Krankenversicherung - Kostenerstattung - Psychotherapie - Systemversagen - Nachweis
Gründe
Die am 23. Mai 2022 eingelegte Beschwerde der Antragsgegnerin gegen den Beschluss des Sozialgerichts Hamburg vom 8. Mai 2022
ist statthaft und zulässig (§§
172,
173 des
Sozialgerichtsgesetzes -
SGG). Sie ist auch begründet.
I.
Nach §
86b Abs.
2 Satz 2
SGG sind einstweilige Anordnungen zur Regelung eines vorläufigen Zustands in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig,
wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint. Die Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes
setzt in diesem Zusammenhang einen Anordnungsanspruch voraus, also einen materiell-rechtlichen Anspruch auf die Leistung,
zu welcher die Antragsgegnerin im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes verpflichtet werden soll, sowie einen Anordnungsgrund,
nämlich einen Sachverhalt, der die Eilbedürftigkeit der Anordnung begründet. Anordnungsanspruch und Anordnungsgrund sind nach
§
86b Abs.
2 Satz 4
SGG in Verbindung mit §
920 Abs.
2, §
294 Zivilprozessordnung (
ZPO) glaubhaft zu machen.
Die Antragstellerin hat zur Überzeugung des Senates einen Anordnungsanspruch – noch – nicht glaubhaft gemacht. Ob darüber
hinaus auch ein Anordnungsgrund besteht, bedarf daher keiner weiteren Ausführungen.
Die rechtlichen Grundlagen für einen Anspruch auf eine ambulante Psychotherapie in Form von 4 probatorischen Sitzungen und
einer Kurzzeittherapie im Umfang von bis zu 24 Einzelsitzungen hat das Sozialgericht zutreffend dargestellt. Hierauf wird
Bezug genommen. Der psychotherapeutische Bedarf der Antragstellerin ist unstreitig, ebenso deren grundsätzlicher Sachleistungsanspruch
auf ambulante Psychotherapie, zunächst in Form von 4 probatorischen Sitzungen und im Anschluss einer Kurzzeittherapie im Umfang
von bis zu 24 Einzelsitzungen. Dies ist durch entsprechende Bescheinigungen der Antragstellerin hinreichend glaubhaft gemacht
und wird auch von der Antragsgegnerin nicht in Zweifel gezogen. In ihrer Bescheinigung vom 22. November 2021 attestierte die
gerade nicht behandelnde Psychologische Psychotherapeutin, Frau S., der Antragstellerin eine "Krankheit" im Sinne des
SGB V in Form einer rezidivierenden depressiven Störung, gegenwärtig mittelgradige Episode (F 33.1 G) und eine generalisierte Angststörung
(F 41.1. G). Zugleich wies sie darauf hin, dass eine Langzeittherapie, gegebenenfalls auch beginnend als Kurzzeittherapie,
dringend erforderlich sei, um eine Symptomverschlimmerung und Chronifizierung (= stationärer Aufenthalt) zu vermeiden, diese
in ihrer Praxis aber nicht durchgeführt werden könne.
Aufgrund des Vorbringens der Antragsgegnerin im Beschwerdeverfahren und der Reaktion der Antragstellerin insbesondere auf
die Nachfragen des Senats hierauf geht der Senat abweichend von der Ansicht des Sozialgerichts allerdings derzeit davon aus,
dass ein Anordnungsanspruch für eine systemwidrige privatärztliche – statt einer systemkonformen kassenärztlichen – Versorgung
der Antragstellerin in Form des sogenannten Systemver-sagens noch nicht hinreichend überzeugend glaubhaft gemacht worden ist.
Dieses Systemversagen führt nicht zu der Einbeziehung des von der Antragstellerin gewünschten und nicht zugelassenen Therapeuten
B.C. in das Sachleistungssystem der Gesetzlichen Krankenversicherung, sondern zu der Anwendbarkeit von §
13 Abs.
3 Sozialgesetzbuch Fünftes Buch (
SGB V) – hier in der Konstellation eines Freistellungsanspruches (vgl. BSG, Urt. v. 18.07.2006 – B 1 KR 24/05 R –, Rn. 30ff bei juris). Ein Notfall im Sinne des §
76 Abs.
1 Satz 2
SGB V, wonach andere Ärzte (Psychotherapeuten) nur in Notfällen in Anspruch genommen werden dürfen, liegt hier nicht vor. Ein Notfall
liegt grundsätzlich vor, wenn die Behandlung aus medizinischen Gründen so dringend ist, dass es bereits an der Zeit für die
Auswahl eines zugelassenen Therapeuten und dessen Behandlung, entweder durch dessen Aufsuchen oder Herbeirufen, fehlt (so:
BSG, Urteil vom 23.06.2015 –
B 1 KR 20/14 R –; LSG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 08.10.2018 – L 11 KR 720/17 –). Dieses Ausmaß an Dringlichkeit besteht vorliegend nicht.
