Sozialrechtliches Verwaltungsverfahren - Erstattungsanspruch des nachrangig verpflichteten Jugendhilfeträgers gegen den vorrangig
verpflichteten Sozialhilfeträger - Kinder- und Jugendhilfe - Hilfe zur Erziehung in einem Heim bzw Eingliederungshilfe für
junge Volljährige mit seelischer Behinderung in einem Heim - Sozialhilfe - Eingliederungshilfe - Teilhabe am Leben in der
Gemeinschaft - Vorrang bei Vorliegen einer körperlichen oder geistigen Behinderung
Tatbestand
Die Beteiligten streiten über die Erstattung von Aufwendungen der klagenden kreisfreien Stadt als Träger der Jugendhilfe für
die Zeit vom 2. April 2014 bis zum 31. Dezember 2017 in Höhe von 123.207,05 €.
Das Kind N (im Folgenden: N) wurde 1999 in M1 als Tochter der nicht verheirateten Eltern D.M. (geboren am .., verstorben am
...) und D.W. (geboren am ... ) geboren. Der Vater von N bezog seit dem 27. September 2005 neben einer Invalidenrente für
behinderte Menschen bei einem Grad der Behinderung (GdB) von 80 Leistungen der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung
nach dem Zwölften Buch Sozialgesetzbuch (Sozialhilfe - SGB XII) von der Klägerin als örtlichem Sozialhilfeträger. Den Akten lassen sich mehrere Haftaufenthalte und von Februar 2012 an
voraussichtlich für zwei Jahre die Langzeitmaßnahme nach §
64 Strafgesetzbuch (
StGB) in einer Einrichtung für suchtkranke Menschen entnehmen. Ab dem 7. November 2013 bezog er eine eigene Wohnung in M1.
N wurde zunächst bis zum 8. Lebensmonat von ihrer Großmutter väterlicherseits, danach bis zum 18. Lebensmonat von ihrer Mutter,
dann wieder von der vorgenannten Großmutter (wohnhaft in M1) und seit ihrem zweiten Lebensjahr in einer Pflegefamilie (wohnhaft
in M1) betreut. Auf Grund mehrfacher Umzüge der Kindesmutter erbrachte zunächst die Klägerin und ab dem 19. November 2002
der Landkreis O. hierfür Leistungen nach dem Achten Buch Sozialgesetzbuch (Kinder- und Jugendhilfe - SGB VIII) mit einer Übernahme des Jugendhilfefalls durch die Klägerin mit Leistungen ab dem 10. Januar 2006.
In einem Hilfeplangespräch am 21. April 2005 wird ein Entwicklungsrückstand von N von circa sechs Monaten beschrieben. Auf
Grund von vermehrten Schwierigkeiten wurde die Betreuung durch die Pflegeeltern zum 30. November 2008 beendet. Am 1. Dezember
2008 wurde N in die stationäre Erziehungsfachstelle K in der Stadt M2 im Landkreis J in Sachsen-Anhalt (im Folgenden: EFST)
mit vier weiteren Kindern aufgenommen. Zum Amtsvormund wurde das Jugendamt der Klägerin bestellt. Mit Bescheid vom 14. Mai
2014 wurde der EFST vom Landesjugendamt zu der Betriebserlaubnis nach § 45 SGB VIII die Ausnahmegenehmigung, zur Betreuung von N nach den §§ 53, 54 SGB XII einen Platz in der Einrichtung zu belegen, mit Bescheid dieser Behörde vom 31. Mai 2016 die weitere Betriebserlaubnis vom
15. Februar 2016 nach § 45 SGB VIII mit Wirkung vom 1. Juni 2016 mit Auflagen weiter erteilt.
Für die Betreuung von N in der EFST gewährte die Klägerin mit Bescheid vom 10. Dezember 2008 Hilfe zur Erziehung auf der Grundlage
von § 27 i.V.m. § 34 SGB VIII in Höhe des kalendertäglichen Pflegesatzes entsprechend der jeweils gültigen Entgeltvereinbarung (seit Dezember 2008 95,00
€) sowie des Taschengeldes. Für die Betreuung wurde von der EFST für die Monate April 2014 bis Mai 2016 in Monaten mit 30
Tagen 2.850,00 € und in Monaten mit 31 Tagen 2.945,00 € sowie ein monatliches Taschengeld in Höhe von 30,68 € bis April 2016,
in Höhe von 38,35 € von Mai 2016 bis Mai 2017, in Höhe von 14,06 € für Juni 2017 und in Höhe von 110,43 € ab November 2011
abgerechnet. Bezüglich der Rechnungen wird auf Blatt 471 bis 475, 477 bis 507 und 508 der Verwaltungsakten der Klägerin Bezug
genommen. Ab Juni 2016 erfolgte die Abrechnung mit der „H GmbH“, in deren Trägerschaft die EFST nun die Betreuung nach der
für die Trägereinrichtung geltenden Entgeltvereinbarung vom 21. Juni 2016 mit einem kalendertäglichen Pflegesatz in Höhe von
126,00 € weiterführte, d.h. 3.780,00 € in Monaten mit 30 und 3906,00 € in Monaten mit 31 Tagen (mit einer Nachberechnung für
Juni 2016 in Höhe von 3.160,00 €, mit einer Falschberechnung für September 2016 in Höhe von 2.983,35 € und einer Abwesenheitszeit
für Juni 2017 in Höhe von 1.386,00 €, für Juli 2017 ohne Zahlung). Bezüglich der Rechnungen wird auf Blatt 510, 519, 522,
525, 527 bis 537 und 539 bis 540 der Verwaltungsakten der Klägerin verwiesen.
Es wurde zunächst von der Mutter und nach deren Tod von dem Vater von N ein Kostenbeitrag in Höhe des Kindergeldes (2014 184,00
€, 2015 188,00 €, 2016 190,00 €, 2017 192,00 €) erhoben, der mit Bescheid der Familienkasse vom 2. Juli 2009 durch Zahlung
an die Klägerin erfüllt wurde. Ab dem 10. März 2009 bezog N Halbwaisenrente aus der gesetzlichen Rentenversicherung mit einem
Zahlbetrag von 137,37 € ab dem 1. Juli 2013, 140,83 € ab dem 1. Juli 2014, 140,51 € ab dem 1. März 2015, 144,03 € ab dem 1.
