Anspruch auf Grundsicherung für Arbeitsuchende, aufschiebende Wirkung von Widerspruch und Anfechtungsklage gegen Rücknahme-,
Aufhebungs- und Rückforderungsbescheide
Gründe:
I. Die Antragstellerin wendet sich gegen die Vollstreckung aus einem Bescheid der Antragsgegnerin vom 17.03.2006, mit dem
die zuvor ergangenen Bescheide vom 20.06.2005 und vom 09.12.2005 über die Gewährung von Leistungen nach dem Sozialgesetzbuch
Zweites Buch (SGB II) für die Monate November 2005 bis Februar 2006 teilweise aufgehoben wurden. Zugleich wurde die Antragstellerin
in demselben Bescheid aufgefordert, einen Betrag in Höhe von 331,47 Euro zurückzuzahlen. Zu dem Aufhebungs- und Rückforderungsbescheid
war es gekommen, weil die Antragstellerin es unterlassen hatte, erzielte Einkünfte ordnungsgemäß mitzuteilen. Dadurch war
es zu einer Überzahlung in Höhe von 197,22 Euro für die Monate November und Dezember 2005, in Höhe von 79,40 Euro für den
Monat Januar 2006 und in Höhe von 54,85 Euro für den Monat Februar 2006 gekommen. Der Bescheid enthielt die Rechtsmittelbelehrung:
"Gegen diesen Bescheid können Sie innerhalb eines Monats nach Bekanntgabe Widerspruch erheben. Der Widerspruch muss schriftlich
oder zur Niederschrift eingelegt werden."
Nach einer Zahlungsaufforderung durch das Hauptzollamt GD. und dem anschließenden Erlass eines Pfändungs- und Einziehungsbeschlusses
durch dieselbe Behörde hat die Antragstellerin am 27.09.2006 um Eilrechtsschutz nachgesucht. Nach einem rechtlichen Hinweis
des Sozialgerichts hat die Antragstellerin am 21.12.2006 Widerspruch gegen den Bescheid vom 17.03.2006 eingelegt.
Mit dem angefochtenen Beschluss vom 17.01.2007 hat das Sozialgericht festgestellt, dass der Widerspruch der Antragstellerin
vom 21.12.2006 gegen den Bescheid vom 17.03.2006 aufschiebende Wirkung hat. Zur Begründung hat das Sozialgericht zunächst
dargelegt, dass der Widerspruch als rechtzeitig eingelegt anzusehen ist, da die Rechtsbehelfsbelehrung wegen der fehlenden
Bezeichnung der Behörde unvollständig gewesen sei, so dass die Jahresfrist zur Einlegung des Widerspruchs gelte. Dieser Widerspruch
entfalte auch aufschiebende Wirkung. Die Regelung des § 39 Nr. 1 SGB II greife vorliegend nicht ein, da diese Vorschrift über
das Entfallen der aufschiebenden Wirkung nur für Leistungen gelte, nicht aber für Rückforderungsansprüche.
Gegen diesen Beschluss des Sozialgerichts hat sich die Antragsgegnerin mit ihrer beim Sozialgericht Kassel am 16.02.2007 eingegangenen
Beschwerde gewandt und vorgetragen, das Wort "Leistung" sei umfassend zu verstehen, es werde weder eine Differenzierung nach
Zukunfts- oder Vergangenheitsbezogenheit, einmaligen oder laufenden Leistungen oder Aufhebungen und Rückforderungen vorgenommen,
so dass der hier streitige Bescheid unter die Regelung des § 39 Nr. 1 SGB II falle und der Widerspruch dagegen deshalb keine
aufschiebende Wirkung entfalte.
Die Antragsgegnerin beantragt sinngemäß, den Beschluss des Sozialgerichts Kassel vom 17.01.2007 aufzuheben und den Antrag
auf Gewährung von einstweiligem Rechtsschutz insgesamt abzulehnen.
Die Antragstellerin hat im Beschwerdeverfahren keinen Antrag gestellt.