Überdies ist auch in einem solchen Fall ein Kostenerstattungs- (oder Freistellungs-) anspruch des Versicherten ausgeschlossen,
da der Leistungserbringer seine Vergütung nicht vom Versicherten, sondern nur von der Kassenärztlichen Vereinigung verlangen
kann. Denn die Notfallbehandlung erfolgt als Naturalleistung zu Lasten der GKV. Das entspricht bei ärztlichen Leistungen einem
allgemeinen Prinzip. So werden in Notfällen von Nichtvertragsärzten erbrachte Leistungen im Rahmen der vertragsärztlichen
Versorgung durchgeführt und aus der Gesamtvergütung vergütet (so auch LSG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 8. 10.2018 –
L 11 KR 720/17 –, Rn. 30, juris).
Ein Systemversagen liegt vor, wenn kein anderer als ein außervertraglicher Leistungserbringer für die Behandlung zur Verfügung
steht (vgl. BSG, a.a.O., Rn. 35 m.w.N.). Von einer derartigen Situation geht der Senat im Fall der Antragstellerin derzeit noch nicht aus.
Denn der Senat sieht es nicht als glaubhaft gemacht an, dass aktuell im zumutbaren zeitlichen und räumlichen Rahmen kein zugelassener
Therapeut verfügbar ist, der zu einer Therapie der Antragstellerin bereit wäre.
Ein fester Maßstab für die Frage des Umfangs und der Zumutbarkeit derjenigen Anstrengungen, die ein Versicherter zu unternehmen
hat, um einen vertragsärztlich zugelassenen Behandler für sich zu finden und anderenfalls auf privatärztliche Behandler auszuweichen,
ist gesetzlich nicht geregelt. Einen Anhaltspunkt liefert §
75 SGB V, dessen Abs.
1a S. 6 und 7
SGB V, sich mit Details des Sicherstellungsauftrags der Kassenärztlichen Vereinigung befasst. Danach darf die Wartezeit eines Versicherten
auf einen Behandlungstermin vier Wochen nicht überschreiten und die Entfernung zwischen Wohnort des Versicherten und dem vermittelten
Arzt muss zumutbar sein.
In der Rechtsprechung wird zum Nachweis eines Systemversagens verlangt, dass Versicherte sich nachhaltig um eine Behandlung
bemüht haben, dabei wird zumeist von einer Vielzahl von Kontaktaufnahmen in einem größeren räumlichen Umfeld des Versicherten
ausgegangen, die letztlich ohne Ergebnis geblieben sind (vgl. LSG Hessen, Urteil vom 18.4.2019 – L 1 KR 360/18, juris). Zu berücksichtigen sind die tatsächlichen Vor-Ort-Verhältnisse, die bei der Arztsuche bestehen, und bspw. auch die
gesundheitlichen Einschränkungen, denen der Versicherte bei der Bewältigung der Wegstrecken zum und vom Arzt ausgesetzt ist,
ebenso wie seine persönlichen Verhältnisse. Dabei besteht ein Unterschied zwischen der Versorgungslage im ländlichen Bereich
und in einer Großstadt, in welchem sowohl die Arztdichte größer als auch die Verkehrsanbindung des öffentlichen Personennahverkehrs
deutlich besser ist und in einem engeren Zeittakt besteht. Diese tatsächlichen Umstände wirken sich wiederum auf den Maßstab
für die Zumutbarkeit aus (vgl. u.a. SG Leipzig, Beschluss vom 17. Dezember 2019 – S 8 KR 1773/19 ER –; LSG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 5. November 2021 – L 26 KR 8/20 –, beide in juris). Im Großstadtbereich ist der Antragstellerin daher zumutbar, auch Therapeuten anzufragen, die weder im
nahen räumlichen Umfeld der Antragstellerin noch im Innenstadtbereich praktizieren, sondern auch am Stadtrand ihre Praxis
betreiben.
Die Antragstellerin hat im Verwaltungsverfahren auf Nachfrage der Antragsgegnerin mitgeteilt, dass sie sich bei insgesamt
5 Therapeuten per Mail um einen Therapieplatz bemüht habe, jeweils aber per Mail aufgrund fehlender Kapazitäten des Behandlers
Absagen erhalten habe, weshalb sie nunmehr die Behandlung bei einem privatärztlich zugelassenen psychologischen Psychotherapeuten
durchführen möchte. Zu Recht weist die Antragsgegnerin in diesem Zusammenhang darauf hin, dass die von der Antragstellerin
kontaktierten Praxen alle im unmittelbaren Innenstadtbereich (bis auf eine im Bereich B.) liegen und der Antragstellerin eine
Suche im gesamten Stadtgebiet zumutbar sei. Dies umso mehr, als die Antragsgegnerin zu Recht darauf hinweist, dass im Bereich
der Stadt H. 243 ärztliche Leistungserbringer, bei denen Psychotherapie in Anspruch genommen werden kann, gelistet seien.
