Rente wegen voller Erwerbsminderung - schwere spezifische Leistungsbehinderung; Taubheit; Verpacker; Rente wegen voller Erwerbsminderung;
Schwerhörigkeit, beidseits; Verweisungstätigkeit; Kommunikationsschwierigkeiten; schriftliche Anweisung; Küchenhilfe; Gruppe
der Ungelernten
Tatbestand:
Die Beklagte wendet sich gegen die Verurteilung zur Bewilligung einer Rente wegen voller Erwerbsminderung nach dem Sechsten
Buch Sozialgesetzbuch (Gesetzliche Rentenversicherung -
SGB VI) von November 2005 bis Juni 2009.
Die am ... 1957 geborene Klägerin absolvierte nach der 10. Schulklasse vom 1. September 1974 bis zum 15. Februar 1976 eine
Ausbildung zum Facharbeiter für Fernsprechverkehr (Telefonistin). Im Anschluss daran war sie in ihrem erlernten Beruf bis
Dezember 1984 und dann - nach ihrem Wegzug von ihrem bereits geschiedenen Ehemann - von Januar 1985 bis Oktober 1991 als Küchenhilfe
versicherungspflichtig tätig. Nach anschließender Arbeitslosigkeit nahm sie vom 28. Juni 1993 bis zum 26. Juli 1995 erfolgreich
an einer Umschulungsmaßnahme zur Bürokauffrau teil. Seit dem 27. Juli 1995 ist die Klägerin erneut arbeitslos, mit Unterbrechungen
wegen der Teilnahme an zwei Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen. Seit 1. Januar 2005 erhält sie Arbeitslosgeld II.
Auf ihren Antrag vom 8. September 1992 war zunächst ein Grad der Behinderung (GdB) von 30, seit 10. November 2004 sind ein
GdB von 70 und das Merkzeichen "RF" anerkannt (Bescheid des Landesverwaltungsamtes vom 14. März 2005).
Die Klägerin beantragte am 14. Februar 2005 bei der Landesversicherungsanstalt Sachsen-Anhalt (LVA), deren Rechtsnachfolgerin
die Beklagte ist, die Bewilligung von Rente wegen Erwerbsminderung und machte geltend, wegen einer seit ihrer Kindheit zunehmenden
Schwerhörigkeit beidseits, fast Taubheit, und wegen Rheuma seit 1988 keine Tätigkeiten mehr verrichten zu können.
Auf Veranlassung der LVA erstattete der Facharzt für Hals-Nasen-Ohrenheilkunde Dr. M. das Gutachten vom 21. April 2005 auf
Grund einer Untersuchung der Klägerin am 7. April 2005. Nach Aktenlage bestehe bei der Klägerin seit dem zweiten Lebensjahr
eine Innenohrschwerhörigkeit beidseits; seit 1988 liege eine weitere Hörverschlechterung vor. Trotz Hörgeräteversorgung bestehe
kein Sprachverständnis. Die Klägerin habe angegeben, sie verstehe nichts Gesprochenes; sie habe nie gelernt, von den Lippen
abzulesen. Dr. M. benannte als Diagnose eine an Taubheit grenzende Schwerhörigkeit beidseits. Die Klägerin könne aus HNO-ärztlicher
Sicht alle Tätigkeiten ohne Lärm, Anforderungen an das Gehör und ohne sofortige und ständige Anrufbereitschaft zur Gefahrenabwehr
vollschichtig verrichten. Tätigkeiten z.B. als Pförtner mit Videoüberwachung, Gärtner sowie Bürokauffrau (nur schriftliche
Arbeitsanweisungen) könne sie noch bewältigen. Dr. M. bejahte im Ankreuzverfahren die Fähigkeit der Klägerin, eine Wegstrecke
von mehr als 500 m innerhalb von 20 Minuten viermal täglich zurückzulegen.
Nach Einholung eines Befundberichts der Fachärztin für Orthopädie Dr. L. vom 27. Juni 2005 ließ die LVA den Facharzt für Orthopädie,
Chirotherapie Dr. B. das Gutachten vom 5. August 2005 auf Grund einer Untersuchung der Klägerin am 28. Juli 2005 erstatten.
Dr. B. führte als Diagnosen ein leichteres Lumbalsyndrom bei mobilem Hohlrundrücken, Spreizfußbeschwerden bei Senkspreizfuß
beidseits und "Handgelenksbeschwerden, nicht objektivierbar" an. Eine messbare Einschränkung der beruflichen Belastbarkeit
bestehe nicht. Der Klägerin seien sämtliche leichten bis mittelschweren körperlichen Arbeiten ganztägig zumutbar. Auch er
bejahte im Ankreuzverfahren die Fähigkeit der Klägerin, eine einfache Gehstrecke von mehr als 500 m viermal täglich innerhalb
20 Minuten zurückzulegen.
Mit Bescheid vom 29. August 2005 lehnte die LVA den Rentenantrag ab. Die Erwerbsfähigkeit sei durch eine hochgradige Hörminderung
beidseits seit Kindheit, Rückenschmerzen und Spreizfuß beeinträchtigt. Mit dem vorhandenen Leistungsvermögen könnten auf dem
allgemeinen Arbeitsmarkt Tätigkeiten im Umfang von mindestens sechs Stunden täglich ausgeübt werden.
Dagegen legte die Klägerin am 1. September 2005 Widerspruch ein und stellte u.a. klar, bis 1984 habe noch keine Schwerhörigkeit
bestanden; erst seit 1988 befinde sie sich HNO-ärztlicher Behandlung. Seitdem habe sich ihre Hörfähigkeit so verschlechtert,
dass sie fast taub sei. Sie habe keine Chancen auf dem Arbeitsmarkt. Zudem leide sie seit 2002 an einem Fibromyalgiesyndrom
mit ständigen Schmerzen am gesamten Körper, selbst bei leichten körperlichen Arbeiten unter drei Stunden.
Die Klägerin nahm sodann an einer stationären Rehabilitation in der B.-klinik in Bad B. vom 9. Februar bis zum 16. März 2006
teil. In dem Entlassungsbericht vom 16. März 2006 wurden als Diagnosen eine Taubheit mit Hörresten, ein chronischer komplexer
Tinnitus beidseits, Anpassungsstörungen, eine Iliosakralgelenks (ISG)-Arthrose und ein Karpaltunnel-Syndrom berücksichtigt.
