Ermittlung des Grades der Behinderung im Schwerbehindertenrecht bei einer Alkoholkrankheit
Tatbestand:
Die Beteiligten streiten um die Herabsetzung des Grades der Behinderung (GdB) bei dem Kläger von 50 auf 40 nach Ablauf der
Heilungsbewährung für eine Alkoholerkrankung.
Der 1963 geborene Kläger beantragte am 24.4.2002 die erstmalige Feststellung eines GdB. Zur Begründung verwies er u.a. auf
eine Alkoholkrankheit. Das Versorgungsamt Verden holte diesbezüglich u.a. einen Befundbericht von dem Facharzt für Allgemeinmedizin
J. vom 22.8.2002 sowie einen ärztlichen Entlassungsbericht von Dr. K. vom 6.11.2002 über die Entwöhnungsbehandlung bei Alkoholabhängigkeit
in der Paracelsus L.klinik ein. Nach erfolgter Auswertung der eingeholten Berichte und Unterlagen durch den Ärztlichen Dienst
(Dr. M.) stellte das Versorgungsamt Verden mit Erstfeststellungsbescheid vom 12.3.2003 einen GdB von 40 fest. Die Entscheidung
stützte sich auf das Vorliegen einer
- seelischen Behinderung (Einzel-GdB: 30)
- und einer Schuppenflechte (Einzel-GdB: 20).
Ein Bronchialasthma (Einzel-GdB: 10), eine Funktionsbehinderung der Wirbelsäule bei Bandscheibenschaden (Einzel-GdB: 10),
Bluthochdruck (Einzel-GdB: 10) und eine Re- fluxerkrankung der Speiseröhre (Einzel-GdB: 10) wirkten sich auf den Gesamt-GdB
nicht erhöhend aus. Die daneben bestehende Sehbehinderung und der Leistenbruch erreichten keinen Einzel-GdB. Zu der seelischen
Behinderung hieß es in dem Bescheid, diese befinde sich im Stadium der Heilungsbewährung. Daher werde sie derzeit mit einem
höheren GdB berücksichtigt, als eigentlich gerechtfertigt sei. Nach Ablauf der Heilungsbewährung, die im Oktober 2005 ende,
werde der GdB überprüft und gegebenenfalls neu festgesetzt. Der gegen den Bescheid erhobene Widerspruch wurde als unbegründet
zurückgewiesen (Widerspruchsbescheid vom 22.8.2003); in dem dagegen geführten Klageverfahren vor dem Sozialgericht (SG) Stade (S 2 SB 185/03) kam der Ärztliche Dienst (Dr. N., 13.12.2003) des Beklagten zu dem Ergebnis, dass bezüglich der Schuppenflechte von einem
mittelgradigen Befall unter Einschluss sämtlicher Finger- und Fußnägel ausgegangen werden müsse. Daraufhin stellte der Beklagte
den GdB ab dem 1.4.2002 mit 50 fest (Ausführungsbescheid vom 28.1.2004). Dabei wurde die Schuppenflechte nun mit einem Einzel-GdB
von 30 (statt bisher 20) festgestellt; im Übrigen blieben die bisherigen Feststellungen unverändert.
Im Januar 2006 forderte der Beklagte im Rahmen der angekündigten Überprüfung des GdB einen Befundbericht von dem Arzt J. an.
