Berufung gegen die Verurteilung zur Bewilligung von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach SGB II
Anwendbarkeit des § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 SGB II
Tatbestand
Der Beklagte wendet sich im Berufungsverfahren gegen seine Verurteilung zur Bewilligung von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts
nach dem SGB II.
Der am 00.00.1955 geborene Kläger ist italienischer Staatsangehöriger. Von 1979 bis 1981 und von 1989 bis 2004 arbeitete er
versicherungspflichtig in Deutschland als Maurer und Krankenpflegehelfer. In den Jahren 2005 und 2006 hielt der Kläger sich
in Italien auf. Der Kläger kehrte nach seinem Vortrag 2007 nach Deutschland zurück und lebte zunächst bei einem Freund mit
dem Vornamen "T" in L. Seit dem 01.11.2009 ist der Kläger mit Wohnsitz in Dortmund gemeldet. Vom 01.03.2010 bis zum 31.03.2010,
01.05.2010 bis 18.06.2010 und 19.07.2010 bis 22.09.2010 arbeitete der Kläger als geringfügig Beschäftigter. Vom 19.11.2012
bis zum 08.12.2012 stand der Kläger erneut in einem geringfügigen Beschäftigungsverhältnis, er erzielte ein Bruttoarbeitsentgelt
i.H.v. insgesamt 300 EUR. Vom 09.09.2013 bis zum 10.10.2013 war der Kläger wieder sozialversicherungspflichtig beschäftigt.
Nachdem der Kläger bis zum 31.07.2012 Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts erhalten hatte, beantragte er am 29.08.2012
die Weiterbewilligung der Leistungen. Mit Bescheid vom 20.09.2012 lehnte der Beklagte den Antrag ab. Der Beklagte stütze die
Entscheidung auf § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II. Der Antragsteller halte sich allein zum Zweck der Arbeitsuche in Deutschland auf und sei deshalb von Leistungen zur Sicherung
des Lebensunterhalts nach dem SGB II ausgeschlossen. Der Kläger sei nicht Arbeitnehmer und habe kein Daueraufenthaltsrecht, weil er sich nicht seit mindestens
fünf Jahren in Deutschland aufhalte. Mit Bescheid vom 16.11.2012 wies der Beklage den am 08.10.2012 erhobenen Widerspruch
zurück.
Hiergegen hat der Kläger am 03.12.2012 beim Sozialgericht Dortmund Klage erhoben. Er sei bereits Anfang 2007 wieder nach Deutschland
eingereist und habe deshalb ein Daueraufenthaltsrecht. Der Leistungsanspruch ergebe sich auch aus dem Europäischen Fürsorgeabkommen,
auf das er sich als italienischer Staatsangehöriger berufen könne. Der von Deutschland insoweit erklärte Vorbehalt sei völkerrechtswidrig.
Im Übrigen sei § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II mit Europarecht nicht vereinbar.
Nachdem dem Kläger in einem einstweiligen Rechtsschutzverfahren Leistungen zur Deckung des Regelbedarfs für die Zeit vom 01.12.2012
bis zum 31.05.2013 zugesprochen worden waren, bewilligte der Beklagte mit Bescheid vom 18.01.2013 vorläufig Leistungen für
diesen Zeitraum. Am 22.04.2013 beantragte der Kläger die Weiterzahlung der Leistungen. Einen hierauf zunächst ergangenen Versagungsbescheid
vom 14.06.2013 hat der Beklagte mittlerweile aufgehoben. Aufgrund einer weiteren einstweiligen Anordnung des Sozialgerichts
hat der Beklagte vorläufig Leistungen zur Deckung des Regelbedarfs vom 18.07.2013 bis zum 31.12.2013 bewilligt. Angesichts
der Beschäftigungsaufnahme ab dem 09.09.2013 hat der Beklagte mit Bescheid vom 09.01.2014 ab dem 09.09.2013 Leistungen bewilligt.
Der Kläger hat beantragt,
unter Aufhebung des Bescheides des Beklagten vom 20.09.2012 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 16.11.2012 den Beklagten
zu verpflichten, ihm ab 01.08.2012 bis zum 08.09.2013 Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II zu gewähren.
Der Beklagte hat beantragt,
die Klage abzuweisen.