Juli 2015, 152,61 € ab dem 1. Juli 2016, 170,41 € ab dem 1. Januar 2017 und 176,54 € ab dem 1. Juli 2017, welche die Klägerin
vereinnahmte.
Die Schule für Lernbehinderte, in welche N mit einer Zurückstellung von einem Jahr eingeschult wurde, gab in dem jährlichen
Bericht zum bestehenden Förderbedarf in der Klasse 3/Schuljahr 2008/2009 einen sonderpädagogischen Förderbedarf, nicht aber
einen „erhöhten Förderbedarf“ (insoweit nach dem Fragebogen verbunden mit der Empfehlung für eine Umschulung in eine „Einrichtung
für Geistigbehinderte“) an. Den nachfolgenden Entwicklungsberichten ist durchgehend eine mehrfache Traumatisierung durch die
Herkunftsfamilie (mit drei in den Jahren 2000, 2005 und 2007 geborenen Halbwaisen als Halbgeschwistern und dem sich wiederkehrend
in Haft befindenden leiblichen Vater) und den zusätzlichen Verlust der Pflegefamilie zu entnehmen. Für die Schwierigkeiten
in der Schule werden neben einem unzureichenden Wortschatz hieraus resultierende Schwierigkeiten beim Lesen und Schreiben
und eine u.a. durch eine Sehminderung bedingte Beeinträchtigung, dem Unterricht zu folgen, beschrieben. Im Hilfeplangespräch
vom 19. Oktober 2010 werden aber auch erhebliche Fortschritte beim Lesen und Schreiben, allerdings mit weiter erforderlicher
Hilfestellung, mitgeteilt. Am 17. März 2011 erfolgte die Information des Jugendamtes, dass ein ebenfalls in der EFST untergebrachter
Jugendlicher sexuelle Handlungen gegen den Willen eines Mädchens „L“ vorgenommen habe, die schließlich zu einer Verlegung
des Täters führten.
Die Schule gab in dem jährlichen Bericht zum bestehenden Förderbedarf in der Klasse 5a/Schuljahr 2010/2011 nun einen „erhöhten
Förderbedarf“ mit der Empfehlung für eine Umschulung in eine „Einrichtung für Geistigbehinderte“ an. N zeige nun eine undeutliche
Aussprache und verfalle oft in Kleinkindsprache. Es bestünden eine stark geminderte Konzentrationsfähigkeit und Denkleistung
und ein stark eingeschränktes Aufgabenverständnis. Ab dem 25. August 2011 besuchte N die Förderschule für Geistigbehinderte
in B nach dem Lehrplan im Förderschwerpunkt geistige Entwicklung. Zur Begründung wird in dem Bescheid des Landesverwaltungsamtes/Referat
Förderschulen des Landes Sachsen-Anhalt vom 26. Mai 2011 ausgeführt, N könne in einer Schule mit dem Förderschwerpunkt „Lernen“
nicht mehr hinreichend gefördert werden. Die erneute Prüfung habe ergeben, dass sich der Förderbedarf verändert habe und nunmehr
im Förderschwerpunkt „geistige Entwicklung“ liege. In dem am 10. November 2011 bei der Klägerin eingegangenen Entwicklungsbericht
der E wird der Entwicklungsstand von N entsprechend einem achtjährigen Kind angeben. Sie sei nicht in der Lage, öffentliche
Verkehrsmittel zu benutzen. Sie könne schreiben und lesen unter Anleitung und Hilfe, besitze kein Zahlenverständnis und beherrsche
noch nicht die Uhr.
Im Hilfeplan vom 14. Dezember 2012 wird erstmals ein Antrag auf Feststellung einer Behinderung bei dem Landesverwaltungsamt
für N angesprochen. Mit Bescheid vom 11. Juli 2013 stellte das Landesverwaltungsamt des Landes Sachsen-Anhalt bei N seit dem
24. Januar 2013 einen GdB von 50 (ohne Merkzeichen) fest und stützte diese Entscheidung auf eine geistige Behinderung.
Die Klägerin beantragte am April 2014 bei ihrem Sozialamt die Feststellung einer Sozialleistung und machte ab April 2014 einen
Erstattungsanspruch gemäß den §§ 102ff. Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (Sozialverwaltungsverfahren und Sozialdatenschutz -
SGB X) geltend. Aus dem beigefügten Bericht des Sozialpädiatrischen Zentrums (SPZ) in M1 vom 3. Februar 2014 gehe eindeutig hervor,
dass bei N eine geistige Behinderung und eine Verhaltensstörung vorliege. Mit Beginn der Pubertät hätten sich die Verhaltensauffälligkeiten
verstärkt. Dem Bericht des SPZ sind als Diagnosen eine leichte Intelligenzminderung mit deutlicher Verhaltensstörung, die
Beobachtung oder Behandlung erforderten, zu entnehmen. Das SPZ dokumentierte hier unzutreffend, dass bei N die Merkzeichen
„B“, „H“ und „G“ festgestellt worden seien. N lehne die Themen Werkstatt für behinderte Menschen und Schwerbehindertenausweis
für sich ab. N habe bei der Untersuchung spontan bei guter Gesprächskompetenz gesprochen. Im Intelligenztest für Kinder habe
sich im Vergleich mit der Altersnorm ein deutlich unterdurchschnittliches Gesamtergebnis der intellektuellen Fähigkeiten (IQ
64) gefunden. Im Aufgabenbereich Sprachverständnis habe eine unterdurchschnittliche Leistung vorgelegen, wobei sie im Bereich
allgemeines Verständnis ein altersgerechtes Ergebnis und im Aufgabenbereich Wahrnehmungsgebundenes-Logisches Denken und den
Arbeitsgedächtnisleistungen ein deutlich unterdurchschnittliches Ergebnis erzielt habe. Die Verarbeitungsgeschwindigkeit sei
als unterdurchschnittlich einzuordnen. Gute Leistungen habe sie im Zahlenwissen, Abzählen und Mengenvergleich erbracht. Sie
könne Buchstaben, kleine Wörter Buchstabe für Buchstabe zum Teil sinnerfassend lesen. In der Schule bestünden leichte Auffälligkeiten
in Form einer ängstlichdepressiven Symptomatik, sozialer Probleme und Schwierigkeiten im Sozialverhalten. Sie nehme Selbstverletzungen
vor. N verhalte sich sexuell sehr offen und unvorsichtig. Aus den mitgeteilten Angabe ergebe sich der Verdacht auf einen sexuellen
Missbrauch, zu dem die Leiterin der EFST auf einen nach gynäkologischer Untersuchung geäußerten Verdacht einer früheren Schwangerschaft
von N verwiesen habe. Dem jährlichen Bericht über die sonderpädagogische Förderung für das Schuljahr 2013/2014 sind unter
anderem eine altersgerechte körperliche Entwicklung von N, ein etwas eingeschränktes Sehen mit Brille zum Beispiel bei kleiner
Schrift und eine sehr geringe Merkfähigkeit im mathematischen Bereich (Dyskalkulie) zu entnehmen.