Nach dem Befundbericht vom 8.3.2006 wird u.a. auf den erfolgreichen Verlauf des Alkoholentzuges verwiesen, was in einer zweiten
Mitteilung vom 11.4.2006 nochmals bestätigt wird. Nach einem beigefügten Schreiben der Ärztin für Neurologie und Psychiatrie
Dr. O. vom 10.7.2003 ist der Kläger glaubhaft trocken. Ein weiter beigefügtes Schreiben des Zentralkrankenhauses P., vom 13.11.2003
kommt zu dem Ergebnis, dass die erhöhten CDT-Werte mit großer Wahrscheinlichkeit für einen Alkoholabusus im Sinne der Aufnahme
von mehr als 60 g Alkohol pro Tag über einen Zeitraum von wenigstens einer Woche sprächen. Nach einem Schreiben des Klinikums
Q. vom 9.3.2004 hätte ein längerfristiger Konsum von mehr als 60 g Alkohol am Tag zwingend zum Nachweis von Ethylglucuronid
im Haar geführt. Dies sei jedoch nicht nachgewiesen. Damit sei auch nicht zu befürchten, dass der Kläger zukünftig Kraftfahrzeuge
unter Alkoholeinfluss führen werde. Nach einem sozialmedizinischen Gutachten des Medizinischen Dienstes der Krankenkassen
vom 14.5.2004 ist der Kläger seit der Alkoholentwöhnung absolut abstinent und besucht regelmäßig Selbsthilfegruppen. Nach
Auswertung der eingeholten Befundberichte und Unterlagen durch den Ärztlichen Dienst (Dr. R.) hörte der Beklagte den Kläger
wegen des beabsichtigten Erlasses eines Änderungsbescheides an: Hinsichtlich der seelischen Behinderung sei die Heilungsbewährung
inzwischen abgelaufen. Es sei nicht zu einem Wiederauftreten der Erkrankung gekommen. Daher ergebe sich ein messbarer GdB
nicht mehr. Hiergegen wandte der Kläger ein, er leide unter depressiven Zuständen und müsse Neuroleptika einnehmen. Außerdem
seien seine Leberwerte nicht normgerecht. Auf Anregung des Klägers wurde erneut ein Befundbericht von dem Arzt J. (vom 11.7.2006)
eingeholt, nach dessen Auswertung durch den Ärztlichen Dienst (Dr. S.) am 9.11.2006 eine zweite Anhörung erfolgte. Mit Bescheid
vom 17.1.2007 hob der Beklagte den Bescheid vom 28.1.2004 auf und stellte den GdB ab dem 1.2.2007 mit 30 fest. Die Entscheidung
stützte sich auf das Vorliegen von
- Schuppenflechte (im Bescheid ohne Nennung eines Einzel-GdB),
- Bronchialasthma (Einzel-GdB: 10),
- Funktionsbehinderung der Wirbelsäule bei Bandscheibenschaden (Einzel GdB: 10),
- Bluthochdruck (Einzel-GdB: 10) und einer
- Refluxerkrankung der Speiseröhre (Einzel-GdB: 10).
Mit dem hiergegen erhobenen Widerspruch machte der Kläger geltend, er beschäftige sich täglich mit dem Thema Alkohol. Er führe
täglich einen geistigen Kampf, um abstinent zu bleiben. Um standhaft bleiben zu können, nehme er an wöchentlichen Treffen
eines Suchtkrankenhilfevereins teil. Er gehe davon aus, dass in Folge seiner Alkoholerkrankung bis zu seinem Lebensende eine
seelische Beeinträchtigung bestehen werde, da die Alkoholerkrankung nicht heilbar, sondern nur zum Stillstand gebracht worden
sei. Es könne jederzeit zu einem Rückfall kommen. Auch jetzt noch läge eine Konfliktsituation vor, der Gamma-GT-Wert betrage
noch 60. Auf Anfrage des Beklagten erklärte der Arzt J. am 21.3.2007, der Kläger sei seit längerem nicht mehr in seiner Behandlung
gewesen. Nach Auswertung durch den Ärztlichen Dienst (Prof. Dr. T.) - und weiterer Anhörung des Klägers - wies der Beklagte
den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 15.5.2007 als unbegründet zurück. Zur Begründung wird ausgeführt, bei Gesundheitsstörungen,
die zu Rückfällen neigten oder bei denen die Belastbarkeit abgewartet werden müsse, komme für die Zeit der Heilungsbewährung
ein höherer GdB in Betracht, als er sich allein aus der funktionellen Beeinträchtigung ergäbe. Sobald der Zeitraum der Heilungsbewährung
abgelaufen sei, richte sich die Beurteilung des GdB aber allein nach der tatsächlich bestehenden funktionellen Beeinträchtigung.
Im konkreten Fall sei es zu einem Wiederauftreten der Erkrankung nicht gekommen. Damit sei die Heilungsbewährung positiv verlaufen.
Insoweit sei auch eine wesentliche Änderung in den gesundheitlichen Verhältnissen eingetreten. Die verbliebenen Funktionsbeeinträchtigungen
rechtfertigten einen GdB von 50 nicht mehr.