II. Die statthafte (§
172 SGG) sowie form- und fristgerecht (§
173 SGG) eingelegte Beschwerde der Antragsgegnerin, der das Sozialgericht nicht abgeholfen hat, bleibt ohne Erfolg.
Das Sozialgericht hat zur Überzeugung des Senats im Ergebnis zu Recht die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs der Antragstellerin
gegen den Bescheid der Antragsgegnerin vom 17.03.2006 festgestellt.
Gemäß §
86a Abs.
1 Satz 1
SGG haben Widerspruch und Anfechtungsklage grundsätzlich aufschiebende Wirkung, was dazu führt, dass durch die Einlegung des
Widerspruchs der Vollzug des angegriffenen Bescheides gehemmt ist und aus diesem Bescheid nicht mehr vollstreckt werden darf.
In §
86a Abs.
2 SGG sind jedoch verschiedene Ausnahmen von dieser Regelung aufgeführt, unter anderem entfällt die aufschiebende Wirkung eines
Widerspruchs in den durch Bundesgesetz vorgeschriebenen Fällen (§
86a Abs.
2 Nr.
4 SGG). Eine solche bundesrechtliche Regelung ergibt sich auch aus §
39 SGB II. Danach haben Widerspruch und Anfechtungsklage gegen einen Verwaltungsakt, der über Leistungen der Grundsicherung
für Arbeitsuchende entscheidet (Nr. 1) oder den Übergang eines Anspruchs bewirkt (Nr. 2) keine aufschiebende Wirkung. Ob unter
"Leistungen" im Sinne von § 39 Nr. 1 SGB II auch Bescheide fallen, mit denen Leistungsbescheide der Grundsicherung für Arbeitsuchende
aufgehoben und geleistete Überzahlungen zurückgefordert werden, ist in Rechtsprechung und Literatur äußerst umstritten (für
eine enge Auslegung des Begriffs "Leistungen" sprechen sich aus: LSG Rheinland-Pfalz, Beschluss vom 26.04.2006 - L 3 ER 47/06
AS -; LSG Sachsen-Anhalt, Beschluss vom 27.04.2006 - L 2 B 62/06 AS ER -; LSG Schleswig-Holstein, Beschluss vom 15.05.2007 - L 11 B 30/07 AS ER -; OVG Bremen, Beschluss vom 14.05.2007 - S 2 B 365/06 -; Conradis in LPK-SGB II, 2. Auflage 2007, § 39 Rdnr. 7. Für eine Einbeziehung von Aufhebungs- und Rückforderungsbescheiden
unter § 39 Nr. 1 SGB II sprechen sich aus: LSG Schleswig-Holstein, Beschluss vom 05.07.2006 - L 6 B 196/06 AS ER -; LSG Baden-Württemberg, Beschluss vom 21.11.2006 - L 8 AS 4680/06 ER-B -; LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 22.05.2007 - L 5 B 240/07 AS ER -; Eicher in Eicher/Spellbrink, SGB II, Kommentar, 2005, § 39, Rdnr. 12).
Der Senat folgt der auch vom Sozialgericht vertretenen Auffassung, wonach der Begriff der Leistung eng auszulegen ist und
Aufhebungs- und Rückforderungsbescheide nicht umfasst. Dieser Überzeugung liegende folgende Erwägungen zugrunde:
§ 39 Nr. 1 SGB II stellt eine Abweichung von dem Grundsatz dar, dass Widerspruch und Anfechtungsklage aufschiebende Wirkung
zukommt. Da diese Ausnahme eine belastende Wirkung hat, weil durch das Fehlen der aufschiebenden Wirkung eine schnellere und
erleichterte Vollziehung eines Bescheids möglich ist, muss sich diese Ausnahme genau in den festgelegten gesetzlichen Grenzen
halten. Der Gesetzeswortlaut bezieht sich aber nach dem normalen Sprachgebrauch nur auf Leistungen der Grundsicherung für
Arbeitsuchende, das heißt auf Hilfen, die dem Arbeitsuchenden gewährt werden. Auch aus der Gesetzesbegründung zu § 39 SGB
II (vgl. BT-Drucks. 15/1516, Seite 63) lässt sich nichts anderes entnehmen, da dort nur der Gesetzestext wiedergegeben wird.