Nach seiner Meinung entsprechen die im SGB II geregelten Leistungsausschlüsse den europarechtlich zulässigen Möglichkeiten, den Sozialleistungsbezug von Bürgern aus anderen
EU-Ländern zu regulieren.
Mit Urteil vom 14.04.2014 hat das Sozialgericht den Beklagten unter Aufhebung der angefochtenen Bescheide verurteilt, dem
Kläger für die Zeit ab dem 01.08.2012 bis zum 08.09.2013 dem Grunde nach Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach
dem SGB II zu gewähren. Der Kläger erfülle die Anspruchsvoraussetzungen nach § 7 Abs. 1 Satz 1 SGB II. Der Leistungsausschluss des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II sei auf den Kläger nicht anwendbar. Zwar ergebe sich das Aufenthaltsrecht des Klägers allein aus der Arbeitsuche, jedoch
sei die Vorschrift wegen des Vorrangs europäischen Sekundärrechts nicht anzuwenden. Der Leistungsausschluss verstoße gegen
das Gleichbehandlungsgebot des Art. 4 der Verordnung (EG) 883/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29.04.2004.
Zugleich widerspreche die Bestimmung dem Gleichbehandlungsgebot des Art. 24 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29.04.2004 über das Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen, sich
im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaats frei zu bewegen und aufzuhalten (Freizügigkeitsrichtlinie). Der Leistungsausschluss sei
nicht von der Ermächtigung des Art. 24 Abs. 2 der Freizügigkeitsrichtlinie gedeckt. Denn der Leistungsausschluss sei von genereller,
nur auf die Staatsangehörigkeit abstellender Natur, nehme nicht auf individuelle Lebensumstände bzw. Einzelfallgesichtspunkte
Rücksicht und ermögliche keine Verhältnismäßigkeitsprüfung. Insbesondere aus der Entscheidung des EuGH vom 19.09.2013 (C-140/12 - Rechtssache Brey) folge die Unzulässigkeit einer solchen Bestimmung. Aufgrund seiner langjährigen Arbeitnehmerstellung
in Deutschland und seiner Versicherungszeiten in der deutschen Sozialversicherung stelle der Kläger "geradezu das Paradebeispiel"
eines Falles dar, in dem die Kriterien des EuGH zu einer Verbindung mit dem nationalen Arbeitsmarkt erfüllt seien und der
Leistungsausschluss nicht anwendbar sei.
Gegen diese am 23.05.2014 zugestellte Entscheidung richtet sich die Berufung des Beklagten vom 23.06.2014. Der Beklagte hält
an der Anwendbarkeit des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II auf den Kläger fest.
In der mündlichen Verhandlung vom 27.08.2015 hat der Beklagte die Arbeitnehmereigenschaft des Klägers in der Zeit vom 19.11.2012
bis zum 08.12.2012 sowie deren Fortbestand für sechs Monate anerkannt und sich im Wege eines vom Kläger angenommenen Teilanerkenntnisses
des Klageanspruchs verpflichtet, dem Kläger Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts dem Grunde nach für die Zeit vom
19.11.2012 bis zum 08.06.2013 zu bewilligen.
Im Übrigen hat der Beklagte beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts vom 14.04.2014 zu ändern und die Klage abzuweisen, soweit die Zeiträume 01.08.2012 bis 18.11.2012
und 09.06.2013 bis 08.09.2013 betroffen sind.
Der Kläger hat beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Er hält die angefochtene Entscheidung für zutreffend.
Der Kläger hat vorgetragen, sich bereits seit 2007 wieder in Deutschland aufzuhalten. Er habe damals bei "einem T" in L gewohnt,
dessen Nachname ihm nicht mehr geläufig sei. Er habe von gesparten 7000 EUR gelebt. Außerdem habe er 2009 bei einer Fa. T
gearbeitet und dort 600 EUR verdient.
Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die gewechselten Schriftsätze und die übrige Gerichtsakte
sowie die beigezogene Verwaltungsakte, deren wesentlicher Inhalt Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen ist, verwiesen.