Die Klägerin lehnte als Sozialhilfeträger im Namen des Beklagten mit Bescheid vom 2. September 2014 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides
vom 9. November 2015 die Bewilligung von Leistungen der Eingliederungshilfe nach den §§ 53, 54 SGB XII für N.M. ab. Ein über die Betreuung im Rahmen von Leistungen nach dem SGB VIII hinausgehender behinderungsbedingter Hilfebedarf sei nicht dargelegt worden und habe anhand der vorliegenden Unterlagen nicht
ermittelt werden können. Der behinderungsbedingte Hilfebedarf von N könne durch die Maßnahmen der Förderschule abgedeckt werden.
Die Klägerin hat am 26. November 2015 Klage vor dem Sozialgericht Magdeburg mit dem Begehren erhoben, den Beklagten unter
Aufhebung des Widerspruchsbescheides vom 9. November 2015 zu verurteilen, ihr ab dem 1. April 2014 bis zur Übernahme des Sozialhilfefalls
durch den Beklagten für N Kosten für unzuständigkeitshalber geleistete Jugendhilfe zu erstatten.
Das Landesjugendamt erteilte der E mit Bescheid vom 29. Juni 2017 eine unbefristete Ausnahmegenehmigung zur Betreuung von
N im Rahmen der §§ 41, 34 SGB VIII mit der Maßgabe, dass die EFST ihre Leistungsbeschreibung um Leistungen nach diesen Regelungen fallbezogen auf junge Erwachsene
ergänze, die vor Erreichen ihrer Volljährigkeit dort untergebracht gewesen seien. Mit Bescheid vom 17. Juli 2017 bewilligte
das Jugendamt der Klägerin N auf ihren Antrag vom 4. Mai 2017 für die Zeit vom 1. August bis zum 31. Dezember 2017 Hilfe zur
Verselbstständigung in Verbindung mit Eingliederungshilfe gemäß § 35a SGB VIII. Dieser Bescheid sei gemäß §
43 Erstes Buch Sozialgesetzbuch (Allgemeiner Teil -
SGB I) vorläufig bis zur Klärung der Zuständigkeit des Sozialleistungsträgers (Sozialamt/Jugendamt). Zur Begründung wird in dem
Bescheid ausgeführt, bis zur Volljährigkeit habe N von der EFST Hilfe zur Erziehung erhalten. Die Lebensumstände seien nach
wie vor schwierig und N bedürfe Hilfe bei der Überwindung besonderer sozialer Schwierigkeiten. Sie benötige spezifische Hilfe
und Unterstützung, die es ihr ermöglichten, ein eigenständiges Leben zu führen. Gegenüber der EFST wurde unter dem 1. August
2017 eine Kostenzusage nach Maßgabe von vorausgehend gezahlter Vergütung mit Taschengeld erteilt.
Nach dem beigezogenen Gutachten der Diplom-Psychologin K vom 20. November 2017 litt N bei der Untersuchung in der Zeit vom
10. bis zum 17. November 2017 unter Skabies (sog. Krätze). Obwohl sie die 12. Klasse der Schule für geistig behinderte Menschen
gern besuche, weise sie sowohl kognitive als auch emotionale Defizite auf. N praktiziere seit Jahren selbstverletzendes Verhalten.
Nach Angaben der Leiterin der EFST erfinde N, um von ihrem Mitmenschen Aufmerksamkeit und Anerkennung zu bekommen, auch Geschichten.
Ähnliches Verhalten zeige sie auch in Gegenwart von Ärzten. Darüber hinaus neige sie zu hypochondrischem Verhalten, was in
häufigen Arztbesuchen ende. Zu ihrer Herkunftsfamilie bestehe kein Kontakt, zu dem leiblichen Vater seit dem 16. Lebensjahr.
Innerhalb der Pflegefamilie sei N vermutlich psychisch misshandelt worden. Auf Grund der durchgeführten Tests sei N ein IQ
von 82 zu attestieren. N habe im zweiten Testteil des CFT 20 eine nicht dem üblichen Lernerfolg entsprechende Verschlechterung
auf einen IQ von 77 gezeigt. In Konzentrationsleistung, Arbeitstempo und Sorgfalt habe sie stark unterdurchschnittliche Werte
gezeigt. Auf Grund des Leistungsbildes sei bei der Klägerin weiterhin von der Diagnose F70.1, d.h. einer leichten Intelligenzminderung
mit deutlicher Verhaltensstörung, die Beobachtung oder Behandlung erfordere, bzw. einer leichten geistigen Behinderung auszugehen.
Aus psychologischer Sicht werde dringend angeraten, über Maßnahmen der Eingliederungshilfe nachzudenken. Hierbei werde aus
fachlicher Sicht eine Unterstützung beim Wohnen und Leben in Form einer ständigen Betreuung für psychisch und geistig beeinträchtigte
Menschen notwendig. Für die berufliche Integration seien spezifische Rehabilitationsmaßnahmen mit enger pädagogischer Betreuung
und fachlicher Unterstützung sowie Anleitung anzuraten. Zu dem Gutachten wird im Übrigen auf Blatt 62 bis 71 der Gerichtsakte
Bezug genommen.