Einen Hinweis darauf, dass die Ausnahmeregelung erweitert auszulegen sei, enthält die Gesetzesbegründung dagegen nicht. Demgegenüber
überzeugt die Gegenmeinung nicht, die sich zwar auch auf den Wortlaut beruft und die Entscheidung über eine Aufhebung von
Leistungen ebenfalls als eine Entscheidung über Leistungen sieht. Weil diese aber die Voraussetzung für eine Rückforderung
sei, zählten auch Erstattungsbescheide als Vollziehung eines Aufhebungsbescheides dazu (vgl. LSG Baden-Württemberg, Beschluss
vom 21.11.2006 - L 8 AS 4680/06 ER - B -).
Auch die Systematik der Vorschrift des § 39 SGB II spricht für eine streng wortbezogene Auslegung des Leistungsbegriffs. Bei
einer weiten Auslegung des Begriffs der Leistungen nach Nr. 1 der genannten Vorschrift wäre nämlich die Regelung der Nr. 2
überflüssig, da auch der Übergang von Ansprüchen letztlich Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende betrifft (vgl.
so Conradis in LPK-SGB II, 2. Auflage, 2007, § 39 Rdnr. 7). Dem steht nicht entgegen, dass die Regelung des § 39 Nr. 2 SGB
II durch zwischenzeitlich eingetretene Gesetzesänderungen seit 1.8.2006 ins Leere geht, da die Überleitung von Ansprüchen
durch Verwaltungsakt im SGB II abgeschafft wurde. (vgl. dazu Conradis, aaO., § 39 Rdnr. 9). Dies hat sich jedoch erst nachträglich
ergeben, während für die vorliegende Argumentation die ursprüngliche Gesetzeskonstruktion maßgeblich ist.
Aber auch die Auslegung nach Sinn und Zweck des Wegfalls der aufschiebenden Wirkung der Rechtsbehelfe gegen Entscheidungen,
die die Gewährung von Leistungen betreffen, spricht für die von dem Senat vertretene Auffassung. Es soll nämlich verhindert
werden, dass der Leistungsträger dem Hilfebedürftigen weiterhin streitige Leistungen gewähren muss, obwohl bereits bekannt
ist, dass vermutlich kein Anspruch mehr auf diese Leistungen besteht. Damit soll verhindert werden, dass die spätere Rückforderung
nicht mehr durchsetzbar ist, weil der Hilfebedürftige über diese Leistungen dann bereits verfügt hat (so auch LSG Rheinland-Pfalz,
aaO.).
Demgegenüber greift dieses Argument bei Aufhebungs- und Rückforderungsbescheiden nicht durch, denn bei dieser Fallkonstellation
hat der Hilfebedürftige die gewährten Leistungen in aller Regel bereits aufgebraucht. Da im Normalfall auch nicht davon auszugehen
ist, dass der betroffene Personenkreis der Leistungsempfänger nach dem SGB II über sonstige Vermögenswerte verfügt, ist es
nicht notwenig, die sofortige Zahlung oder die Durchsetzung eines Erstattungsanspruchs zu ermöglichen, da hier wegen der anderen
Ausgangslage in der Regel der Gesichtspunkt entfällt, im Hinblick auf eine Gefahr der Verschlechterung der Vermögensverhältnisse
einen Anspruch schnell realisieren zu müssen. In den Fällen, in denen sich die Ausgangslage anders darstellt, insbesondere
wenn der Hilfesuchende Einkommen oder größere Vermögenswerte verschwiegen hat und die Gefahr besteht, dass diese beiseite
geschafft werden, hat die Behörde immer noch die Möglichkeit, die sofortige Vollziehung mit besonderer Begründung im öffentlichen
Interesse nach §
86a Abs.
