikten Anwendung der Ruhensvorschrift abgesehen werden könnte. Solche Ausnahmen seien in der Rechtsprechung nur
in engen Grenzen anerkannt. So dürfe die fehlende Feststellung oder Meldung der Arbeitsunfähigkeit dem Versicherten ausnahmsweise
nicht entgegengehalten werden, wenn er geschäfts- oder handlungsunfähig gewesen sei oder wenn er seinerseits alles in seiner
Macht Stehende getan habe, um seine Ansprüche zu wahren, daran aber durch eine von der Krankenkasse zu vertretende Fehlentscheidung
gehindert worden sei (Hinweis auf z.B. BSG, Urteil vom 25. Oktober 2018 – B 3 KR 23/17 R, juris-Rn. 21).
Anhaltspunkte für eine Geschäfts- oder Handlungsunfähigkeit lägen hier nicht vor. Dabei habe das Gericht keinen Zweifel daran,
dass die Klägerin im streitgegenständlichen Zeitraum durch ihre Erkrankung stark beeinträchtigt gewesen sei. Ihre behandelnde
Ärztin habe bestätigt, dass die Klägerin alltägliche Belange nicht ordnungsgemäß und zeitlich angemessen habe erledigen können.
Gleichwohl sei hiermit nicht zugleich festgestellt, dass die Klägerin über mehrere Monate nicht in der Lage gewesen sei, von
vernünftigen Erwägungen geleitete Handlungen vorzunehmen. Aus den im streitgegenständlichen Zeitraum von der Hausärztin dokumentierten
Diagnosen lasse sich auch nicht herleiten, dass sich die Klägerin vorübergehend in einem der Geschäfts- und Handlungsunfähigkeit
ähnlichen Zustand befunden habe. Zwar gehe aus dem Arztbrief des M. vom 29. September 2016 hervor, dass die Klägerin auch
an einer rezidivierenden depressiven Störung, gegenwärtig mittelgradige Episode, gelitten habe, woraus eine Antriebsminderung
bzw. Antriebsarmut folge. Trotz aller aus diesem Befund folgenden Einschränkungen sei eine mittelgradige depressive Störung
nicht mit einer Handlungsunfähigkeit vergleichbar. Dies zeige auch die Tatsache, dass die Klägerin während des gesamten streitgegenständlichen
Zeitraums in der Lage gewesen sei, ihre Ärztin aufzusuchen, um sich die fortbestehende Arbeitsunfähigkeit bescheinigen zu
lassen. Weiterhin berücksichtige die gesetzliche Regelung durch die Einräumung einer Wochenfrist bereits, dass ein arbeitsunfähiger
Versicherter aufgrund seiner Erkrankung unter Umständen nicht in der Lage sei, die Krankenkasse umgehend über seine Arbeitsunfähigkeit
in Kenntnis zu setzen, sondern mehr Zeit benötige, um seinen Informationspflichten nachzukommen. Auch gebiete der Zweck des
§
49 Abs.
1 Nr.
5 SGB V eine strikte Anwendung der Vorschrift: Durch die Meldefrist solle die Krankenkasse möglichst frühzeitig von der Arbeitsunfähigkeit
erfahren, damit sie sich unter Einschaltung des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung (MDK, jetzt: Medizinischer
Dienst, MD) gegebenenfalls selbst ein Bild von der Erkrankung der versicherten Person machen könne.
Schließlich könne die Klägerin auch nichts daraus herleiten, dass sie erstmalig Krankengeld bezogen habe und ihr die daraus
resultierenden Verpflichtungen gegenüber der Krankenkasse nicht bekannt gewesen seien. Bei der Meldepflicht des §
49 Abs.
1 Nr.
5 SGB V handele es sich um eine Obliegenheit des Versicherten. Eine Pflicht der Krankenkassen zur Aufklärung der Versicherten über
ihre Obliegenheiten bestehe nicht (Hinweis auf BSG, Urteil vom 16. Dezember 2014 – B 1 KR 25/14 R, juris-Rn. 16).
Gegen dieses ihrem Prozessbevollmächtigten am 25. November 2020 zugestellte Urteil richtet sich die am 28. Dezember 2020,
dem Montag nach Weihnachten, eingelegte Berufung der Klägerin, mit der sie daran festhält, dass sie als handlungsunfähig anzusehen
gewesen sei und deshalb ein Ausnahmefall im Sinne der Rechtsprechung des BSG vorliege. Das SG habe verkannt, dass die psychischen Anforderungen daran, seinen behandelnden Arzt aufzusuchen, sich bei einem Krankheitsbild,
wie es hier bestanden habe, wesentlich von den psychischen Belastungen unterscheide, die mit der Vornahme von Handlungen wie
dem Führen schriftlicher Korrespondenz verbunden seien. Gerade aus dem Umstand, dass die Klägerin nach den Arztbesuchen die
Bescheinigung nicht jeweils rechtzeitig bzw. zumindest zeitnah an die Beklagte weitergeleitet habe, werde deutlich, dass dem
von der Klägerin seinerzeit krankheitsbedingt nicht überwindbare Hindernisse entgegengestanden hätten. Sie habe im streitigen
Zeitraum alles verdrängt, was die Erfüllung von Verpflichtungen gegenüber Dritten betroffen habe, auch wenn dies nur mit einfachsten
Handlung verbunden gewesen sei. Zwar dürfte es zutreffen, dass sich allein aus der vom M. mitgeteilten Diagnose einer rezidivierenden
depressiven Störung bei mittelgradiger Episode die geschilderte Handlungsunfähigkeit nicht ergebe. Sie habe jedoch gleichwohl
bestanden. Dies werde eine medizinische Sachverhaltsaufklärung ergeben.