Ein erhöhter Tonus der Schulter-Nacken-Muskulatur, eine leicht eingeschränkte Halswirbelsäulen (HWS)-Beweglichkeit und keine
Druckdolenz über den Dorn- und Querfortsätzen der Lendenwirbelsäule (LWS) seien bei einem Finger-Boden-Abstand von 0 cm festzustellen
gewesen. Die grob-orientierende Untersuchung der großen Körpergelenke habe keinen pathologischen Befund ergeben. Die Klägerin
sei auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt für leichte körperliche Arbeiten ohne Heben und Tragen von Lasten über zehn kg, ohne
Anforderung an das Hörvermögen und ohne Stressbelastung vollschichtig arbeitsfähig. Für die Klägerin selbst stehe weniger
ihre Hörschädigung als ihre fehlende körperliche Belastbarkeit auf Grund der - nach ihren Angaben bislang medikamentös erfolglos
behandelten - Fibromyalgie im Vordergrund. Von einer psychischen Überlagerung bei den sehr demonstrativ geklagten Beschwerden
sei auszugehen.
Mit Widerspruchsbescheid vom 18. Juli 2006 wies die Beklagte den Widerspruch der Klägerin als unbegründet zurück. Es bestehe
ein Leistungsvermögen von sechs Stunden und mehr täglich für leichte bis mittelschwere Arbeiten ohne starken Zeitdruck (z.B.
Akkord, Stressbelastung), Nachtschicht, Gefährdung durch Lärm, häufige Zwangshaltungen, häufigen Publikumsverkehr sowie ohne
Anforderungen an das Sprachverständnis und Hörvermögen. Die Leistungsfähigkeit der Klägerin sei durch eine schwere spezifische
Leistungseinschränkung beeinträchtigt. Sie sei jedoch medizinisch zumutbar verweisbar z.B. auf eine Tätigkeit als Verpackerin
(von Kleinteilen). Bei der Verpackungstätigkeit handele es sich um eine körperlich leichte Arbeit ohne Vorkenntnisse. Die
zu verpackende Stückzahl werde jeweils vorgegeben, so dass es sich um ein Abzählen und Einpacken handele. Da die Arbeiten
auf Anweisung erfolgten, spiele das Unvermögen des Versicherten, nicht lesen und schreiben zu können, keine Rolle. Berufsunfähigkeit
liege auch nicht vor. In ihrem Hauptberuf als Küchenhilfe sei die Klägerin in die Gruppe der Ungelernten einzuordnen und damit
auf alle Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarktes verweisbar sei.
Hiergegen hat sich die Klägerin mit der am 28. Juli 2006 beim Sozialgericht Magdeburg erhobenen Klage gewandt. Aufgrund der
an Taubheit grenzenden Schwerhörigkeit, der Schmerzen aufgrund des Fibromyalgiesyndroms und des im November 2005 diagnostizierten
Karpaltunnelsyndroms beider Hände sei ihr auch die Verrichtung der Tätigkeit als Verpackerin von Kleinteilen nicht möglich.
Das Sozialgericht hat Befund- und Behandlungsberichte eingeholt. Dr. S. hat unter dem 11. April 2007 aufgrund einer letztmaligen
Behandlung der Klägerin am 11. Oktober 2006 ein chronisches Fibromyalgiesyndrom als chronisches Schmerzsyndrom aufgezeigt.
Sämtliche 2002 durchgeführten Spezialuntersuchungen - insbesondere die Computertomographie (CT) der LWS und der ISG sowie
die Knochenszintigraphie - hätten keine wesentlichen pathologischen Befunde ergeben. Auf dem normalen Arbeitsmarkt sei die
Klägerin nicht vermittelbar, eine idealisierte Tätigkeit im Sitzen in klimatisch geschützter Umgebung ohne psychische Belastung
sei nicht existent. Sicherlich bestehe keine vollschichtige Einsatzfähigkeit. Dr. S. hat einen Arztbrief vom 11. Oktober 2006
beigefügt, in dem er einen entzündlichen Rheumatismus ausgeschlossen und auf einen Weichteilrheumatismus verwiesen hat. Er
hat einen blanden Gelenkbefund, keine synovitische Schwellungen, einen kompletten Faustschluss und eine unauffällige Beweglichkeit
der Gelenke beschrieben und eine begleitende psychosomatische Betreuung vorgeschlagen. Die Fachärztin für Anästhesiologie/Spezielle
Schmerztherapie Dr. R. hat unter dem 10. April 2007 als Diagnosen eine Lumboischialgie, segmentale und somatische Funktionsstörungen
im Sakralbereich, eine sonstige Spondylose im Lumbosakralbereich, ein Skalenus-Syndrom, segmentale und somatische Funktionsstörungen
im Zervikalbereich, eine anhaltende somatoforme Schmerzstörung, muskuläre Dysbalancen im Wirbelsäulenbereich und einen sonstigen
chronischen Schmerz angegeben. Der chronische Schmerzzustand habe in einem gewissen Rahmen nach vierwöchiger Therapie (vom
13. Februar bis zum 14. März 2007) bei einem Rückgang der Intensität der Schmerzen auf der numerischen Analogskala von 8 auf
4 bis 5 stabilisiert werden können. Bei nur geringer Mehrbeanspruchung zeichne sich eine sofortige deutliche Verschlechterung
der Beschwerden ab. Aufgrund der Taubheit, sekundär wegen der chronischen Rückenschmerzen, sei letztendlich eine Arbeitsfähigkeit
nicht mehr gegeben. Die Fachärztin für HNO-Heilkunde Dr. T. hat unter dem 25. April 2007 mitgeteilt, die Klägerin sei im Berufsleben
nicht einsetzbar; sie erledige alle Wege nur in Begleitung. Die Fachärztin für Orthopädie Dr. L. hat in ihrem Befundbericht
vom 10. April 2007 als Diagnosen einen Zustand nach Karpaltunnelsyndrom-Operation rechts am 9. August 2006 und ein chronisches
lumbales und zervikales Schmerzsyndrom bei einer ausgeprägten Schwerhörigkeit benannt.
Das Sozialgericht Magdeburg hat mit Urteil vom 11. November 2008 die Beklagte verurteilt, "der Klägerin Renten wegen voller
Erwerbsminderung von November 2005 bis Oktober 2008 und von November 2008 bis Juni 2009 zu gewähren". Bei der Klägerin liege
eine schwere spezifische Leistungsbehinderung, nämlich Taubheit, vor. Da sie die von der Beklagten benannte Verweisungstätigkeit
als Verpackerin von Kleinteilen nicht ausüben könne, sei der Arbeitsmarkt (strukturell bedingt) verschlossen. Die Klägerin
sei keineswegs durch orthopädische Leiden gehindert, als Verpackerin tätig zu sein. Sie könne allerdings nicht die - entsprechend
der Schilderung der Beklagten im Widerspruchsbescheid - mündlichen Anweisungen verstehen. Der Eintritt des Leistungsfalls
sei mit dem Gutachten vom 21. April 2005 anzunehmen. Die Rente sei nur auf Zeit zu bewilligen, weil die Minderung der Folgen
der Taubheit durch eine Maßnahme der Rehabilitation noch möglich erscheine.