Nach dem Entwicklungsbericht von „H GmbH“ für die EFST vom 20. November 2017 fällt N das sinngemäße Lesen von Texten schwer
oder gelinge ihr oft nicht. Einfache Rechenaufgaben löse sie mit Hilfe der Fingerzähltechnik. Bezüglich der Einzelheiten wird
im Übrigen auf Blatt 72 bis 75 der Gerichtsakte verwiesen.
Mit Wirkung vom 1. Januar 2018 erfolgte die Fallübernahme durch den Beklagten.
Mit ihrem am 5. Dezember 2018 bei dem Sozialgericht eingegangenen Schriftsatz unter demselben Datum hat die Klägerin nach
Ladung zur mündlichen Verhandlung am 23. Januar 2019 mitgeteilt, sie werde nun beantragen, „die Beklagte zu verurteilen [,]
für den Zeitraum vom 02.04.2014 bis 31.12.2017 Kosten für N (geb. 1999) geleistete Hilfe in Höhe von insgesamt 153.811,25
€ zu erstatten“. Zu der am 21. Dezember 2015 bei dem Sozialgericht eingegangenen „Kostenaufstellung“ vom 2. April 2014 bis
zum 30. November 2015, die einen Gesamtbetrag „Kostenaufstellung“ für diesen Zeitraum von 84.773,69 € (ohne weitere Angaben)
und Einnahmen aus Kindergeld und Halbwaisenrente ausweist, wird auf Blatt 9 der Gerichtsakte Bezug genommen. Als Anlage zu
dem am 5. Dezember 2018 bei dem Sozialgericht eingegangen Schriftsatz ist neben der vorgenannten Kostenaufstellung eine mit
dem Datum vom 3. Dezember 2018 versehene „Kostenaufstellung“ für den Zeitraum vom 1. Dezember 2015 bis zum 31. Dezember 2017
übersandt worden, die Ausgaben von 83.802,13 €, Einnahmen aus Rente und Kindergeld und einen Endbetrag von 75.554,18 € ausweist.
Zu dem Dokument wird auf Blatt 54 der Gerichtsakte Bezug genommen. Auf die Mitteilung von Zweifeln an der Berechnung durch
den Beklagten mit dem Hinweis, dass eine abschließende Prüfung erst nach Vorlage der jeweils gültigen Vergütungsvereinbarungen,
entsprechenden Leistungsbescheiden, Rentenbescheiden für 2015 bis 2017 und Leistungsbescheiden über die Gewährung einmaliger
Beihilfen möglich sei, hat die Klägerin ohne Übergabe dieser Unterlagen in der mündlichen Verhandlung beantragt: „Die Beklagte
unter Aufhebung des Widerspruchsbescheides vom 09.11.2015 zu verurteilen, der Klägerin ab 01.04.2014 bis zur Übernahme des
Sozialhilfefalls durch die Beklagte für das Kind N Kosten für unzuständigerweise geleistete Jugendhilfe für den Zeitraum 02.04.2014
bis 31.12.2017 in Höhe von 123.207,05 € zu erstatten“.
Zur Begründung ihrer Klage hat die Klägerin im Wesentlichen auf den Inhalt des Berichts des SPZ vom 3. Februar 2014 abgestellt.
Bei N liege eine geistige Behinderung mit leichter Intelligenzminderung und deutlichen Verhaltensstörungen bei einem IQ von
64 vor. Im Übrigen sind von der Klägerin die Angaben des SPZ zu bei N neben dem GdB von 50 angeblich anerkannten Merkzeichen
„B“, „H“ und „G“ übernommen worden. Der geltend gemachte Erstattungsanspruch ergebe sich aus § 104 SGB X. Nach § 10 Abs. 4 SGB VIII gingen Leistungen der Eingliederungshilfe nach dem SGB XII für junge Menschen, die körperlich und geistig behindert oder von einer solchen Behinderung bedroht seien, Leistungen nach
dem SGB VIII vor.
Das Sozialgericht hat die Klage mit Urteil vom 23. Januar 2019 abgewiesen. Die Klage sei nach Begrenzung des Erstattungsanspruchs
auf 123.207,05 € mit einer Klagerücknahme im Übrigen zulässig auch in Bezug auf den Feststellungsantrag. § 97 Satz 1 SGB VIII verleihe dem erstattungsberechtigten Träger gerade dann ein subjektives Recht auf Feststellung und ein Feststellungsinteresse,
wenn er noch Leistungen an den Hilfebedürftigen erbringe. Insoweit reiche die Feststellung in die Zukunft weiter als ein Erstattungsanspruch.
Die Klage sei unbegründet, da für N die Voraussetzungen eines Sozialhilfefalles nicht vorlägen. Damit könne die Klägerin weder
die Übernahme in den Zuständigkeitsbereich des Beklagten noch die Erstattung bisher erbrachter Leistungen fordern. Notwendige
Voraussetzung der konkreten Maßnahme der Eingliederungshilfe sei, dass diese geeignet und erforderlich sei, um die in § 53 Abs. 3 Satz 1 und 2 SGB XII genannten Ziele zu erreichen. Diese Voraussetzungen seien bei N nicht gegeben. Dass N an einer Behinderung leide, ergebe
sich eindeutig aus den Feststellungen des SPZ vom 3. Februar 2014 und der Feststellung des GdB. Allerdings führe diese Behinderung
nicht dazu, dass das Leben von N.M. in der Gesellschaft wesentlich beeinträchtigt sei, was notwendige Voraussetzung des Bedarfs
an Eingliederungshilfe sei. Aus den dem Gericht vorliegenden Unterlagen ergebe sich einerseits ein sonderpädagogischer Förderbedarf.
Andererseits zeige sich N gegenüber anderen Personen einschließlich ihren Mitschülern freundlich zugewandt und sei entsprechend
ihren intellektuellen Fähigkeiten im Stande, Aufgaben des täglichen Lebens zu bewältigen. Etwas anderes ergebe sich auch aus
der nachfolgenden Übernahme der Zuständigkeit durch den Beklagten für die inzwischen volljährige N.M. nicht.