Daneben böten insgesamt 1087 Psychologische Psychotherapeuten im Stadtgebiet ihre Leistungen an. Bereits 23 psychologische
Psychotherapeuten befänden sich im Umkreis von 5 km um die Postleitzahl der Antragstellerin. Da die Antragstellerin derzeit
arbeitsunfähig ist, dürfte es ihr auch problemlos möglich sein, über einige Zeit nach geeigneten zugelassenen Behandlern zu
suchen. Dabei geht der Senat davon aus, dass eine reine E-Mail-Anfrage möglicherweise den Anforderungen nicht entspricht,
sondern auch eine telefonische Kontaktaufnahme zur Erläuterung der Dringlichkeit der Behandlung zumutbar ist. Jedenfalls dürften
fünf E-Mails an im Innenstadtgebiet (bzw. in B.) tätige Praxen den Anforderungen an die Glaubhaftmachung eines Systemversagens
– noch – nicht entsprechen, dies umso mehr als die Kontakte aus der Zeit Januar 2021 bis Oktober 2021 stammen und daher veraltet
sein dürften. Auf die Nachfrage des Senats unter Hinweis auf die geringe Zahl der Kontakte und deren Alter hat die Antragstellerin
keine neuen bzw. weiteren Angaben gemacht.
Dem Senat ist es schließlich aber wichtig, darauf hinzuweisen, dass es allgemein bekannt sein dürfte, dass das Angebot an
psychotherapeutischen Behandlungen gerade auch in der Zeit nach den durch Corona bedingt vermehrt aufgetretenen therapeutischen
Behandlungsnot-wendigkeiten äußerst knapp ist und es verstärkter Anstrengungen der Versicherten bedarf, um einen Therapieplatz
zu finden. Die Hürde eines Systemversagens, die eine Finanzierung einer Therapie außerhalb des kassenärztlichen Versorgungssystems
überwinden muss, erfordert jedoch nach wie vor die Glaubhaftmachung einer Versorgungslücke. Diese könnte vorliegen, wenn eine
ergebnislose Kontaktierung von jedenfalls 20 niedergelassenen Therapeuten im Stadtgebiet bzw. im an den Wohnort der Antragstellerin
angrenzenden nördlichen Bereich Niedersachsens dokumentiert und dem Gericht bzw. der Antragsgegnerin gegenüber nachgewiesen
worden ist; die alleinige Kontaktaufnahme über E-Mail erscheint dem Senat dabei möglicherweise aber nicht ausreichend. Erfüllt
die Antragstellerin diese Anforderungen, dreht sich allerdings die Nachweispflicht um und die Antragsgegnerin hat die Antragstellerin
bei der Therapeutensuche aktiv zu unterstützen, indem sie von sich aus mit zugelassenen Leistungserbringern in Kontakt tritt
und nach freien Kapazitäten fragt um diese dann der Antragstellerin zu vermitteln. Erst damit erfüllt sie den Versorgungsauftrag,
der grundsätzlich in ihrem Verantwortungsbereich liegt (SG Leipzig, Beschluss vom 17. Dezember 2019 – S 8 KR 1773/19 ER –, SG Berlin, Urteil vom 9.4.2018 – S 81 KR 1002/17 –, beide juris). Der Verweis auf die Leistungen der Terminservicestelle der Kassenärztlichen Vereinigung reicht dabei nicht
aus – ebensowenig wie die im Verfahren eingereichte Liste der im Grundsatz bereiten ärztlichen Psychotherapeuten im Bereich
H. –, denn die Terminservicestelle vermittelt Termine für psychotherapeutische Erstgespräche und eine ggf. erforderliche Akutbehandlung,
aber gerade nicht für probatorische Sitzungen und Richtlinienpsychotherapie. Dies hat die Kassenärztliche Vereinigung auf
Nachfrage des Senats für die bei ihr eingerichtete Terminservicestelle ausdrücklich bestätigt. Überdies hat sie jedoch bestätigt,
dass es aktuell zwar schwierig, bei entsprechend nachhaltiger Suche aber nicht unmöglich sei, einen Behandler für die hier
notwendige Therapie zu finden.
II.
Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung des §
193 SGG.
Dieser Beschluss ist nicht anfechtbar (§
177 SGG).