Gegen das ihr am 18. November 2008 zugestellte Urteil hat die Beklagte am 11. Dezember 2008 Berufung beim Landessozialgericht
Sachsen-Anhalt eingelegt. Eine schwere spezifische Leistungseinschränkung liege in Anbetracht der an Taubheit grenzenden Schwerhörigkeit
mit den daraus resultierenden Kommunikationsschwierigkeiten vor. Die von ihr benannte Verweisungstätigkeit als Verpackerin
von Kleinteilen sei der Klägerin jedoch gesundheitlich zumutbar. Im Urteil des Sozialgerichts werde unterstellt, dass schriftliche
Anweisungen für die Arbeitsorganisation und -bewältigung der Verpackungsarbeiten in der Arbeitswelt für eine Hörbehinderte
nicht möglich seien. Gerade bei ungelernten Tätigkeiten wie Verpackungsarbeiten seien nur kurze Einweisungszeiten erforderlich,
da sich die anfallenden Aufgaben durch ein hohes Maß an Wiederholung auszeichneten, so dass die Arbeitsläufe rasch routinemäßig
verrichtet werden könnten. Die Klägerin sei zudem zusätzlich auf die Tätigkeit einer Mitarbeiterin in einer Poststelle zu
verweisen.
Die Beklagte beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Magdeburg vom 11. November 2008 aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Die Klägerin beantragt,
die Berufung der Beklagten zurückzuweisen.
Sie hält das Urteil des Sozialgerichts für zutreffend. Aufgrund ihrer Erkrankungen sei sie nicht in der Lage, einer Erwerbstätigkeit
von sechs Stunden nachzugehen. Neu hinzugekommen sei eine Schultersteife rechts.
Der Senat hat einen Befundbericht der Fachärztin für Neurologie und Psychiatrie, Psychotherapie Dipl.-Med. W. vom 18. Januar
2010 bei einem Behandlungsbeginn am 26. November 2009 eingeholt, die über eine verzögerte Nervenleitgeschwindigkeit des Nervus
medianus beidseits, den Verdacht auf ein Rezidivkarpaltunnelsyndrom rechts sowie den Verdacht auf Angst und Depression berichtet
hat.
Der Senat hat zunächst zu der Verweisungstätigkeit "einfache Pack- und leichte Sortierarbeiten" eine Stellungnahme des Diplom-Verwaltungswirts
L. vom 12. Mai 2009 unter Bezugnahme auf dessen berufskundliches Gutachten vom 29. August 2008 in dem Verfahren L 3 RJ 207/07 eingeholt und diesen dann das berufskundliche Gutachten vom 5. Mai 2010 nach Aktenlage erstatten lassen. Der Sachverständige
hat ausgeführt, mit dem ermittelten Leistungsvermögen sei die Klägerin den körperlichen Anforderungen bzw. Belastungen von
leichten Packarbeiten oder einfachen Sortierarbeiten in Form einer Versandfertigmacherin sowie einfachen Prüfarbeiten gewachsen;
intellektuell ergäben sich keinerlei Einschränkungen. Da es sich bei diesen Tätigkeiten nicht um komplexe Arbeitsinhalte handele,
für die ein umfangreiches Wissen vermittelt werden müsse, oder um komplizierte manuelle Arbeitsverrichtungen, bei denen während
der Einarbeitung ständig kommuniziert und korrigierend eingegriffen werden müsse, halte er trotz der vorliegenden an Taubheit
grenzenden Schwerhörigkeit eine aufgabenbezogene Einarbeitung der Klägerin am Arbeitsplatz mit einer Dauer von höchstens drei
Monaten für ausreichend, um vollwertig konkurrenzfähig arbeiten zu können. Während der Arbeitsverrichtung (also nach der Einarbeitungsphase)
sei im Arbeitsalltag keine Kommunikation erforderlich, weil sich "selbst erklärende" Arbeitsabläufe ergäben und sich auch
keine Fremd- oder Eigengefährdung entwickele, weil akustische (Warn-)Signale an diesen Arbeitsplätzen nicht beachtet werden
müssten. Die Anzahl der Arbeitsplätze für leistungsgeminderte Bewerber liege deutlich oberhalb von 300 bis 400.
Die Klägerin ist dem Gutachten des Sachverständigen Langhoff mit der Begründung entgegengetreten, dieser habe das Fibromyalgiesyndrom
völlig außer Acht gelassen, welches gegen die gesundheitliche Zumutbarkeit der benannten Verweisungstätigkeit spreche. Sie
hat u.a. einen Magnetresonanztomographie (MRT)-Befund der HWS vom 19. August 2010 übersandt.
Der Senat hat sodann Befundberichte von Dr. L. vom 10. Januar 2011 und von der Fachärztin für Allgemeinmedizin Dipl.-Med.
H. vom 3. Februar 2011 eingeholt. Dr. L. hat als Diagnosen eine Fibromyalgie mit Auslösung eines chronifizierten Schmerzsyndroms,
eine Zervikalneuralgie bei chronifizierter Funktionsstörung der HWS und des Schultergürtels, eine Unkovertebralarthrose der
Brustwirbelsäule (BWS), ein Impingementsyndrom der rechten Schulter, einen Zustand nach Karpaltunnelsyndrom-Operation rechts
2006 mit anhaltender Neuropathie und einen schnellenden Daumen links angegeben. Im Zeitraum von April 2007 bis Juni 2009 hätten
Dysästhesien der Finger 1 bis 4 mit Einschränkungen der groben Kraft bestanden, der Fingerspitzengriff 2 zu 1 sowie das Oppositionsvermögen
des Daumens seien kraftgemindert gewesen; der Faustschluss sei bei fehlenden äußerlichen Deformierungen möglich gewesen. Durch
die anhaltende Neuropathie des Nervus medianus seien einfache Pack- und Sortierarbeiten in diesem Zeitraum nicht durchführbar
gewesen. Dipl.-Med. H. hat auf zunehmende Schmerzen im HWS-Bereich sowie eine Bewegungseinschränkung im Schulterbereich beidseits
verwiesen.
Die Beklagte hat den Antrag der Klägerin auf Bewilligung von Rente wegen Erwerbsminderung vom 18. März 2011 mit Bescheid vom
29. Juni 2011 abgelehnt, wogegen die Klägerin Widerspruch erhoben hat. Die diesem Verfahren zugrunde liegenden medizinischen
Unterlagen hat die Beklagte dem Senat vorgelegt.