Die Klägerin hat gegen das ihr am 4. Februar 2019 zugestellte Urteil am 1. März 2019 Berufung bei dem Landessozialgericht
(LSG) Sachsen-Anhalt eingelegt.
Am 26. April 2019 ist N aus der E ausgezogen und steht seitdem nicht mehr im Bezug von Leistungen der Eingliederungshilfe
des Beklagten.
Der am 29. Juni 2020 bei dem Senat eingegangenen Neuberechnung der Erstattungsforderung durch die Klägerin ist nun ein Gesamtbetrag
bis zum 31. Dezember 2017 in Höhe von 127.212,49 € zu entnehmen. Der Berechnung liegen für den Zeitraum vom 2. Februar 2014
bis zum 31. Dezember 2017 Ausgaben in Höhe von 143.729,58 € abzüglich von Kindergeld in Höhe von 8.857,43 € und Rente in Höhe
von 7.659,66 € zugrunde. Zu den Einzelheiten wird im Übrigen auf Blatt 174 bis 175 der Gerichtsakte Bezug genommen.
Zur Begründung des Rechtsmittels hat die Klägerin ausgeführt, aus sämtlichen Berichten über N werde deutlich, dass sie auf
Grund ihrer körperlichen und geistigen Behinderung nicht in der Lage sei, ohne zusätzliche Hilfe am gesellschaftlichen Leben
entsprechend ihren intellektuellen Fähigkeiten teilzunehmen. N könne ohne fremde Hilfe keine öffentlichen Verkehrsmittel benutzen,
mit technischen Geräten umgehen oder sonst ohne fremde Hilfe und Unterstützungsmaßnahmen ihren Alltag selbstständig bewältigen.
Auf Grund dessen habe der Beklagte auf der Grundlage des psychologischen Gutachtens vom 20. November 2017 und des Entwicklungsberichts
der E anerkannt, dass N.M. dem anspruchsberechtigten Personenkreis nach den §§ 53, 54 SGB XII zuzuordnen sei. Die hier N gewährten Leistungen hätten stets einen sich überschneidenden Bedarf nach dem SGB VIII und dem SGB XII abgedeckt.
Die Klägerin beantragt,
den Beklagten zu verurteilen, ihr für den Zeitraum vom 2. April 2014 bis zum 31. Dezember 2017 Kosten der Jugendhilfeleistungen
für N in Höhe von 123.207,05 € zu erstatten.
Der Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Er hält das angefochtene Urteil für zutreffend. Im hier strittigen Zeitraum habe kein sozialhilferechtlicher Bedarf von N
im Zuständigkeitsbereich des Beklagten bestanden.
Eine strafrechtliche Verfolgung des (ggfs. schweren) sexuellen Missbrauchs von N (§§
176 Abs.
1,
176a Abs.
2 Nr.
3 StGB) während ihrer Betreuung durch das Jugendamt vor oder während ihres Aufenthaltes in der EFST ist nach Rücksprache mit der
Klägerin nicht erfolgt, sodass entsprechende Ermittlungsergebnisse nicht zur Verfügung stehen. Der Senat hat nach Abwägung
der stattgehabten Traumatisierungserlebnisse von N mit dem fraglichen Erkenntnisgewinn auf eine Befragung von N und der Leiterin
der EFST in der mündlichen Verhandlung verzichtet.
Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und der erst während des Berufungsverfahrens vollständig
vorgelegten Verwaltungsakten der Klägerin und der Verwaltungsakte des Beklagten, der Gegenstand mündlichen Verhandlung gewesen
ist, Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
Die Berufung hat keinen Erfolg.
Eine Beiladung von N oder des Trägers der E gemäß §
55 Abs.
2 Alt. 1
Sozialgerichtsgesetz (
SGG) war im vorliegenden Erstattungsstreit nicht erforderlich (vgl. Bundessozialgericht [BSG], Urteil vom 26. Oktober 2017 -
B 8 SO 12/16 R -, juris RdNr. 12 m.w.N.).
Das Sozialgericht hat die Klage zu Recht abgewiesen. Die Klägerin hat keinen Anspruch auf Erstattung von Kosten für die Unterbringung
von N in der EFST für die Zeit vom 2. April 2014 bis zum 31. Dezember 2017 in Höhe von 123.207,05 €.
Die Klage ist zulässig. Der im Berufungsverfahren verfolgte Antrag ist neben einem Anfechtungs- und Feststellungsantrag bereits
im Klageverfahren verfolgt worden und hat damit im Berufungsverfahren weiterverfolgt werden können. Es kann damit offenbleiben,
ob hier nach Beendigung der Leistung durch die Klägerin noch ein Rechtsschutzbedürfnis für eine Feststellung der Sozialleistung
auf der Grundlage von § 97 SGB VIII bestehen könnte (vgl. hierzu BSG, Urteil vom 15. Februar 2000 - B 11 AL 73/99 R -, juris, RdNr.
14). Die als allgemeine Leistungsklage (§
54 Abs.
5 SGG) fortgeführte Klage ist ohne vorherige Durchführung eines Vorverfahrens statthaft, weil aufgrund des zwischen den Beteiligten
bestehenden Gleichordnungsverhältnisses ein Verwaltungsakt nicht zu ergehen hatte (vgl. BSG, Urteil vom 17. Dezember 2014 - B 8 SO 19/13 R -, juris, RdNr. 9).
Die Klägerin hat bereits dem Grunde nach keinen Anspruch auf Erstattung der Kosten der Unterbringung von N in der EFST im
streitigen Zeitraum.
Der in Betracht kommende Erstattungsanspruch richtet sich hier ausschließlich nach § 104 SGB X (vgl. BSG, Urteil vom 25. September 2014 - B 8 SO 7/13 R -, juris, RdNr. 23). Nach § 104 Abs. 1 Satz 1 SGB X ist, wenn ein nachrangig verpflichteter Leistungsträger Sozialleistungen erbracht hat, ohne dass die Voraussetzungen von
§ 103 Abs. 1 SGB X vorliegen, der Leistungsträger erstattungspflichtig, gegen den der Berechtigte vorrangig einen Anspruch hat oder hatte, soweit
der Leistungsträger nicht bereits selbst geleistet hat, bevor er von der Leistung des anderen Leistungsträgers Kenntnis erlangt
hat.