Hiergegen hat der Kläger am 12.6.2007 Klage vor dem SG Stade erhoben. Zur Begründung hat der Kläger erklärt, infolge der Alkoholerkrankung
bestehe eine lebenslängliche seelische Beeinträchtigung. Hinsichtlich der überstandenen Alkoholerkrankung liege auch jetzt
noch eine Konfliktsituation vor, da er beim Essen und Trinken ständig darauf achten müsse, nicht etwa Speisen, insbesondere
Süßspeisen, Getränke oder Arzneimittel mit alkoholischem Inhalt zu sich zu nehmen. Es bestehe eine ständige psychische Belastung,
etwa durch den Geruch oder Geschmack von Alkohol. Der Kläger müsse rückfallvermeidende Maßnahmen ergreifen und beachten. Nach
einem Gutachten zu seiner Fahreignung sei bei einem Rückfall damit zu rechnen, dass er innerhalb kürzester Zeit zu seinem
früheren Trinkverhalten zurückkehre. Er - der Kläger - müsse deshalb sein Leben entsprechend der Rückfallgefahr gestalten.
Dies sei oft anstrengend, belastend und koste Kraft. Eine Heilungsbewährung sei daher nicht gegeben; bei ihm sei weiterhin
wegen der überstandenen Alkoholerkrankung ein Einzel-GdB von 30 zu berücksichtigen.
Der Beklagte hat seinerseits darauf verwiesen, dass nach den Anhaltspunkten für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen
Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertenrecht (AHP, Ausgabe 2008, Nr. 26.3, S. 48) die Herabsetzung des GdB zu Recht
erfolgt sei.
Das SG hat Befundberichte von dem Arzt J. (vom 5.12.2007), der Fachärztin für Allgemeinmedizin U. (vom 20.12.2007) und von dem Hautarzt
Dr. V. (vom 3.2.2008) eingeholt. Es hat sodann gem. §
109 Sozialgerichtsgesetz (
SGG) ein ambulantes sozialmedizinisches Gutachten von PD Dr. W., Rotenburg/Wümme, vom 8.9.2008 eingeholt. Nach diesem Gutachten
kann der Einzel-GdB für die psychischen Beeinträchtigungen (einschließlich der Alkoholerkrankung) nicht mit mehr als 10 angesetzt
werden. Im Ergebnis ist nach dem Gutachten von einem Gesamt-GdB von 40 auszugehen, v.a., weil eine Vielzahl von kleineren
Einzel-GdB vorläge.
Daraufhin erkannte der Beklagte mit Schreiben vom 16.9.2008 ab dem 1.2.2007 einen GdB von 40 an (Ausführungsbescheid v. 18.3.2009).
Der Kläger hat das Teilanerkenntnis angenommen. Er hat zugleich ausgeführt, nach seiner Auffassung bestünde zudem aus rechtlichen
Gründen ein Anspruch auf einen GdB von 50. Dies resultiere daraus, dass es - entgegen der Auffassung des Beklagten - bei einer
"seelischen Beeinträchtigung" keine Heilungsbewährung gebe. Schon aus diesem Grunde sei die Herabsetzung des GdB unzulässig.
Mit Urteil vom 12.12.2008 hat das SG die Klage abgewiesen, soweit ihr nicht durch das Teilanerkenntnis entsprochen war. Die Herabsetzung des GdB von 50 auf nunmehr
40 sei rechtmäßig. Die Voraussetzungen des § 48 Abs. 1 Sozialgesetzbuch Zehntes Buch (SGB X) lägen vor. Bezüglich der Alkoholerkrankung sei eine Heilungsbewährung eingetreten, was zu einer wesentlichen Veränderung
der tatsächlichen Verhältnisse geführt habe. Die Kammer folge den schlüssigen, widerspruchsfreien und daher überzeugenden
Ausführungen des Sachverständigen PD Dr. W ... Insbesondere sei die Alkoholerkrankung nicht mehr mit einem Einzel-GdB von
30, sondern lediglich mit einem Einzel-GdB von 10 zu bewerten. Der Kläger sei durch seinen Alkoholismus weder in seiner Erlebnis-,
noch in seiner Gestaltungsfähigkeit wesentlich eingeschränkt. Er könne alkoholfreies Essen und entsprechende Getränke genießen;
er unterliege weder in der Familie, noch im Bekanntenkreis oder am Arbeitsplatz irgendwelchen sozialen Anpassungsschwierigkeiten.