Der Senat hat schließlich den Chefarzt der Neurologischen Klinik und Ärztlichen Direktor im S. Krankenhaus A. Dr. V. das Gutachten
vom 29. Juni 2011 erstatten lassen. Die ambulante Untersuchung der Klägerin am 24. Juni 2011 sei mit handschriftlicher Fragestellung
erfolgt. Die Klägerin habe den Eindruck vermittelt, kein gesprochenes Wort zu verstehen, habe aber prompt und gut verständlich
die schriftlich gestellten Fragen beantwortet. Sie habe angegeben, stets mit Stift und Zettel ausgestattet zu sein, um kommunizieren
zu können. Das Erlernen des Lippenablesens im Rahmen einer logopädischen Behandlung sei ohne Erfolg gewesen. Sie leide an
Schmerzen "im gesamten Körper". Bei Betätigung der Hände würden die Handgelenke anschwellen. Ihr falle dann oft etwas aus
den Händen. Bereits beim Staubsaugen könne sie den Sauger kaum halten. Sie leide an Schlafstörungen und einem Steifigkeitsgefühl
bei längerem Sitzen. Sie fühle sich antriebslos, ihre Stimmung sei wechselhaft. Immer komme etwas Neues an Gesundheitsstörungen
hinzu, wie zurzeit ein Überbein am linken Handgelenk. Zum Tagesablauf befragt habe die Klägerin berichtet, regelmäßig Einkäufe
zu erledigen, Spazieren zu gehen, unregelmäßig, aber oft gymnastische Übungen zu Hause zu absolvieren. Sie schaue fern - mit
oder ohne Untertitel - und lese auch. Nach den Angaben der Tochter gehe die Klägerin alleine spazieren, einkaufen und auch
zu den Ärzten. Die Klägerin fahre selbst noch Auto, aber nur in der gewohnten Umgebung. Im allgemein-körperlichen Befund habe
die Klägerin eine Druckempfindlichkeit in den meisten Körperregionen, besonders im Wirbelsäulen- und Hüftbereich beidseits,
sowie auch der so genannten Trigger-Points angegeben. Die Funktionsfähigkeit und Beweglichkeit der Gelenke und der Wirbelsäule
seien nicht eingeschränkt. Im neurologischen Befund bestehe über eine Mangelinnervation bei Einzelmuskelprüfungen hinaus kein
Hinweis von Paresen und Sensibilitätsstörungen. Die Muskeleigenreflexe seien schwach und in den Beinen besonders schwach auslösbar.
Die komplexeren Gang- und Standprüfungen stellten sich von ängstlicher Unsicherheit mit ungerichtetem Schwanken überlagert
dar. Einschränkungen der Hand- und Fingerfunktionen seien bei der Untersuchung im Einzelnen rechts und links nicht feststellbar
gewesen. Eine verzögerte Nervenleitgeschwindigkeit des Nervus medianus beidseits sei Ausdruck eines leichten Karpaltunnelsyndroms,
weswegen sich - allerdings erst nach einer gewissen Dauer dauernder feinmotorischer Betätigung der Hände - leichte Einschränkungen
bemerkbar machten. Insoweit seien allgemeine Kraft, Faustschluss, Spreizmöglichkeiten und Fingerspitzgriff im Bereich beider
Hände im Rahmen der Untersuchung ohne vorausgegangene Belastungsphase wesentlich erhalten gewesen. Die Tatsache, dass sich
eine verminderte, aber überwindbare Kraftentwicklung bei den Funktionsprüfungen beider Hände gezeigt habe, sei eindeutig auf
Mangelinnervation und nicht auf Kraftabschwächung im Rahmen von Paresen zurückzuführen, was nicht nur im Bereich der Hände,
sondern auch im Bereich der Beine demonstriert worden sei. Entsprechende Bewegungseinschränkungen, wie sie zum Beispiel beim
Aus- und Ankleiden, beim spontanen Gehen oder bei spontanen Greiffunktionen während der Anamneseerhebung dann bestanden hätten,
wenn es sich hierbei um eine echte Kraftabschwächung gehandelt hätte, seien nicht feststellbar gewesen. Einschränkungen beim
Drehen eines Schraubenziehers, Aufheben kleiner Gegenstände oder Geld zählen seien zwar nicht geprüft worden, aber die Funktionsprüfung
der Hände, verbunden mit dem Befund der Elektrophysiologie, lasse Störungen in diesem Bereich nur dann erwarten, wenn diese
Tätigkeiten ständig oder länger anhaltend durchgeführt würden. Einschränkungen in den Händen beim Auto fahren oder beim Schreiben
seien nicht zu erwarten. Der psychische Befund sei von affektiver Schmerzfixierung und ängstlicher Vermeidenshaltung, aber
auch von leichten Verdeutlichungstendenzen gekennzeichnet. In der Testpsychologie fänden sich keine eindeutigen Hinweise auf
krankheitswertige Angststörungen oder Depressivität, allerdings auf deutliches psychosomatisches Gestörtsein und Gesundheitssorgen
sowie emotionale Labilität und Empfindlichkeit sowie allgemeine Hemmung mit Aggressionshemmung bei noch durchschnittlicher
allgemeiner Lebenszufriedenheit. Eine deutliche Diskrepanz zwischen subjektiv schmerzhaften Beschwerden und objektivierbaren
Untersuchungsbefunden sei sowohl hinsichtlich radiologischer als auch körperlicher Befunde für den Zeitraum von Februar 2005
bis Juni 2009 zu verzeichnen. Dr. V. hat als Diagnosen eine anhaltende somatoforme Schmerzstörung, eine Taubheit beidseits
bei gut erhaltener Sprachfähigkeit, eine Anpassungsstörung sowie ein leichtes Karpaltunnelsyndrom beidseits benannt. Das Spannungsfeld,
aufgrund der Hörstörungen in der Berufsfindung und im Berufsleben benachteiligt zu sein und zudem den Umschulungsberuf der
Bürokauffrau wegen der Hörstörungen nicht ausüben zu können, habe ebenso wie das bisher sich hinziehende und nicht abgeschlossene
Rentenverfahren die Entwicklung der Somatisierungsstörung begünstigt. Auf dieser psychopathologischen Grundlage sei es auch
erklärlich, warum es die Klägerin bei durchaus intellektuell geeigneten Voraussetzungen bisher nicht vermocht habe, von den
Lippen abzulesen und hierüber eine eingeschränkte Kommunikationsfähigkeit im täglichen Alltag zu entwickeln.