Die Voraussetzung des Bestehens gestufter Leistungspflichten (mindestens) zweier Leistungsträger nebeneinander ist hier nicht
gegeben.
Die Klägerin war als Träger der öffentlichen Jugendhilfe (§ 86 Abs. 6 SGB VIII und § 69 Abs. 1 SGB VIII i.V.m. § 1 Abs. 1 Kinder- und Jugendhilfegesetz des Landes Sachsen-Anhalt vom 5. Mai 2000, GVBl. LSA 2000, S. 236) sachlich und örtlich zuständig.
Die Klägerin hat zu Recht im gesamten streitigen Zeitraum Leistungen der Jugendhilfe bewilligt.
Mit Bescheid vom 10. Dezember 2008, der bis zur Volljährigkeit von N galt, wurde Hilfe zur Erziehung für N auf der Grundlage
von § 27 i.V.m. § 34 SGB VIII bewilligt (vgl. zu dem unterschiedlichen Adressatenkreis der Hilfe zur Erziehung und der Eingliederungshilfe z.B. Meysen
in Frankfurter Kommentar zum SGB VIII, 6. Aufl. 2009, § 35a RdNr. 2 und 14). Die Notwendigkeit der Erziehung von N außerhalb der Herkunftsfamilie ergab sich bereits auf Grund der Freiheitsentziehung
für den leiblichen Vater der Halbwaisen. Die Heimerziehung war auf Grund des besonderen Schicksals von N, dem die übliche
Betreuung in einer Pflegefamilie hier nicht vollständig gerecht werden konnte, erforderlich, wobei sich der Senat der Bewertung
enthält, ob die hier konkret gewählte EFST, in der N mit vier weiteren Kindern betreut wurde, dieser Aufgabe bei N in Rückschau
tatsächlich gerecht wurde. In Zusammenfassung bestand folgende Situation: N wurde als Säugling nur von ihrer Großmutter väterlicherseits,
erst danach, allerdings nur bis zum 18. Lebensmonat, von ihrer Mutter, dann wieder von der vorgenannten Großmutter und seit
ihrem zweiten Lebensjahr in einer Pflegefamilie betreut. 2009 starb die Mutter, 2011 brach die Großmutter den letzten Kontakt
von N zur Herkunftsfamilie ab. Ab dem Jahr 2011 trat bei N auch ein selbstverletzendes Verhalten regelmäßig auf. Ob N tatsächlich
in der Pflegefamilie psychisch misshandelt und dort oder nachfolgend in der EFST (ggf. schwer) sexuell missbraucht wurde,
hat der Senat für die abstrakte Rechtmäßigkeit der bewilligten Hilfe nicht abschließend feststellen müssen.
Nur für die Zeit vom 1. August bis zum 31. Dezember 2017 erfolgte die vorläufige Bewilligung von Eingliederungshilfe im Sinne
des § 41 SGB VIII nach Maßgabe des § 35a SGB VIII gegenüber N als Anspruchsberechtigter, die von der Klägerin auf Grund des an sie gerichteten Antrags als erstangegangenem
Rehabilitationsträger im Sinne von § 6 Abs. 1 Nr. 6 i.V.m. § 5 Nr. 4 und §
14 Abs.
2 Satz 1 Neuntes Buch Sozialgesetzbuch (Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen -
SGB IX) jeweils in der bis zum 31. Dezember 2017 geltenden Fassung auf Grund der nicht erfolgten Weiterleitung des Antrags in eigener
Zuständigkeit zu gewähren waren.
Einem jungen Volljährigen - nach § 7 Abs. 1 Nr. 3 SGB VIII wer 18, aber noch nicht 27 Jahre alt ist - soll nach § 41 Abs. 1 Satz 1 SGB VIII Hilfe für die Persönlichkeitsentwicklung und zu einer eigenverantwortlichen Lebensführung gewährt werden, wenn und solange
die Hilfe auf Grund der individuellen Situation des jungen Menschen notwendig ist. Für die Ausgestaltung der Hilfe gelten
nach Absatz 2 dieser Vorschrift unter anderem die §§ 33 bis 36 SGB VIII entsprechend mit der Maßgabe, dass an die Stelle des Personensorgeberechtigten oder des Kindes oder des Jugendlichen der
junge Volljährige tritt. Der junge Volljährige soll nach Absatz 3 auch nach Beendigung der Hilfe bei der Verselbständigung
im notwendigen Umfang beraten und unterstützt werden. Hier geht aus dem Bewilligungsbescheid der Klägerin vom 17. Juli 2017
bereits nicht mit hinreichender Klarheit hervor, ob die Bewilligung von Leistungen nach Absatz 2 oder nach Absatz 3 dieser
Vorschrift geregelt werden sollte. Vor dem Hintergrund der Übergangssituation erscheint hier indes die Bewilligung von Leistungen
im Sinne von Absatz 2 der Vorschrift näherliegend, die berücksichtigt, dass N bei Beendigung der Jugendhilfe kein soziales
Umfeld außerhalb der E zur Verfügung stand und die in Absatz 3 der Vorschrift geregelte „Unterstützung“ zwar nicht abschließend
geregelt ist, sich aber regelmäßig von der vorausgegangenen Hilfe unterscheiden muss, um „nach Beendigung der Hilfe“ im Sinne
der Vorschrift zu erfolgen.