Es sei ihm möglich, "alkoholfreien Kontakt mit anderen Menschen aufzubauen". Seinen privaten Bereich gestalte der Kläger mit
regelmäßigem Musizieren, Lesen, Gesprächen, Shopping etc. Seine emotionale Schwingungsfähigkeit sei normal, seine Grundstimmung
ausgeglichen. Von gelegentlich auftretender Traurigkeit könne er sich problemlos ablenken. Somit läge allenfalls eine leichte,
durch den Alkoholismus bedingte psychovegetative Störung vor. Etwas anderes ergebe sich auch nicht dadurch, dass bei einer
Alkoholerkrankung eine Heilung im medizinischen Sinne nicht erfolgen könne. Der Begriff der Heilungsbewährung sei ein rechtlicher
Begriff, der eine Stabilisierung des Gesundheitszustandes bezeichne. Auch im Übrigen habe die Kammer keine Veranlassung, von
den Regelungen der AHP 2008 oder den Versorgungsmedizinischen Grundsätzen (VMG, Anlage zu § 2 der Verordnung zur Durchführung
des § 1 Abs. 1 und 3, des § 30 Abs. 1 und des § 35 Abs. 1 des Bundesversorgungsgesetzes (Versorgungsmedizin-Verordnung - VersMedV
-) vom 10.12.2008, BGBl. I, S. 2412) abzuweichen, die bei einer Alkoholerkrankung eine Heilungsbewährung von zwei Jahren vorsähen. Schließlich sei die Heilungsbewährung
auch nicht deshalb ausgeschlossen, weil der Beklagte die Erkrankung als "seelische Beeinträchtigung" bezeichnet habe. In der
gesamten Verwaltungsakte sei mit diesem Begriff stets die Alkoholerkrankung bezeichnet worden. Auch der Bevollmächtigte des
Klägers sei stets wie selbstverständlich davon ausgegangen, dass dieser Begriff sich auf die Alkoholkrankheit bezogen habe.
Auch in den AHP 2008 werde die Alkoholerkrankung unter dem Oberbegriff "Nervensystem und Psyche" (26.3) behandelt. Das Wort
Alkoholerkrankung werde in den Bescheiden des Beklagten lediglich deshalb nicht verwandt, um die Betroffenen bei Vorlage des
Bescheides nicht als Alkoholiker zu stigmatisieren.
Gegen das am 10.3.2009 zugestellte Urteil hat der Kläger am 30.3.2009 Berufung beim Landessozialgericht (LSG) eingelegt. Zur
Begründung hat er erklärt, es seien keine wesentlichen Veränderungen gegeben, die eine Herabsetzung des GdB von 50 auf 40
rechtfertigen könnten. Zwar hätten die AHP grundsätzlich normähnliche Wirkung; im konkreten Fall sei jedoch eine Abweichung
von den AHP im Sinne einer Lückenfüllung geboten, da die unterschiedlichen Aspekte der Alkoholkrankheit nach erfolgreicher
Therapie in den AHP nicht hinreichend berücksichtigt würden. Hierzu zählten im vorliegenden Fall insbesondere seine Schwierigkeiten,
für sich Problemlösungsstrategien bei alltäglichem Ärger, ungerechtfertigten Beleidigungen und Schmähungen zu entwickeln.
In solchen Fällen habe er seinen Ärger früher einfach "weggetrunken". Derartige Erlebnisse beherrschten ihn in abnormem Umfang.