Die Klägerin habe von Februar 2005 bis Juni 2009 körperlich leichte bis mittelschwere Arbeiten noch mindestens sechs Stunden
täglich verrichten können. Arbeiten mit nur noch gelegentlichen einseitigen körperlichen Belastungen bzw. Zwangshaltungen
wie Knien, Hocken, Bücken, Heben, Tragen oder Bewegen von Lasten ohne mechanische Hilfsmittel, auch Gerüst- und Leiterarbeiten,
seien zumutbar gewesen. Die Klägerin habe nur noch Arbeiten in geschlossenen Räumen unter Vermeidung starker Temperaturschwankungen,
Zugluft und Nässe durchführen können. Sie sei Arbeiten mit besonderen Anforderungen an das Sehvermögen, geistig mittelschwierigen
Anforderungen, unterdurchschnittlichen Anforderungen an Reaktionsfähigkeit, Übersicht und Aufmerksamkeit sowie durchschnittlichen
Anforderungen an Verantwortungsbewusstsein und Zuverlässigkeit gewachsen gewesen. Ihr seien nur noch Arbeiten ohne Anforderung
an das Hörvermögen möglich gewesen. Arbeiten in Nachtschicht und besonderem Zeitdruck seien ausgeschlossen, Arbeiten in Wechselschicht
und mit häufigem Publikumsverkehr seien zumutbar gewesen. Arbeiten, die die volle Gebrauchsfähigkeit beider Hände erforderten,
seien unter Meidung eines ständigen Umgangs mit Kleinteilen oder von feinmotorischen Tätigkeiten möglich gewesen. Einfache
körperliche Verrichtungen wie Zureichen, Abnehmen, Transportieren, Reinigen, Bedienen von Maschinen, Kleben, Sortieren, Verpacken,
Zusammensetzen von Teilen habe die Klägerin ausführen können, soweit es sich nicht um Kleinteile oder spezielle andauernde
feinmotorische Anforderungen handelte. Nicht nur unter Berücksichtigung objektivierbarer Befunde, sondern auch der für das
Krankheitsbild nicht oder nur eingeschränkt objektivierbaren Parameter seien weder die körperlichen noch die psychoemotionalen
Einschränkungen der Klägerin in ihrer Kombination und Ausprägung so schwerwiegend, dass hieraus eine quantitative Leistungsminderung
unter Berücksichtigung der oben genannten qualitativen Einschränkungen abzuleiten wäre. Im maßgeblichen Zeitraum habe eine
geringgradige Einschränkung der Gehfähigkeit der Klägerin bestanden. Sie habe aber regelmäßig Fußwege von mehr als 500 m viermal
täglich zurücklegen können. Eine Strecke von 500 m zu Fuß sei ohne unzumutbare Schmerzen jeweils von deutlich unter 20 Minuten
möglich gewesen. Auch habe die Klägerin ein öffentliches Verkehrsmittel benutzen können.
Die Klägerin ist dem Gutachten von Dr. V. entgegengetreten und hat insbesondere - neben der Nichtberücksichtigung des Fibromyalgiesyndroms
- geltend gemacht, entgegen den Feststellungen des Gutachters sei eine Gebrauchsfähigkeit ihrer Hände nicht gegeben. Das Untersuchungsergebnis
der Hände sowie der oberen und unteren Extremitäten sei ferner nicht zu verwerten, da sie am Tag der Begutachtung noch keiner
Belastung ausgesetzt und ausgeruht gewesen sei. Sie hat Teil B des Gutachtens von MR H. des Ärztlichen Dienstes der Agentur
für Arbeit S. vom 7. August 2007 vorgelegt, wonach sie täglich drei bis unter sechs Stunden für voraussichtlich länger als
sechs Monate, aber nicht auf Dauer leistungsfähig gewesen sei. In dem ferner beigefügten Schreiben von Dr. L. vom 30. August
2011 wird auf einen vom Gutachten abweichenden Lokalbefund der Hände verwiesen und die Veranlassung einer Gegendarstellung
mit Befunderhebung von einem unabhängigen Kollegen, einem Facharzt für Orthopädie, Unfallchirurgie oder Neurologie bzw. einem
Facharzt für Handchirurgie empfohlen.
Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf den Inhalt der Gerichtsakten und der Verwaltungsakte der Beklagten, die sämtlich
Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen sind, Bezug genommen.
Entscheidungsgründe:
Die zulässige Berufung der Beklagten ist begründet. Das Sozialgericht hat der Klage zu Unrecht stattgegeben und die Beklagte
zur Zahlung einer - zeitlich befristeten - Rente wegen voller Erwerbsminderung verurteilt. Die Klägerin hat keinen Anspruch
auf Bewilligung einer Rente wegen voller bzw. teilweiser Erwerbsminderung für die Zeit von November 2005 bis Juni 2009. Der
ablehnende Bescheid der Beklagten ist insoweit rechtmäßig und verletzt die Klägerin nicht in ihren Rechten (54 Abs. 2 Satz
1
Sozialgerichtsgesetz (
SGG)). Aus diesem Grund war das Urteil des Sozialgerichts aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Nach §
43 Abs.
1 Satz 1, Abs.
2 Satz 1
SGB VI in der ab dem 1. Januar 2001 geltenden Fassung haben Versicherte bis zum Erreichen der Regelaltersgrenze Anspruch auf Rente
wegen teilweiser oder voller Erwerbsminderung, wenn sie teilweise oder voll erwerbsgemindert sind, in den letzten fünf Jahren
vor Eintritt der Erwerbsminderung drei Jahre Pflichtbeiträge für eine versicherte Beschäftigung oder Tätigkeit und vor Eintritt
der Erwerbsminderung die allgemeine Wartezeit erfüllt haben.
Die Klägerin war aber seit dem 21. April 2005 bis Juni 2009 nicht voll oder teilweise erwerbsgemindert und hat deshalb keinen
Anspruch auf Bewilligung einer Rente wegen voller bzw. teilweiser Erwerbsminderung für die Zeit von November 2005 bis Juni
2009. Nach §
43 Abs.
1 Satz 2
SGB VI sind teilweise erwerbsgemindert Versicherte, die wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außerstande sind,
unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens sechs Stunden täglich erwerbstätig zu sein. Nach
§
43 Abs.
2 Satz 2
SGB VI sind voll erwerbsgemindert Versicherte, die wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außerstande sind, unter
den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens drei Stunden täglich erwerbstätig zu sein. Erwerbsgemindert
ist nach §
43 Abs.
3 SGB VI nicht, wer unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens sechs Stunden täglich erwerbstätig sein
kann; dabei ist die jeweilige Arbeitsmarktlage nicht zu berücksichtigen.