Nach § 41 Abs. 2 i.V.m. § 35a Abs. 1 Satz 1 SGB VIII in der vom 1. Januar 2012 bis zum 31. Dezember 2019 geltenden Fassung hat ein junger Volljähriger Anspruch auf Eingliederungshilfe,
wenn (Nr. 1) seine seelische Gesundheit mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate von dem für sein Lebensalter
typischen Zustand abweicht, und (Nr. 2) daher seine Teilhabe am Leben in der Gesellschaft beeinträchtigt ist oder eine solche
Beeinträchtigung zu erwarten ist. Von einer seelischen Behinderung bedroht im Sinne des SGB VIII ist nach Satz 2 der Vorschrift, (hier) ein junger Volljähriger, bei dem eine Beeinträchtigung seine Teilhabe am Leben in
der Gesellschaft nach fachlicher Erkenntnis mit hoher Wahrscheinlichkeit zu erwarten ist. Hinsichtlich der Abweichung der
seelischen Gesundheit nach Absatz 1a Satz 1 hat der Träger der öffentlichen Jugendhilfe nach Absatz 1a der Vorschrift die
Stellungnahme (Nr. 1) eines Arztes für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie, (Nr. 2) eines Kinder- und Jugendpsychotherapeuten
oder (Nr. 3) eines Arztes oder eines psychologischen Psychotherapeuten, der über besondere Erfahrungen auf dem Gebiet seelischer
Störungen bei Kindern und Jugendlichen verfügt, einzuholen, wobei die Stellungnahme nach Satz 2 und 3 der Vorschrift auf der
Grundlage der Internationalen Klassifikation der Krankheiten in der vom Deutschen Institut für medizinische Dokumentation
und Information herausgegebenen deutschen Fassung (aktuell: ICD-10) zu erstellen und auch darzulegen ist, ob die Abweichung
Krankheitswert hat oder auf einer Krankheit beruht. Die Hilfe wird nach dem Bedarf im Einzelfall nach Absatz 2 Nr. 4 der Vorschrift
u.a. in Einrichtungen über Tag und Nacht sowie sonstigen Wohnformen geleistet. Aufgabe und Ziel der Hilfe, die Bestimmung
des Personenkreises sowie die Art der Leistungen richten sich gemäß Absatz 3 der Vorschrift nach § 53 Abs. 3 und 4 Satz 1, den §§ 54, 56 und 57 SGB XII, soweit diese Bestimmungen auch auf seelisch behinderte oder von einer solchen Behinderung bedrohte Personen Anwendung finden.
Ist gleichzeitig Hilfe zur Erziehung zu leisten, so sollen gemäß Absatz 4 Satz 1 der Vorschrift Einrichtungen, Dienste und
Personen in Anspruch genommen werden, die geeignet sind, sowohl die Aufgaben der Eingliederungshilfe zu erfüllen als auch
den erzieherischen Bedarf zu decken.
Die hier aktenkundig gewordene und nach § 35a Abs. 1a Satz 1 Nr. 2 und Satz 2 SGB VIII maßgebende Diagnose nach dem F70.1 ICD-10 einer leichten Intelligenzminderung mit deutlicher Verhaltensstörung, die Beobachtung
oder Behandlung erfordere, ist den psychischen Störungen als Abweichung von der seelischen Gesundheit zuzuordnen (vgl. z.B.
Meysen in Frankfurter Kommentar, a.a.O. § 35a RdNr. 20ff.). Die Hilfe in der EFST war, insbesondere nach der Erweiterung der
Betriebserlaubnis, eine Einrichtung über Tag und Nacht im Sinne des § 35a Abs. 2 Nr. 4 SGB VIII. Die Betreuung diente rechtmäßig auch dem Ziel im Sinne des § 53 Abs. 3 SGB XII, die seelische Behinderung von N zu mildern. Insoweit gelten die vorgenannten Gesichtspunkte, die zur Begründung der notwendigen
Heimunterbringung von N heranzuziehen sind.
Der Beklagte war im streitigen Zeitraum sachlich und örtlich zuständig für Leistungen der Eingliederungshilfe für behinderte
Menschen nach dem SGB XII (§ 97 Abs. 2 SGB XII i.V.m. § 3 Nr. 1 des Gesetzes zur Ausführung des SGB XII [AG SGB XII] vom 11. Januar 2005, GVBl. LSA 2005, S. 8; § 98 Abs. 1 Satz 1 SGB XII). Die in § 4 AG SGB XII geregelte Möglichkeit der Heranziehung des örtlichen Trägers führt nicht zu einer Zuständigkeitsverlagerung im Sinne einer
daran anknüpfenden Passivlegitimation, da der örtliche Träger der Sozialhilfe bei einer Heranziehung nach § 6 Satz 2 AG SGB XII zwingend im Namen des zuständigen (hier überörtlichen) Trägers entscheidet.
Der Senat hält die Voraussetzungen eines Anspruchs von N auf Leistungen der Eingliederungshilfe nach §§ 53 Abs. 1 Satz 2, 54 Abs. 1 SGB XII i.V.m. §
55 SGB IX, jeweils in der bis zum 31. Dezember 2019 geltenden Fassung, im streitigen Zeitraum nur unter dem Gesichtspunkt der seelischen
Behinderung für gegeben.
Denn N war im streitigen Zeitraum nicht von einer wesentlichen Behinderung im Sinne des § 53 Abs. 1 Satz 1 SGB XII i.V.m. den §§ 1 bis 3 Eingliederungshilfe-Verordnung (EinglHV) betroffen. Eine wesentliche körperliche Behinderung im Sinne von § 1 EinglHV, auf welche die Klägerin im Klage- und Berufungsverfahren regelmäßig verwiesen hat, ist nicht erkennbar. Die bei
N festgestellte Intelligenzminderung erfüllt auch nicht die Kriterien einer wesentlichen geistigen Behinderung im Sinne von
§ 2 EinglHV. Die von N erreichten Testergebnisse sind bereits im Kontext der von der Leiterin der EFST betonten besonderen
Verhaltensweisen von N während eines Arztbesuches kritisch zu bewerten, die auch dadurch unterlegt werden, dass nach dem Bericht
der Diplom-Psychologin K vom 20. November 2017 insoweit untypisch für den entsprechenden Test im zweiten Teil des CFT 20 ein
geringerer Wert erzielt wurde. Mit dem in dem Test vom 2. Februar 2014 festgestellten IQ von 64 läge noch knapp eine leichte
Intelligenzminderung vor. Indes liegt weder bei dem schlechteren der in dem Bericht vom 20. November 2017 wiedergegebenen
Werte von 77 noch mit dem besseren Wert von 82 überhaupt eine diagnostisch relevante Intelligenzminderung vor (vgl. Venzlaff,
Foerster, Dreßing, Habermeyer, Psychiatrische Begutachtung, 6. Aufl., S. 277). Von einer Intelligenzminderung im Sinne einer
geistigen Behinderung wird regelmäßig erst bei einem eindeutig unter 70 liegenden IQ auszugehen sein (vgl. z.B. LSG für das
Land Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 28. Januar 2013 - L 20 SO 170/11 -, juris, RdNr. 53; Meysen in Frankfurter Kommentar,
a.a.O., § 35a RdNr. 24). In Bezug auf eine wesentliche seelische Behinderung im Sinne des § 3 EinglHV sind die in Betracht
kommenden Persönlichkeitsstörungen im Sinne des § 3 Nr. 4 EinglHV nach den ICD-10 F60 bis F69 als prägende Störungen bei N
nicht erkennbar.