Die Klägerin beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Hamburg vom 14. Oktober 2020 aufzuheben und die Beklagte unter Aufhebung deren Bescheids vom
27. Juni 2016 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 14. Dezember 2016 zu verurteilen, ihr – der Klägerin – Krankengeld
auch für den vom Zeitraum 21. April 2016 bis zum 22. Juni 2016 zu gewähren.
Die Beklagte beantragt schriftsätzlich,
die Berufung zurückzuweisen.
Sie hält die angefochtene Entscheidung für richtig und nimmt auf diese Bezug. Eine Handlungsunfähigkeit der Klägerin im Ruhenszeitraum
lasse sich nicht feststellen. Eine solche ergebe sich schon nicht aus der vom M. aufgrund einer Untersuchung vom 29. November
2016 diagnostizierten mittelgradigen depressiven Störung. Hinzu komme, dass in den Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen für
den maßgeblichen Zeitraum weder eine depressive Störung noch eine depressive Episode bezeichnet worden sei. Weiter sei zu
beachten, dass es für die Meldung der Arbeitsunfähigkeit nicht erforderlich gewesen wäre, eine schriftliche Korrespondenz
im Sinne des Verfassens von Texten zu führen. Es hätte ausgereicht, der Beklagten die Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen zu
übersenden.
Der Senat hat Beweis erhoben durch Einholung eines schriftlichen Sachverständigengutachtens von der von der Klägerin nach
§
109 des
Sozialgerichtsgesetzes (
SGG) benannten Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie, Geriatrie, Verkehrsmedizin, Suchtmedizin Prof. Dr. H1, die nach
Untersuchung der Klägerin am 14. Januar 2022 unter dem 23. Januar 2022 zu dem Ergebnis gekommen ist, dass mangels erhobener
psychiatrischer Befunde eine direkte positive Feststellung verminderter Handlungsunfähigkeit der im Zeitraum vom 21. April
bis 22. Juni 2016 arbeitsunfähigen Klägerin zwar nicht möglich, jedoch aus gutachterlicher Sicht festzustellen sei, dass die
vorliegende Aktenlage und der Beschwerdevortrag der Klägerin in sich kongruent seien und die gutachterliche Einschätzung,
dass im strittigen Zeitraum eingeschränkte Handlungsfähigkeit der Klägerin im Hinblick auf die Erledigung von Behördenangelegenheiten
vorgelegen habe, stützten.
Unter Berücksichtigung des psychopathologischen Befunds des M. vom 28. September 2016, der vorherigen hausärztlichen Dokumentation
und der von der Sachverständigen erhobenen Eigenanamnese der Klägerin sei davon auszugehen, dass jedenfalls seit März 2016
eine mittelgradige depressive Episode bei rezidivierender depressiver Störung nebst einer deren Symptome verstärkenden selbstunsicheren
Persönlichkeitsstruktur vorgelegen hätten. Angesichts des von der Klägerin geschilderten ausgeprägten Vermeidungsverhaltens
mit fehlender kognitiver Verarbeitung von affektiv aversiven Reizen wie z.B. der Notwendigkeit, den Briefkasten zu leeren,
sei von einer vorübergehenden Störung der Geistestätigkeit im Sinne der §§
104 Abs.
2,
105 Abs.
2 des
Bürgerlichen Gesetzbuchs (
BGB) im streitigen Zeitraum auszugehen.
Zur Ergänzung des Tatbestandes wird auf die Sitzungsniederschrift vom 23. Juni 2022, die vorbereitenden Schriftsätze der Beteiligten
und den weiteren Inhalt der Prozessakte sowie der beigezogenen Verwaltungsakte der Beklagten Bezug genommen.