Die Klägerin konnte seit dem 21. April 2005 bis Juni 2009 nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme unter den üblichen Bedingungen
des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens sechs Stunden täglich erwerbstätig sein. Dabei geht der Senat von folgendem Leistungsbild
aus: Die Klägerin war in der Lage, körperlich leichte bis mittelschwere Arbeiten in geschlossenen Räumen sechs Stunden und
mehr täglich zu verrichten. Arbeiten mit nur noch gelegentlichen einseitigen körperlichen Belastungen bzw. Zwangshaltungen
wie Knien, Hocken, Bücken, Heben, Tragen oder Bewegen von Lasten ohne mechanische Hilfsmitteln sowie in Wechselschicht waren
zumutbar. Arbeiten unter Exposition von starken Temperaturschwankungen, Zugluft und Nässe, auf Leitern und Gerüsten sowie
Überkopfarbeiten waren zu meiden. Die Klägerin war Arbeiten mit besonderen Anforderungen an das Sehvermögen, geistig mittelschwierigen
Anforderungen, unterdurchschnittlichen Anforderungen an Reaktionsfähigkeit, Übersicht und Aufmerksamkeit sowie durchschnittlichen
Anforderungen an Verantwortungsbewusstsein und Zuverlässigkeit gewachsen. Arbeiten mit jeglichen Anforderungen an das Hörvermögen,
in Nachtschicht, unter besonderem Zeitdruck und mit häufigem Publikumsverkehr waren ausgeschlossen. Die Gebrauchsfähigkeit
beider Hände war mit der Einschränkung gegeben, dass ein ständiger Umgang mit Kleinteilen oder ständige feinmotorische Tätigkeiten
nicht zumutbar sind.
Dies ergibt sich für den Senat aus den medizinischen Ermittlungen im Verwaltungs- und Gerichtsverfahren, insbesondere aus
dem Gutachten von Dr. V. vom 29. Juni 2011, dem Rehabilitationsentlassungsbericht der B.-klinik in Bad B. vom 16. März 2006
und den Gutachten von Dr. M. und Dr. B. vom 21. April 2005 bzw. 5. August 2005.
Bei der Klägerin bestand im maßgebenden Zeitraum eine an Taubheit grenzende Schwerhörigkeit beidseits. Sie hat, auch mit Hörgeräten,
kein gesprochenes Wort verstanden; für eine Kommunikation war sie auf schriftliche Äußerungen oder Fragen angewiesen. Die
mangelnde Hörfähigkeit hinderte die Klägerin jedoch nicht an einer mindestens sechsstündigen Tätigkeit. Allerdings waren dabei
keine Anforderungen an das Gehör zu stellen. Arbeiten mit Lärm, in Akkord, auf Leitern und Gerüsten und solche, bei denen
zur Abwendung von Gefahrensituationen eine sofortige und ständige Anrufbereitschaft gewährleistet sein musste, waren ausgeschlossen.
Obgleich die Klägerin selbst nach der Aussage von Dr. V. gut verständlich eine Kommunikation mündlich führen konnte, waren
ihr nach Auffassung des Senats entgegen der Einschätzung des gerichtlichen Sachverständigen Arbeiten mit häufigem Publikumsverkehr
in Anbetracht der für den "Gesprächspartner" nur schriftlich möglichen Kommunikation nicht zumutbar. Entgegen den Angaben
von Dr. T. in ihrem Befundbericht vom 25. April 2007 war die Klägerin nicht auf eine ständige Begleitung angewiesen, sondern
ging alleine einkaufen, spazieren und suchte ihre Ärzte auf.
Ferner lagen ein HWS- und LWS-Syndrom, jedoch ohne motorische oder sensible neurologische Ausfälle und Bewegungseinschränkungen
der Gelenke bei einem unauffälligen Nervenwurzeldehnungszeichen (Lasègue) vor. Wegen eines Impingementsyndrom der Schulter
rechts waren Überkopfarbeiten ausgeschlossen. Weitergehende Einschränkungen ergaben sich daraus nicht.
Darüber hinaus litt die Klägerin an einer anhaltenden somatoformen Schmerzstörung, die sich im Rahmen einer Anpassungsstörung
bei zunehmender Hörstörung mit Entwicklung der Taubheit, aber auch vergeblicher Versuche des Wiedereinstiegs ins Berufsleben
nach der Kündigung 1991 manifestiert hat. Der Senat folgt hinsichtlich des sozialmedizinischen Leistungsbildes der Einschätzung
von Dr. V ... Dieser hat bei der Begutachtung der Klägerin eine deutliche Diskrepanz zwischen subjektiv schmerzhaften Beschwerden
und objektivierbaren Untersuchungsbefunden aufgezeigt. Ein von der Klägerin betontes Fibromyalgiesyndrom hat er jedoch nicht
bestätigen können. Neben den so genannten Trigger-Points waren bei der Untersuchung die meisten Körperregionen druckempfindlich
gewesen. Objektivierbar waren lediglich schwache Muskeleigenreflexe, besonders in den Beinen. Die Einzelmuskelprüfungen ergaben
eine Mangelinnervation, jedoch keinen Nachweis von Paresen oder Sensibilitätsstörungen. Dies entspricht auch den Untersuchungsergebnissen
von Dr. S., der keine wesentlichen krankhaften Befunde und eine unauffällige Beweglichkeit aller Gelenke mitgeteilt hat; das
Vorliegen eines entzündlichen Rheumatismus hat er ausgeschlossen. Auch während der medizinischen Rehabilitationsmaßnahme vom
9. Februar bis zum 16. März 2006 in der B.-klinik konnte bei der Untersuchung der großen Körpergelenke kein pathologischer
Befund erhoben werden. Der Senat kann letztlich offen lassen, welche Art der Erkrankung vorgelegen hat. Denn für die hier
streitige Frage des Vorliegens von Erwerbsminderung kommt es allein auf die Einschränkung des sozialmedizinischen Leistungsvermögens
und nicht auf die Diagnosestellung an. Insoweit hat Dr. V. in den testpsychologischen Verfahren bei der Klägerin keine eindeutigen
Hinweise auf krankheitswertige Angststörungen oder Depressivität finden können. Zudem hat er keine Konzentrations-, Aufmerksamkeit-
und Merkfähigkeitsstörungen beschrieben und lediglich eine Neigung zu innerer Unruhe, Antriebsstörungen und eine ängstliche
Vermeidungshaltung aufgezeigt. Er hat zudem nachvollziehbar erläutert, dass sich die Klägerin aufgrund der Somatisierungsstörung
mit der eingeschränkten Kommunikationsfähigkeit im täglichen Alltag ohne Bereitschaft abgefunden hat, trotz intellektuell
geeigneter Voraussetzungen das Lippenablesen zu erlernen. Eine auf unter sechs Stunden limitierte berufliche Leistungsfähigkeit
lag damit im strittigen Zeitraum nicht vor, allerdings in Anbetracht des fast aufgehobenen Hörvermögens nur für Arbeiten mit
unterdurchschnittlichen Anforderungen an Reaktionsfähigkeit, Übersicht und Aufmerksamkeit.