Eine beherrschende und nachgerade fixierende innere Spannung erzeuge es außerdem, wenn er - ein passionierter Pfeifenraucher
- sich eine Pfeife anzünde, weil er sich an seine frühere Gewohnheit erinnere, dazu einen Whisky zu trinken. Die Teilnahme
an Feierlichkeiten sei für ihn ein Problem, weil er zum Trinken aufgefordert werde. Beim Essen von Kuchen - er esse gerne
Kuchen - bestehe die Gefahr, dass dieser mit Alkohol zubereitet sei und einen Rückfall auslösen könne. Erschwerend komme hinzu,
dass Alkoholismus ein gesellschaftliches Tabuthema sei, das er nur schwer ansprechen könne. Er sei außerordentlich sensibilisiert
für den Geruch von Alkohol, rieche sogar, wenn ein leerer Fahrstuhl zuvor von einem alkoholisierten Menschen genutzt worden
sei. Schließlich werde in den Medien der Genuss von Alkohol weiterhin als Problemlösungsstrategie vorgestellt. Auch dies erzeuge
bei ihm ein erhebliches emotionales "Auf und Ab". Insgesamt komme er im Alltag immer wieder in Berührung mit seiner Erkrankung,
was ihn banne und in Atem halte. Hieraus folgere eine psychische Behinderung, die durchaus die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft
im Sinne von §
69 Abs.
1 SGB IX einschränke. Die beim Kläger auftretenden Beeinträchtigungen, namentlich Ängste, Vermeidungsstrategien und Zwangshandlungen,
seien mit denen einer Zwangserkrankung vergleichbar. Nach dem Gutachten von PD Dr. W. seien diese Störungen zwar nicht in
den AHP beschrieben. In Betracht komme jedoch eine analoge Anwendung, wobei im Ergebnis eine GdB von 30 bis 40 oder sogar
50 bis 70 in Betracht komme. Demzufolge sei in seinem Falle von einem Gesamt-GdB von mindestens 50 auszugehen.
Der Kläger beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Stade vom 12.12.2008 und den Bescheid des Beklagten vom 17.1.2007 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides
vom 15.5.2007 und in der Fassung des Ausführungsbescheides vom 18.3.2009 aufzuheben.
Der Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Er hält das Urteil des SG Stade für zutreffend. Beim Kläger sei eine Heilungsbewährung eingetreten. Damit hätte eine Neufeststellung
erfolgen müssen. Insgesamt betrage der GdB jetzt 40. Die Berufungsbegründung rechtfertige keine andere Entscheidung.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des übrigen Vorbringens der Beteiligten wird auf das Sitzungsprotokoll
über die mündliche Verhandlung vom 7.10.2011, den sonstigen Inhalt der Prozessakten und der Verwaltungsakten Bezug genommen,
die Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen sind und der Entscheidungsfindung des Senats zu Grunde gelegen haben.
Entscheidungsgründe:
Die gemäß §§
143 f.
SGG zulässige Berufung ist unbegründet. Das angefochtene Urteil ist nicht zu beanstanden. Zur Vermeidung von Wiederholungen nimmt
der Senat daher zunächst auf die Ausführungen des SG Bezug, denen er sich in vollem Umfang anschließt (§
153 Abs.
2 SGG). Das Vorbringen des Klägers und die Überprüfung der Sach- und Rechtslage im Berufungsverfahren rechtfertigen keine andere
Beurteilung.
Rechtsgrundlage für die Neufeststellung ist § 48 Abs. 1 Satz 1 SGB X i. V. m. §
69 Abs.
1 Satz 1 Neuntes Buch Sozialgesetzbuch (
SGB IX). Gemäß § 48 Abs. 1 Satz 1 SGB X ist ein Verwaltungsakt mit Wirkung für die Zukunft aufzuheben und damit ein Anspruch neu festzustellen, soweit in den tatsächlichen
oder rechtlichen Verhältnissen, die bei seinem Erlass vorgelegen haben, eine wesentliche Änderung eintritt. Ob hiernach der
Anspruch insgesamt neu festzustellen ist, ist unter Berücksichtigung eventuell weiter vorliegender Gesundheitsstörungen zu
entscheiden. Insoweit sind die objektiven Verhältnisse, die einerseits zum Zeitpunkt der letzten bindend gewordenen, förmlichen
Feststellung einer Behinderung tatsächlich vorgelegen haben, mit denen zu vergleichen, die andererseits im Zeitpunkt der Neufeststellung
vorliegen (vgl. Bayerisches LSG, Urteil vom 27.11.2003, Az. L 18 V 8/03; vgl. auch: Schütze, in: von Wulffen, Kommentar zum SGB X, 6. Aufl. 2008, § 48 Rn. 5).