Entscheidungsgründe
Die zulässige Berufung ist unbegründet. Das Sozialgericht hat den Beklagten zu Recht verurteilt, Leistungen zur Sicherung
des Lebensunterhalts nach dem SGB II zu bewilligen. Der Kläger hat einen entsprechenden Anspruch, weshalb der Beklagte dem Grunde nach (§
130 Satz 1
SGG) zur Leistungsbewilligung zu verurteilen war.
Leistungen nach dem SGB II erhalten gemäß § 7 Abs. 1 Satz 1 SGB II Personen, die das 15. Lebensjahr vollendet und die Altersgrenze nach § 7a SGB II noch nicht erreicht haben, erwerbsfähig und hilfebedürftig sind und ihren gewöhnlichen Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland
haben. Der Kläger bewegte sich innerhalb der Altersgrenzen des § 7 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGB II und war hilfebedürftig §§ 7 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3, 9 SGB II. Die Hilfebedürftigkeit wird durch die eingereichten Kontoauszüge und die glaubhaften Erklärungen des Klägers belegt und
ist zwischen den Beteiligten nicht umstritten. Der Kläger war erwerbsfähig im Sinne von § 7 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGB II i.V.m. § 8 Abs. 1 SGB II, wie er durch seine vorangegangenen, zwischenzeitlichen und anschließenden Tätigkeiten unter Beweis gestellt hat. Die rechtliche
Erwerbsfähigkeit (§ 8 Abs. 2 SGB II) liegt ebenfalls vor.
Der Kläger verfügte im streitigen Zeitraum über einen gewöhnlichen Aufenthalt im Bundesgebiet i.S.d. § 7 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 SGB II in Verbindung mit §
30 Abs.
3 Satz 2
SGB I, wonach der Begriff des gewöhnlichen Aufenthalts in erster Linie nach den objektiv gegebenen tatsächlichen Verhältnissen
im streitigen Zeitraum zu beurteilen ist (vgl. BSG, Urteil vom 29.05.1991 - 4 RA 38/90). Er hält sich in Deutschland dauerhaft auf und hat den Schwerpunkt seiner Lebensverhältnisse nach seiner Wiedereinreise
dauerhaft im Inland begründet. Ein zu dem gewöhnlichen Aufenthalt hinzutretendes Anspruchsmerkmal im Sinne des Innehabens
einer bestimmten Freizügigkeitsberechtigung nach dem FreizügG/EU bzw. eines bestimmten Aufenthaltstitels nach dem AufenthG ist für die Bejahung des gewöhnlichen Aufenthalts nicht erforderlich (BSG, Beschluss vom 12.12.2013 - B 4 AS 9/13 R; Urteil vom 30.01.2013 - B 4 AS 54/12 R).
Der Kläger unterliegt nicht dem Leistungsausschluss des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II. Nach dieser Vorschrift werden Ausländerinnen und Ausländer vom Leistungsanspruch ausgenommen, wenn sich ihr Aufenthaltsrecht
allein aus dem Zweck der Arbeitsuche (§ 2 Abs. 2 Nr. 1 Alt. 2 FreizügG/EU) ergibt. Bei Unionsbürgern ist in Ermangelung eines aussagekräftigen Aufenthaltstitels regelmäßig eine fiktive Prüfung des
Grundes ihrer Aufenthaltsberechtigung vorzunehmen. Bereits das Vorhandensein der Voraussetzungen eines Aufenthaltsrechts aus
einem anderen Grund als dem Zweck der Arbeitsuche hindert die positive Feststellung eines Aufenthaltsrechts allein aus dem
Zweck der Arbeitsuche, weil § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II als Regelung zum Ausschluss von existenzsichernden Sozialleistungen eng auszulegen ist (vgl. BSG, Urteil vom 30.01.2013 - B 4 AS 54/12 R; LSG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 10.10.2013 - L 19 AS 129/13).