2 Nr.
5 SGG anzuordnen (vgl. so auch LSG Sachsen-Anhalt, aaO.).
Zwar ist die Zielsetzung derjenigen Stimmen, die sich für eine Einbeziehung von Aufhebungs- und Rückforderungsbescheiden einsetzen,
durchaus erwägenswert. Danach soll eine umgehende staatliche Reaktion auf unrechtmäßiges bzw. sozialwidriges Verhalten gewährleistet
und sollen potentielle Nachahmer abgeschreckt werden (vgl. LSG Schleswig-Holstein, Beschluss vom 23.11.2006 - L 6 B 292/06 AS ER -). Es erscheint in gewisser Weise unbefriedigend, dass die oben genannte Zielsetzung des § 39 Nr. 1 SGB II, die verhindern
soll, dass Gelder ungerechtfertigt weiter nicht berechtigten Personen während eines langwierigen und oft nicht absehbaren
Zeitabschnitts bis zu einer bestands- oder rechtskräftigen Entscheidung zufließen, nicht auch bei den Aufhebungs- und Rückforderungsbescheiden
eingreift. Dies gilt umso mehr, als ein Großteil der Aufhebungsgründe, die in den §§ 45, 48 SGB X normiert sind, darauf beruhen, dass ein Leistungsempfänger entweder durch eigenes Zutun oder durch Unterlassen der erforderlichen
Mitteilung Leistungen erwirkt hat, die ihm eigentlich nicht zustehen. Es scheint nicht ohne Weiteres einleuchtend, dass diese
Personengruppe gegenüber gesetzestreuen Leistungsempfängern, die lediglich z. B. gegen eine Absenkung der ihnen zugestandenen
Leistung angehen und deren Widerspruch keine aufschiebende Wirkung hat, bevorzugt werden sollten. Im Hinblick auf die vorstehende
Auslegung des Begriffs "Leistungen" ist aber die Zielsetzung der Befürworter nach der gegenwärtigen Gesetzeslage zur Überzeugung
des Senats nicht möglich. Sollte tatsächlich die Einbeziehung von Aufhebungs- und Rückforderungsbescheiden vom Gesetzgeber
gewollt sein, müsste dies im Rahmen einer anstehenden Gesetzesänderung eindeutig zum Ausdruck gebracht werden.
Aus dem genannten Grund folgt der Senat auch nicht der vermittelnden Meinung, die die Auffassung vertritt, dass die Unanwendbarkeit
von § 39 Nr. 1 SGB II nur hinsichtlich der Rückforderung bereits erfolgter Zahlungen gilt, nicht hingegen hinsichtlich der
rückwirkenden Aufhebung der Bewilligung von Leistungen, weil sich auch für diese Auffassung nach den gängigen Auslegungsregeln
nichts herleiten lässt (vgl. für die vermittelnde Meinung LSG Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 23.03.2006 - L 9 AS 127/06 ER -).
Schließlich darf in der Gesamtdebatte auch nicht übersehen werden, dass kein wirklich überzeugender Grund dafür ersichtlich
ist, dass eine mögliche Abschreckungswirkung nur auf die Arbeitslosengeld II-Empfänger beschränkt wäre und sich nicht auch
auf Bezieher von Arbeitslosengeld I oder Sozialhilfeempfänger erstrecken würde. Demgemäß werden durchaus auch von Befürwortern
der Einbeziehung von Aufhebungs- und Rückforderungsbescheiden unter § 39 Nr. 1 SGB II verfassungsrechtliche Bedenken im Hinblick auf Art.
3 GG geäußert (vgl. Eicher, aaO., § 39, Rdnr. 3).
Nach alledem war die Entscheidung des Sozialgerichts zu bestätigen und die Beschwerde der Antragsgegnerin zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung beruht auf der entsprechenden Anwendung des §
193 SGG und berücksichtigt das Unterliegen der Antragsgegnerin.
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§
177 SGG).