Die Behinderung des Klägers und der dadurch bedingte GdB sind nach den Vorschriften der §§
2,
69 SGB IX festzustellen. Im Interesse der Gleichbehandlung aller behinderten Menschen erfolgte die konkrete Festsetzung im hier noch
maßgeblichen Zeitraum bis zum 31.12.2008 nach Maßgabe der in den AHP in ihrer jeweiligen Fassung niedergelegten Maßstäbe.
Diese waren zwar kein Gesetz und nicht aufgrund einer gesetzlichen Ermächtigung erlassen, es handelte sich bei ihnen jedoch
um eine auf besonderer medizinischer Sachkunde beruhende Ausarbeitung. Sie engte das Ermessen von Verwaltung und Ärzten ein,
führte zur Gleichbehandlung und war deshalb auch geeignet, gerichtlichen Entscheidungen zugrunde gelegt zu werden (BSGE 91,
205).
Unter Beachtung dieser Grundsätze sind das Urteil des SG und die Entscheidung des Beklagten nicht zu beanstanden. Der Beklagte hat zu Recht mit Bescheid vom 17.1.2007 in der Gestalt
des Widerspruchsbescheides vom 15.5.2007 und in der Fassung des Ausführungsbescheides vom 18.3.2009 den GdB von 50 auf 40
herabgesetzt. Ein Gesamt-GdB von 50 lag nach Ablauf der Heilungsbewährung für die Alkoholkrankheit (AHP 2005, 26.3, S. 48)
nicht mehr vor.
a) Da die Entziehungsbehandlung bis Oktober 2002 erfolgreich durchgeführt wurde, war die Heilungsbewährung von zwei Jahren
im Oktober 2004 abgelaufen. Dass mit Bescheid vom 17.1.2007 die streitige Herabsetzung erfolgte, ist nicht deshalb zu beanstanden.
Die Entziehungsbehandlung ist auch erfolgreich gewesen; der Kläger ist seit der Entziehung nicht rückfällig geworden. Soweit
hieran Zweifel bestanden haben sollten, insbesondere aufgrund eines erhöhten CDT-Wertes im November 2003, sind diese aufgrund
einer Haarprobe im März 2004 ausgeräumt worden.
Dass die AHP einer Alkoholerkrankung nach erfolgreicher Entziehung keinen GdB von mindestens 10 zuordnen, ist auch grundsätzlich
nicht zu beanstanden. Zwar ist den Gerichten ein Abweichen von den AHP grundsätzlich möglich, falls diese lückenhaft erscheinen
oder dem wissenschaftlichen Kenntnisstand im konkreten Einzelfall nicht mehr entsprechen. (BSG, Urt. v. 18.9.2003 - B 9 SB 3/02 R, zit. nach juris, Rn. 21; BSG, Urt. v. 30.9.2009 - B 9 SB 4/08 R, zit. nach juris, Rn. 19 m.w.N.). Dies ist jedoch vorliegend nicht der Fall; die AHP treffen hinsichtlich der Frage der Alkoholerkrankung
nach erfolgreicher Entziehung eine ausdrückliche Aussage, so dass jedenfalls eine Regelungslücke ausscheidet. Darüber hinaus
waren die AHP zum maßgeblichen Zeitpunkt auch nicht überholt. Dies zeigt sich schon daran, dass die seit dem 1.1.2009 an ihrer
Stelle heranzuziehenden VMG insofern nichts anderes enthalten als die AHP 2005; sie stimmen - soweit es die Bewertung der
Alkoholkrankheit und -abhängigkeit betrifft - mit den auf den vorliegenden Fall anzuwendenden AHP 2005 überein. Zwar ist durch
Art. 1 Nr. 2a) der Ersten Verordnung zur Änderung der VersMedV vom 1.3.2010 (BGBl. I, S. 249) der Abschnitt 3.8 der VMG neu gefasst worden, er beinhaltet aber weiterhin u.a. die Alkoholkrankheit. Auch insofern gilt
weiterhin, dass nach erfolgreicher Entziehung ohne weitere Organschädigungen kein GdB festzustellen ist. Dies ist nach Auffassung
des Senats auch im Vergleich zu den anderen Werten der AHP 2005 bzw. der VMG stimmig. Dies gilt etwa, soweit diese die Abhängigkeit
von Tabak bzw. Koffein ebenfalls keiner Teilhabebeeinträchtigung zuordnen (3.8 Abs. 1 S. 2 der VMG in der Fassung der Ersten
Verordnung zur Änderung der VersMedV). Dass nicht jede Einschränkung auf - etwa - eine bestimmte Nahrung ohne weiteres zur
Zuerkennung eines GdB führt, folgt z.B. daraus, dass nach 15.1 der VersMedV (i.d.F. der Zweiten Verordnung zur Änderung der
VersMedV, vom 14.7.2010, BGBl. I, S. 928) ein Diabetes, der regelmäßig keine Hypoglykämien auslöst, mit einem GdB von 0 zu bewerten ist. Dass die Bewertung der Alkoholerkrankung
nach erfolgreich verlaufener Entziehung im System der VMG stimmig ist, zeigt aber etwa auch der Vergleich mit Allergien gem.