Der Kläger verfügt nur über ein Aufenthaltsrecht zur Arbeitsuche. Ein Aufenthaltsrecht als Arbeitnehmer nach § 2 Abs. 2 Nr. 1 Alt. 1 FreizügG/EU i.V.m. § 2 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 - 3, Satz 2 FreizügG/EU besaß der Kläger nur für den von dem Beklagten anerkannten Zeitraum. Für den verbleibenden streitgegenständlichen Zeitraum
liegt keine Arbeitnehmereigenschaft vor. Ein Aufenthaltsrecht für Familienangehörige nach § 2 Abs. 2 Nr. 6 i.V.m. § 3 FreizügG/EU scheitert, weil der Kläger nach eigener Auskunft keinen Kontakt zu seiner in Deutschland lebenden erwachsenen Tochter hat
und Unterhalt nicht gewährt wird. Auch ein Daueraufenthaltsrecht nach § 2 Abs. 2 Nr. 7 i.V.m. § 4a FreizügG/EU konnte nicht festgestellt werden. Ein ursprünglich vorliegendes Daueraufenthaltsrecht war durch den mehr als zweijährigen
Aufenthalt des Klägers im Ausland gemäß § 4a Abs. 7 FreizügG/EU erloschen. Ein Aufenthalt bereits seit Anfang 2007, den der Kläger behauptet, konnte nicht bewiesen werden. Der Kläger war
trotz eingehender Befragung in der mündlichen Verhandlung nicht imstande, einen Beleg - beispielsweise in Form eines erreichbaren
Zeugenbeweises - für seine Behauptung zu nennen. Bewiesen ist aufgrund der Meldebescheinigung der Stadt Dortmund allein, dass
der Kläger sich seit November 2009 wieder in Deutschland aufhält. Damit ist im streitbefangenen Zeitraum ein Daueraufenthaltsrecht
noch nicht begründet. Auch ein Aufenthaltsrecht aus § 11 Abs. 1 Satz 5 FreizügG/EU i.V.m. § 7 Abs. 1 Satz 3 AufenthG, wonach in Ausnahmefällen eine Aufenthaltserlaubnis auch für einen von diesem Gesetz nicht vorgesehenen Aufenthaltszweck
erteilt werden kann (vgl. BSG, Urteil vom 30.01.2013 - B 4 AS 54/12 R ), ist nicht ersichtlich.
Beim Kläger war objektiv ein Aufenthaltsrecht aus dem Grund der Arbeitsuche nach § 2 Abs. 2 Nr. 1 Alt. 2 FreizügG/EU (seit 09.12.2014: § 2 Abs. 2 Nr. 1a FreizügG/EU) gegeben. Er hat sich aktiv und fortwährend und immer wieder mit Erfolg um Arbeit bemüht.
Der Leistungsausschluss ist auf beschäftigungslose Arbeitsuchende, die im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats, dessen Staatsangehörigkeit
sie nicht besitzen, eine Beschäftigung ausgeübt haben, und die eine tatsächliche Verbindung mit dem Arbeitsmarkt des Beschäftigungsstaats
haben, nicht anzuwenden:
1) Der Senat geht davon aus, dass es sich bei den vom Kläger beanspruchten Leistungen um Sozialhilfeleistungen im Sinne des
Art. 24 Abs. 2 der Freizügigkeitsrichtlinie handelt (zur Verpflichtung der nationalen Gerichte, die grundlegenden Merkmale
einer Leistung zu prüfen vergl. EuGH, Urteil vom 04.06.2009 - C-22/08 - Rechtssache W - Rn. 42). Prüfungsmaßstab ist damit nur Art. 24 Abs. 2 der Freizügigkeitsrichtlinie, nicht Art. 45 AEUV (Gewährleistung der Arbeitnehmerfreizügigkeit innerhalb der Europäischen Union). Art. 45 AEUV wäre nur einschlägig, wenn die vom Kläger begehrte Leistung bezwecken würde, den Zugang zum Arbeitsmarkt zu erleichtern.
Dies schlösse die Qualifizierung der Leistung als Sozialhilfe im Sinne des Art. 24 Abs. 2 der Freizügigkeitsrichtlinie aus,
denn es ist nach ständiger Rechtsprechung des EuGH nicht möglich, vom Anwendungsbereich des Art. 45 AEUV eine finanzielle Leistung auszunehmen, die den Zugang zum Arbeitsmarkt eines Mitgliedstaats erleichtern soll (vergl. EuGH,
Urteil vom 23.03.2004 - C-138/02 - Rechtssache D - und EuGH, Urteil vom 04.06.2009 - C-22/08 - Rechtssache W). Ungeachtet des Umstands, dass der EuGH - wie ausgeführt - den nationalen Gerichten die Aufgabe zugewiesen
hat, den Rechtscharakter einer Leistung näher zu bestimmen, hat er Hinweise zur Auslegung gegeben. Um der Definition einer
Leistung der Sozialhilfe im Sinne der Freizügigkeitsrichtlinie zu entsprechen, muss es sich um ein von öffentlicher Stelle
eingerichtetes Hilfssystem handeln, das auf nationaler, regionaler oder örtlicher Ebene besteht und das ein Einzelner in Anspruch
nimmt, der nicht über ausreichende Existenzmittel zur Bestreitung seiner Grundbedürfnisse und der seiner Familie verfügt.