Dr. R. hat in ihrem Befundbericht vom 10. April 2007 ebenfalls eine somatoforme Schmerzverarbeitungsstörung aufgezeigt mit
einer Stabilisierung des Gesundheitszustandes bereits nach einer vierwöchigen Therapie. Sie hat die Leistungsfähigkeit der
Klägerin insbesondere wegen der fast aufgehobenen Hörfähigkeit und nur sekundär wegen der chronischen Rückenschmerzen als
eingeschränkt erachtet.
Des Weiteren bestand bei der Klägerin ein leichtgradiges Karpaltunnelsyndrom beidseits bei einem Zustand nach Karpaltunnelsyndrom-Operation
im August 2006 an der rechten Hand. Sowohl Dr. V. als auch Dr. L. haben eine verzögerte Nervenleitgeschwindigkeit des Nervus
medianus beidseits, links mehr als rechts, beschrieben. Sensible Nervenausfälle oder motorische Einschränkungen bzw. Lähmungen
lagen jedoch nicht vor. Die von der Klägerin beklagten massiven Belastungseinschränkungen von Seiten der Hände sind allerdings
für den Senat angesichts der von dem gerichtlichen Sachverständigen Dr. V. erhobenen Befunde nicht nachvollziehbar. Wie sich
aus seinen Befunderhebungen ergibt, war die Gebrauchsfähigkeit beider Hände grundsätzlich gegeben. So hat Dr. V. als Ergebnis
seiner Untersuchungen keine Einschränkung der Hand- und Fingerfunktionen im Einzelnen bei einer wesentlich erhaltenen allgemeinen
Kraft, Faustschluss, Spreizmöglichkeiten und Fingerspitzgriff im Bereich beider Hände - ohne vorausgehende Belastungsphasen
- festgestellt. Allerdings hat er eine verminderte, aber überwindbare Kraftentwicklung bei den Funktionsprüfungen der Hände
festgestellt, deren Ursache die bereits aufgezeigte, auch im Bereich der Beine festgestellte Mangelinnervation ist. Behinderungen
beim Aus- und Ankleiden, beim spontanen Gehen und bei spontaner Greiffunktion während der Anamneseerhebung, die auf Paresen
hindeuteten, sind nicht zu beobachten gewesen. Jedoch waren dauerhafte Belastungen der Hände in Form eines ständigen Umgangs
mit Kleinteilen oder von speziellen anhaltenden feinmotorischen Tätigkeiten nicht zumutbar.
Dr. L. hat zwar auf einen abweichenden Befund der Hände verwiesen. Wesentliche Einschränkungen im Gebrauch beider Hände sind
durch die Beweisaufnahme allerdings nicht nachgewiesen worden. Die von Dr. L. nicht näher beschriebenen Einschränkungen der
groben Kraft konnten im Rahmen der Untersuchung bei Dr. V. nicht bestätigt werden. Auch hat Dr. V. bei den Funktionsprüfungen
der Hände, wie auch Dr. L. speziell beim Fingerspitzgriff 2 zu 1 und beim Oppositionsvermögen des Daumens, von einer verminderten
Kraftentfaltung bei einem erhaltenen Faustschluss berichtet.
Der Einschätzung von MR H. in seinem Gutachten vom 7. August 2007 schließt sich der Senat nicht an. Die von ihm angeführten
Gesundheitsstörungen haben in den Gutachten von Dr. M. und Dr. B. vom 21. April bzw. 5. August 2005 sowie in dem Entlassungsbericht
der B.-klinik in Bad B. vom 16. März 2006 Berücksichtigung gefunden und danach einem mindestens sechsstündigen Leistungsvermögen
nicht entgegengestanden. Das Vorliegen eines nicht rentenrelevant geminderten Leistungsvermögens wird schließlich durch Dr.
V. in seinem Gutachten vom 29. Juni 2011 bestätigt. In Anbetracht der in den Gutachten und dem Entlassungsbericht der B.-klinik
aufgeführten im Wesentlichen übereinstimmenden Befunden und daraus resultierenden funktionellen Einschränkungen hat der Senat
keine Veranlassung zu weiteren medizinischen Ermittlungen gesehen. Insbesondere bringt die Einholung eines weiteren Gutachtens,
wie von Dr. L. empfohlen, für den streitgegenständlichen, in der Vergangenheit liegenden Zeitraum zur Überzeugung des Senats
keinen wesentlichen Erkenntnisgewinn.
Die an Taubheit grenzende Schwerhörigkeit der Klägerin beidseits stellt eine schwere spezifische Leistungsbehinderung dar,
da sie als schwerwiegende Behinderung ein weites Feld von Beschäftigungsmöglichkeiten des allgemeinen Arbeitsmarkts versperrte.