17.2 der VMG (S. 98), da diese vom Betroffenen ebenfalls ein Vermeidungsverhalten einfordern. Denn danach ist selbst bei bis
zu zweimal im Jahr auftretenden allergischen Reaktionen durch leicht vermeidlichen Noxen oder Allergene lediglich ein GdB
von (nur) 0 bis 10 festzustellen.
Diese Auffassung steht auch im Einklang mit der bisherigen Rechtsprechung insbesondere des Bundessozialgerichts (BSG). Dieses
hat sich in dem Beschluss vom 26.1.1994 (9 BVs 44/93, zit. nach juris, Rn. 5) mit der Abstinenz nach Alkoholerkrankung auseinandergesetzt.
Es hat ausgeführt, wer krankmachende Stoffe meide, sei nur dann behindert, wenn er damit in den genannten Bezügen, also in
Arbeit, Beruf und Gesellschaft auffällig werde. Seien in diesen Bereichen Defizite nicht wahrzunehmen, fehle es zumindest
an den Auswirkungen der Funktionsbeeinträchtigungen. Die Abstinenz von Suchtmitteln habe selbst dann keine Behinderung zur
Folge, wenn die Abstinenz maßgeblich auf einem regelwidrigem Körperzustand und nicht auf freier Willensentschließung beruhe
(zustimmend: LSG Saarland, Urt. v. 27.6.2006 - L 5 SB 118/03).
Im konkreten Fall liegen - ebenfalls entgegen der Auffassung des Klägers - auch keine besonderen Gründe vor, die ein Abweichen
von der Bewertung der AHP 2005 rechtfertigen würden. Der Sachverständige PD Dr. W., dem der Senat auch in seiner Bewertung
folgt, hat vielmehr überzeugend ausgeführt, dass bei einer Alkoholerkrankung grundsätzlich keine Heilung im medizinischen
Sinne möglich ist und dass insofern ein Leben lang ein sehr hohes Rückfallrisiko besteht. Insofern sind die vom Kläger geschilderten
Schwierigkeiten auch nicht außergewöhnlich, sondern treten vielmehr regelmäßig bei Alkoholerkrankungen auf, wenn eine erfolgreiche
Entziehung durchgeführt worden ist.
b) Bei dem Kläger liegen zudem auch keine aus der Alkoholerkrankung resultierenden psychischen Folgen vor, die ihrerseits
einen GdB rechtfertigen würden. Nach dem Gutachten von PD Dr. W. liegen keine stärker behindernden Störungen mit wesentlicher
Einschränkung der Erlebnis- und Gestaltungsfähigkeit vor. Der Kläger ist hiernach vielmehr in der Lage, sein Leben zu gestalten;
die emotionale Schwingungsfähigkeit ist normal, die Grundstimmung ausgeglichen. Nach dem Gutachten ist der Kläger zudem in
der Lage, sich abzulenken, wenn er sich manchmal etwas traurig fühlt. Der Kläger spielt - nach den im Gutachten wiedergegebenen
Angaben - Klavier und Orgel, er übt diese Instrumente fast jeden Tag, er liest gerne, surft gerne im Internet, und ist auch
gerne mit seiner Frau unterwegs, zum Einkaufen und zum Stöbern (S. 17 des Gutachtens).
c) Auch sonstige, aus der Alkoholerkrankung resultierende und durch die Feststellungen der Beklagten nicht berücksichtigte
Folgen sind nicht ersichtlich. Eine im Jahr 2003 noch befürchtete Lebererkrankung besteht nach dem Gutachen von PD Dr. W.