Maßgeblich ist damit das mit der Leistung verfolgte Ziel, formale Kriterien sind nicht maßgeblich (EuGH, Urteil vom 19.09.2013
- C-140/12 - Rechtssache Brey; EuGH, Urteil vom 11.11.2014 - C 333/13 - Rechtssache E). Vorrangiges Ziel der nicht beitragsfinanzierten Grundsicherung für Arbeitsuchende ist, es den Leistungsberechtigten
zu ermöglichen, ein Leben zu führen, das der Würde des Menschen entspricht (§ 1 Abs. 1 SGB II). Die in § 7 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGB II für einen Anspruch auf Grundsicherungsleistungen nach dem SGB II verlangte Erwerbsfähigkeit ist nur ein formales Kriterium im Sinne des Urteil des EuGH in der Rechtssache C (abweichend insoweit
EuGH, Urteil vom 04.06.2009 - C-22/08 - Rechtssache W, wonach das Kriterium der Erwerbsfähigkeit ein Hinweis darauf sein kann, dass es sich um eine Leistung handelt,
die den Zugang zum Arbeitsmarkt erleichtern soll; kritisch zu dieser "Dissonanz" zwischen dem Urteil "E" und dem Urteil "W
G, ZESAR 2015, 95 f - 100). Zwar ist zuzugestehen, dass wesentliches Ziel der Grundsicherung für Arbeitsuchende gem. § 1 Abs. 2 Satz 2 SGB II auch ist, erwerbsfähige Leistungsberechtigte bei der Aufnahme oder Beibehaltung einer Beschäftigung zu unterstützen. Ein
hieraus ggfs. zu folgernder Mischcharakter der Leistung führt indes nur dazu, dass auf die überwiegende Funktion der Leistung
abzustellen ist. Diese besteht darin, die Existenzmittel zu gewährleisten, die erforderlich sind, um ein Leben zu führen,
das der Menschenwürde entspricht.
2) Die Qualifizierung der Leistung als Sozialhilfeleistung i.S.d. Art. 24 Abs. 2 der Freizügigkeitsrichtlinie führt indes
nicht dazu, dass der Leistungsausschluss auf den Kläger anwendbar ist. Nur eingeschränkt ausgelegt ist die Vorschrift mit
dem durch die Freizügigkeitsrichtlinie geschaffenen Rechtsrahmen vereinbar.
a) Nach der Entscheidung des EuGH vom 11.11.2014 (C-333/13 - Rechtssache E) ist das Vorliegen einer Ungleichbehandlung von Unionsbürgern, die von ihrem Recht auf Freizügigkeit und
Aufenthalt Gebrauch machen, und Staatsangehörigen des Aufnahmemitgliedstaats bei der Gewährung von Sozialleistungen eine unvermeidliche
Folge der Freizügigkeitsrichtlinie mit dem Erfordernis ausreichender Existenzmittel als Voraussetzung für den dauerhaften
Aufenthalt und dem Bestreben, keine Belastung für die Sozialhilfesysteme der Mitgliedstaaten herbeizuführen. Grundsätzlich
hat die Prüfung von Art. 24 Abs. 2 der Freizügigkeitsrichtlinie am Maßstab des Diskriminierungsverbots für den EuGH daher
nichts ergeben, was ihre Gültigkeit berühren könnte (so bereits für den Fall der Qualifizierung einer Leistung als Sozialhilfe
EuGH, Urteil vom 04.06.2009 - C-22/08 - Rechtssache W).