Dies verpflichtete die Beklagte, der Klägerin zumindest ein Arbeitsfeld oder eine Tätigkeit der Art nach zu bezeichnen, die
sie trotz ihrer Behinderung im streitigen Zeitraum ausüben konnte (Beschluss des Großen Senats des Bundessozialgerichts (BSG)
vom 19. Dezember 1996 - GS 2/95 -, SozR 3-2600 § 44
SGB VI Nr. 8 = BSGE 80, 24, 35). Dahinstehen kann, ob die Klägerin die Tätigkeit als Versandfertigmacherin, ausgehend vom Vollbild der Tätigkeit, tatsächlich
noch ausüben konnte. Denn zur Überzeugung des Senats genügte ihr Leistungsvermögen seit dem 21. April 2005 bis Juni 2009 jedenfalls
den Anforderungen an leichte Packarbeiten und einfache Sortierarbeiten. Nach dem Gutachten des Sachverständigen Langhoff bestehen
die Aufgaben einer Versandfertigmacherin darin, Fertigerzeugnisse zur Verschönerung oder zur Aufbesserung des Aussehens aufzumachen
und zu kennzeichnen. Als Einzelaufgabe werden Waren beklebt, eingehüllt, gezählt oder sortiert; es werden Abziehbilder, Warenzeichen
oder Etiketten angebracht. Es wird in Papp-, Holzschachteln oder sonstige Behältnisse eingepackt; diese werden verschlossen
und es werden Hinweise oder Kennzeichnungen angebracht. Sortier- und Prüftätigkeiten sind in nennenswerter Anzahl in der industriellen
Fertigung u.a. in der Kunststoff- sowie der Metallindustrie vorhanden. In der Kunststoffindustrie werden z.B. kleine Teile,
die im Spritzgussverfahren hergestellt werden, auf Beschädigungen, Funktion, Größe, Form oder Farbe optisch überprüft und
gegebenenfalls entgratet. In der Metallindustrie werden einzelne Bauteile der Massenproduktion (z.B. bei der Herstellung von
Schrauben oder Federn) in eigens dafür hergestellten Lehren oder Negativ-Formen optisch überprüft, um Maßabweichungen durch
Werkzeugverschleiß frühzeitig erkennen zu können und dadurch Produktionsausfälle zu vermeiden. Die körperliche Belastung ist
abhängig von den zu verrichtenden Detailaufgaben. In nennenswerter Anzahl sind in der Metall-, Elektro- oder Kunststoffindustrie
sowie im Spielwaren- oder Hobbybereich Tätigkeiten vorhanden, die nur "leicht" belasten, bei denen wirbelsäulen- oder gelenkbelastende
Körperhaltungen nicht vorkommen und auch Fein- oder Präzisionsarbeiten nicht anfallen, das Arbeitstempo nicht durch Maschinen
oder Anlagen vorgegeben und der Lohn nicht nach Akkordrichtsätzen errechnet wird, so dass sich besonderer Zeit- oder Leistungsdruck
ebenfalls nicht ergibt. Nach der veröffentlichen Beschäftigtenstatistik für das Jahr 2009 waren etwa 222.500 Beschäftigte
im Bereich der Berufsordnung 522 (Warenaufmacher, Versandfertigmacher) erfasst, davon allein im Handelsbereich sowie im großen Teilen des produzierenden
Gewerbes zusammen über 166.000. In der Berufsordnung 521 (Warenprüfer, Warensortierer) waren im Jahr 2009 insgesamt knapp 120.000 Beschäftigte erfasst, davon allein im produzierenden
Gewerbe knapp 92.000. Stellenbesetzungen erfolgen in der Regel nach "offenen Bewerbungsverfahren".
Ein ständiger Umgang mit Kleinteilen ist bei den beschriebenen Verpacktätigkeiten ausgeschlossen; auch bei den Sortiertätigkeiten
fallen Fein- oder Präzisionsarbeiten nicht an. Die körperlichen Belastungen sind allenfalls gering, wirbelsäulen- oder gelenkbelastende
Körperhaltungen sind nicht einzunehmen. Die Arbeit erfolgt ohne besonderen Zeitdruck. Vorkenntnisse werden nicht verlangt.
Das fast aufgehobene Hörvermögen der Klägerin stellt für diese Tätigkeiten kein Hindernis dar. Da es sich um ungelernte Arbeiten
ohne komplexe Arbeitsinhalte und komplizierte manuelle Arbeitsverrichtungen handelt, ist nur eine kurze aufgabenbezogene Einarbeitung
der Klägerin am Arbeitsplatz erforderlich, wobei beim Auftreten von Problemen auch eine Vorbereitung auf die Arbeiten außerhalb
des Produktionsprozesses nach den Feststellungen des Sachverständigen Langhoff vorstellbar ist. Eine Kommunikation im Arbeitsalltag
ist in Anbetracht der sich durch ein hohes Maß an Wiederholung auszeichnenden, sich zumeist selbst erklärenden Arbeitsabläufe,
die routinemäßig verrichtet werden können, nicht erforderlich. Weil akustische Warnsignale an diesem Arbeitsplatz nicht beachtet
werden müssen, kann sich im Regelfall keine Situation von Fremd- oder Eigengefährdung entwickeln. Die Klägerin ist zur Überzeugung
des Senats nicht gehindert, in Alarmsituationen adäquat zu reagieren, zumal Verpacker- und Sortiertätigkeiten üblicherweise
nicht in Einzelräumen ausgeübt werden, so dass Arbeitskollegen die Klägerin warnen können. Darüber hinaus verfügt die Klägerin
über ein uneingeschränktes Sehvermögen, so dass sie optisch eine Gefahrensituation wahrnehmen kann. Nach der veröffentlichten
Beschäftigtenstatistik für das Jahr 2009 für Warenaufmacher/Versandfertigmacher und Warenprüfer/-sortierer handelt es sich
zudem um eine arbeitsmarktgängige Beschäftigung.
Nach übereinstimmender Auffassung von Dr. V., Dr. B. und Dr. M. konnte die Klägerin mehr als 500 m viermal täglich zu Fuß
bewältigen; nach den Feststellungen von Dr. V. benötigte sie für 500 m deutlich weniger als 20 Minuten. Damit steht auch der
Gesichtspunkt der Erreichbarkeit der benannten Verweisungstätigkeit nicht in Frage.
Auch ein Anspruch auf Bewilligung von Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung bei Berufsunfähigkeit stand der Klägerin von
November 2005 bis zum Juni 2008 nach §
240 Abs.
1 SGB VI in der ab dem 1. Januar 2001 geltenden Fassung nicht zu. Bisheriger Beruf der Klägerin im Sinne des §
240 SGB VI ist der der Küchenhilfe, in dem sie von Januar 1985 bis Oktober 1991 versicherungspflichtig tätig war. Nicht als bisheriger
Beruf ist der erlernte, bis Dezember 1984 ausgeübte Beruf als Telefonistin anzusehen, den sie einzig aus persönlichen und
nicht aus gesundheitlichen Gründen aufgegeben hat. Schließlich hat sich die Klägerin erst ab 1988 in HNO-ärztliche Behandlung
wegen Hörproblemen begeben. Zudem stellt auch nicht der Umschulungsberuf der Bürokauffrau den bisherigen Beruf der Klägerin
dar, da sie als Bürokauffrau nicht versicherungspflichtig gearbeitet hat. Als Küchenhilfe ist die Klägerin in die Gruppe der
Ungelernten einzuordnen und damit auf alle leidensgerechten Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarktes verweisbar.
Die Kostenentscheidung beruht auf §
193 SGG.
Gründe für eine Zulassung der Revision im Sinne von §
160 Abs.
2 SGG liegen nicht vor. Es handelt sich um eine Einzelfallentscheidung auf gesicherter Rechtsgrundlage, ohne dass der Senat von
einer Entscheidung der in §
160 Abs.
2 Nr.
2 SGG genannten Gerichte abweicht.