nicht; sie ist auch nicht erneut geltend gemacht worden. Die Funktionsbeeinträchtigung der Wirbelsäule wirkt sich nicht erhöhend
auf den Gesamt-GdB aus. Ein Bandscheibenvorfall hat sich nach dem Gutachten von PD Dr. W. in typischer Weise zurückgebildet
und man könnte günstigstenfalls einen Grenzfall zwischen geringen und mittelgradigen funktionellen Auswirkungen annehmen,
womit ein höherer GdB als 10 - den auch der Beklagte annimmt - nicht zwingend ist. Auch ist die Feststellung eine Einzel-GdB
von 10 für den Bluthochdruck nicht zu beanstanden. Nach dem Gutachten des PD Dr. W. - dem der Senat auch insofern folgt -
steht der Annahme eines Einzel-GdB von 20 (S. 75 der AHP 2005, Nr. 26.9) insofern entgegen, dass es an einer diesbezüglichen
Behandlung fehlt. Auch bezüglich des Bronchialasthma und der Refluxerkrankung der Speiseröhre ist die Feststellung eines Einzel-GdB
von mehr als 10 hiernach - überzeugend - nicht zu rechtfertigen.
d) Die Herabsetzung des GdB aufgrund der Heilungsbewährung ist - entgegen der vom Kläger im Klageverfahren vor dem SG vertretenen Auffassung - auch nicht deshalb ausgeschlossen, weil der Beklagte die Alkoholkrankheit im Bescheid vom 28.1.2004
als "seelische Behinderung" bezeichnet hat. Insoweit ist auf die zutreffenden Ausführungen des SG zu verweisen.
e) Auch ist die Bildung des Gesamt-GdB zutreffend erfolgt. Nach den AHP 2005 war bei der Bildung des Gesamt-GdB eine Addition
der einzelnen Werte ebenso wenig zulässig wie jede andere Rechenmethode (AHP 2005, S. 24). Maßgeblich waren alleine die Auswirkungen
der einzelnen Funktionsbeeinträchtigungen in ihrer Gesamtheit unter Berücksichtigung ihrer wechselseitigen Beziehungen untereinander.
Zudem mussten Vergleiche mit Gesundheitsschäden angestellt werden, zu denen in der Tabelle feste GdB/MdE-Werte angegeben sind.
Bei der Beurteilung des Gesamt-GdB ist in der Regel von der Funktionsbeeinträchtigung auszugehen, die den höchsten Einzel-GdB
bedingt. Sodann ist im Hinblick auf weitere Funktionsbeeinträchtigungen zu prüfen, ob und inwiefern hierdurch das Ausmaß des
Gesamt-GdB größer wird. Von Ausnahmefällen abgesehen, führen zusätzliche leichte Gesundheitsstörungen, die nur einen Einzel-GdB
von 10 bedingen, nicht zu einem höheren Gesamt-GdB; auch bei leichten Funktionsbeeinträchtigungen mit einem GdB von 20 ist
es vielfach nicht gerechtfertigt, auf einen höheren GdB zu schließen. Unter Berücksichtigung dieser Grundsätze hat der Beklagte
jedenfalls im Teilanerkenntnis vom 16.9.2008 zu Recht aus den Einzel-GdB von 30, 10, 10, 10, 10 einen Gesamt-GdB von 40 gebildet.
Dieses Ergebnis hat auch der Sachverständige PD Dr. W. bestätigt, obgleich er für die seelische Beeinträchtigung einen weiteren
Einzel-GdB von 10 angenommen hat.
f) Die Herabsetzung des GdB ist auch in formeller Hinsicht nicht zu beanstanden; der Kläger ist insbesondere unter Nennung
der jeweils eingeholten Befunde und Berichte vom Beklagten vor Erlass des Bescheides vom 17.1.2007 zutreffend mit Schreiben
vom 1.6.2006 und vom 9.11.2006 ordnungsgemäß angehört worden.
Die Kostenentscheidung beruht auf den Vorschriften der §§
183,
193 SGG und berücksichtigt das teilweise Obsiegen des Klägers entsprechend dem Teil-Anerkenntnis des Beklagten vom 16.9.2008.