Wie die Beklagte zu Recht ausführt, fehlt es an Anknüpfungstatsachen, auf deren Grundlage der volle Beweis im Sinne der Klägerin
erbracht werden könnte. Für den streitgegenständlichen Zeitraum vom 21. April bis 22. Juni 2016 liegen lediglich die von der
Hausärztin erhobenen Befunde vor, die die Annahme von Geschäfts- bzw. Handlungsunfähigkeit der Klägerin in diesem Zeitraum
unter keinen Umständen zu stützen vermögen, wie das Sozialgericht zu Recht ausgeführt hat. Gleiches gilt ebenso für die von
der Hausärztin in diesem Zeitraum gestellten Diagnosen wie für die erst mehrere Monate danach (und auch nach der verspäteten
Übersendung der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen, also zu einem Zeitpunkt, als unstreitig keine Handlungsunfähigkeit bestand)
im MVZ Falkenried gestellten Diagnosen. Darüber hinaus sprechen auch die nach Übersendung der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen
mit dem Widerspruch Ende Juli 2016 durch die Klägerin gemachten Ausführungen eher gegen eine zuvor bestehende Handlungsunfähigkeit.
Sie wies damals in erster Linie darauf hin, dass sie sich zum ersten Mal in der Situation befunden habe, Krankengeld zu beziehen,
und ihr deshalb die Einreichungspflicht nicht geläufig gewesen sei. Erst in zweiter Linie erklärte sie, dass ihr das „vermutlich“
(also nicht mit Gewissheit) zu der Zeit nicht möglich gewesen wäre, behauptete also nicht einmal selbst die Tatsache, die
nunmehr durch das Sachverständigengutachten hat bewiesen werden sollen, was jedoch nicht gelungen ist.
Die Sachverständige räumt ein, dass eine direkte positive Feststellung verminderter Handlungsunfähigkeit der Klägerin im strittigen
Zeitraum nicht möglich sei. Soweit sie aufgrund des dargestellten typischen Verlaufs einer depressiven Erkrankung und der
eigenen Angaben der Klägerin, die sie uneingeschränkt ihrer Bewertung zugrunde legt, unterstellt, dass trotz fehlender psychiatrischer
Befunde im strittigen Zeitraum zum einen bereits damals die erst etwa ein halbes Jahr später im September 2016 im MVZ Falkenried
gestellte Diagnose einer mittelgradigen depressiven Episode im Rahmen einer rezidivierenden depressiven Störung nebst einer
selbstunsicheren Persönlichkeitsstruktur vorgelegen habe und dies zum anderen zu einer vorübergehenden krankhaften Störung
der Geistestätigkeit geführt habe, vermag der erkennende Senat beidem, insbesondere Letzterem nicht näherzutreten, wobei die
Sachverständige letztlich selbst eine Einschätzung unterhalb des Grades eines Vollbeweises abgibt, indem sie ausführt, dass
die Aktenlage und der Beschwerdevortrag der Klägerin in sich kongruent seien und die gutachterliche Einschätzung, dass im
strittigen Zeitraum eingeschränkte Handlungsfähigkeit der Klägerin im Hinblick auf die Erledigung von Behördenangelegenheiten
vorgelegen habe (Anm. des Senats: lediglich) „stützten“. Soweit die Sachverständige eine „deutliche Beeinträchtigung“ der
Urteils-, Entscheidungs- und Handlungsfähigkeit bzw. eine „eingeschränkte“ Handlungsunfähigkeit annimmt, ist dies im Übrigen
bereits nicht geeignet, einen Ausnahmetatbestand im Sinne einer Geschäfts- oder Handlungsunfähigkeit bzw. eines entsprechenden
Zustands zu erfüllen. Darüber hinaus erscheinen die Schlussfolgerungen der Sachverständigen unschlüssig.
Abgesehen davon, dass die Angaben der Klägerin gegenüber der Sachverständigen fast sechs Jahre nach dem streitigen Zeitraum
erfolgt und daher naturgemäß in ihrer uneingeschränkten Richtigkeit zu hinterfragen sind, spricht der Umstand, dass die im
streitigen Zeitraum und davor behandelnde Hausärztin der Klägerin für diesen Zeitraum zunächst gar keine psychiatrische Diagnose
stellte und dann im Laufe des Monats Mai 2016 zunächst andere als die später gestellte Diagnose einer Depression, obwohl die
Hausärztin vor dem streitigen Zeitraum im Januar 2016 – anders als danach – durchaus von einer depressiven Erschöpfung ausgegangen
war, gegen die (sichere) Annahme, dass im März 2016 bereits dasselbe Krankheitsbild wie im September 2016 und danach vorgelegen
habe.
Abschließend sei darauf hingewiesen, dass die von der Klägerin im Klageverfahren mit Schriftsatz vom 18. Februar 2020 vorgelegte
Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung vom 21. April 2016 der Beklagten zuvor nicht übermittelt worden und daher nicht unverzüglich
nach Wegfall des behaupteten Hindernisses einer Handlungsunfähigkeit bei der Beklagten eingereicht worden war, sodass im Zeitraum
vom 21. bis 30. April 2016, also unmittelbar vor der anspruchsausschließenden Feststellungslücke vom 1. bis 3. Mai 2016, bereits
deshalb der Krankengeldanspruch ruhte.