b) Selbst wenn auf dieser Grundlage der Rechtsprechung des EuGH zu entnehmen sein könnte, dass eine Regelung wie § 7 Abs. 2 Satz 2 Nr. 2 SGB II, die Personen, die sich zum Zweck der Arbeitsuche in das Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats begeben, von einer besonderen
beitragsunabhängigen Geldleistung im Sinne der Verordnung Nr. 883/2004, die eine Leistung der Sozialhilfe im Sinne der Freizügigkeitsrichtline
darstellt (wegen der unterschiedlichen Zielsetzungen der VO (EG) 883/2004 und der Freizügigkeitsrichtlinie kann eine besondere
beitragsunabhängige Geldleistung nach Art. 70 VO (EG) 883/2004 zugleich auch eine Leistung der Sozialhilfe i.S.d. Art. 24
Abs. 2 der Freizügigkeitsrichtlinie sein, hierzu EuGH, Urteil vom 19.09.2013 - C-140/12 - Rechtssache Brey - Rn. 48 f; BSG, Beschluss vom 12.12.2013 - B 4 AS 9/13 R; Bayerisches LSG, Beschluss vom 02.07.2014 - L 16 AS 419/14 B ER), ausschließt, grundsätzlich weder gegen Art. 4 der Verordnung Nr. 883/2004 noch gegen das mit der Freizügigkeitsrichtline
geschaffene System verstößt (so ausdrücklich der Schlussantrag des Generalanwalts X im Verfahren C-67/14 - RechtssacheB), ist der Leistungsausschluss jedenfalls im Wege der teleologischen Reduktion einzuschränken. Art. 24 Abs. 2 der Freizügigkeitsrichtlinie ist als Ausnahme von dem in Art. 18 AEUV normierten Grundsatz der Gleichbehandlung eng und im Einklang mit den Vertragsbestimmungen über die Unionsbürgerschaft und
die Freizügigkeit der Arbeitnehmer auszulegen. Für Staatsangehörige eines Mitgliedstaats, die in einem anderen Mitgliedstaat
eine Beschäftigung ausgeübt haben, ist der automatische Leistungsausschluss unverhältnismäßig, wenn der Betroffene eine tatsächliche
Verbindung zu dem Arbeitsmarkt des anderen Mitgliedstaats aufweist. Eine tatsächliche Verbindung zum Arbeitsmarkt kann sich
aus familiären Umständen, einer effektiven und tatsächlichen Beschäftigungssuche während eines angemessenen Zeitraums, einer
früheren Erwerbstätigkeit im anderen Mitgliedstaat oder auch aus dem Umstand ergeben, dass der Betroffene nach Stellung des
Antrags auf Sozialleistungen eine neue Arbeit gefunden hat (ebenso Schlussantrag des Generalanwalts X im Verfahren C-67/14 - Rechtssache B).
c) Der Kläger weist in diesem Sinne eine tatsächliche Verbindung zum deutschen Arbeitsmarkt auf. Er beherrscht die deutsche
Sprache, hat viele Jahre in Deutschland gelebt und in sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnissen gestanden,
nach Wiedereinreise nach Deutschland hier Beschäftigung gefunden und auch nach Stellung des jetzt streitigen Leistungsantrags
weiter mit Erfolg Arbeit gesucht. Bei wertender Betrachtung steht der Kläger dem deutschen Arbeitsmarkt näher, als dem italienischen.
d) Nach ständiger Rechtsprechung des EuGH zum Anwendungsvorrang des Unionsrechts führt der Verstoß gegen ein unionsrechtliches
Diskriminierungsverbot dazu, dass das nationale Gericht daran gehindert ist, das diskriminierende Merkmal des nationalen Rechts
anzuwenden (statt vieler: EuGH, Urteil vom 22.06.2011 - C-399/09 - Rechtssache M; zur damit verbundenen Prüfungs- und Verwerfungskompetenz vgl. bereits BVerfG, Beschluss vom 09.06.1971 -
BvR 225/69).
3) Ob der Kläger daneben einen Anspruch auf Leistungen nach dem SGB II aus dem Europäischen Fürsorgeabkommen vom 11.12.1953 (BGBl.1956 II S.563) ableiten kann, bedarf keiner Entscheidung.
Die Kostenentscheidung beruht auf §193
SGG.
Die Revision war wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache nach §
160 Abs.
2 Nr.
1 SGG zuzulassen.