Bei N ist im maßgebenden Zeitraum durchgehend von einer seelischen Behinderung im Sinne des § 53 Abs. 1 Satz 2 SGB XII auszugehen. Hierzu wird auf die vorstehenden Ausführungen zur Jugendhilfe Bezug genommen. Die bei der Klägerin gestellte
Diagnose F70.1 gehört zu den Verhaltensstörungen, die u.a. durch auffälliges und enthemmtes Sexualverhalten und Selbstverletzungen
begründet wird (vgl. Venzlaff, Foerster, Dreßing, Habermeyer, a.a.O.). Die Intelligenzminderung ist Teil dieses Erkrankungsbildes
unter dem Gesichtspunkt, dass sich hieraus eine eingeschränkte Steuerungsfähigkeit für ein offenkundig selbstschädigendes
Verhalten ergibt.
Von dem grundsätzlichen Vorrang von Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe gegenüber den Leistungen der Sozialhilfe ergibt
sich hier keine Ausnahme. Nach § 10 Abs. 4 Satz 1 SGB VIII in der vom 1. Januar 2012 bis zum 31. Dezember 2019 geltenden Fassung gehen die Leistungen nach dem SGB VIII den Leistungen nach dem SGB XII vor. Hiervon abweichend gehen nach Satz 2 der Vorschrift - neben Leistungen nach weiteren hier nicht einschlägigen Regelungen
- Leistungen der Eingliederungshilfe nach dem SGB XII für junge Menschen, die körperlich oder geistig behindert oder von einer solchen Behinderung bedroht sind, den Leistungen
nach diesem Buch vor. Für den Vorrang der Eingliederungshilfeleistungen nach dem SGB XII bedarf es insoweit einer Überschneidung der Bereiche der Leistungen für dieselbe Person für eine seelische und eine körperliche
oder geistige Behinderung, ohne dass es auf den Schwerpunkt des Hilfebedarfs bzw. des Hilfezwecks im Bereich einer der den
Eingliederungsbedarf auslösenden Behinderungen ankommt (vgl. BSG, Urteil vom 26. Oktober 2017, a.a.O., RdNr. 20 m.w.N.). Eine solche Überschneidung ist hier vor dem Hintergrund der Verhaltensstörungen
von N im Kontext mit schwersten Traumatisierungserlebnissen für den Senat nicht erkennbar.
Es kann damit dahinstehen, dass die Klägerin einen Erstattungsanspruch hier zumindest für Teilzeiträume ggf. nicht rechtzeitig
geltend gemacht hat. Der Senat hält dies (zumindest) für den Zeitraum 2. April bis zum 30. November 2014 (Bezifferung mit
der Klageschrift im Dezember 2015) und vom 1. Dezember 2015 bis zum 30. Juni 2017, dem Monat der Volljährigkeit von N (Bezifferung
[allerdings unzutreffend] mit Schriftsatz der Klägerin im Dezember 2018) maßgebend. Hierbei hat der Senat zu Gunsten der Klägerin
auf den Eingang bei Gericht und nicht den Zugang dieser Schriftsätze bei dem Beklagten, der indes sehr wahrscheinlich jeweils
noch vor Ablauf des Dezember 2015 bzw. 2018 anzunehmen ist, abgestellt. Der Senat hat im Rahmen eines weiten Verständnisses
für die Geltendmachung des Erstattungsanspruchs nicht auf die Vorlage der Verwaltungsakte erst im Berufungsverfahren abgestellt,
die erstmals dem Beklagten Gelegenheit zur Akteneinsicht gegeben hat.
Die Voraussetzungen des § 111 Abs. 1 Satz 1 SGB X liegen insoweit hier vor. Danach ist der Anspruch auf Erstattung ausgeschlossen, wenn der Erstattungsberechtigte ihn nicht
spätestens zwölf Monate nach Ablauf des letzten Tages, für den die Leistung erbracht wurde, geltend macht.
Die Ausschlussfrist nach § 111 Abs. 1 Satz 1 SGB X begann hier jeweils mit dem Ende des Monats, für den die jeweiligen monatlichen Leistungen erbracht wurden. Denn die Klägerin
gewährte N mit Bescheid vom 10. Dezember 2008 Hilfe zur Erziehung ohne eine Begrenzung auf einen Bewilligungszeitraum für
den Zeitraum bis zur Volljährigkeit von N im Wege eines Dauerverwaltungsaktes für die Unterbringung in der EFST. Die Klägerin
konnte für jeden Monat individuell auf der Grundlage der maßgeblichen Vergütungssätze mit der Einrichtung und ausgehend vom
jeweils maßgeblichen Taschengeld den Erstattungsanspruch konkret zum Abschluss des jeweiligen Monats berechnen und geltend
machen. An das Geltendmachen im Sinne des § 111 Satz 1 SGB X dürfen keine überzogenen formalen oder inhaltlichen Anforderungen gestellt werden, zumal es sich bei den am Erstattungsverfahren
Beteiligten um Körperschaften des öffentlichen Rechts oder Behörden handelt, deren Vertreter Kenntnis von den jeweils in Betracht
kommenden Leistungen besitzen (vgl. Bundesverwaltungsgericht [BVerwG], Urteil vom 19. August 2010 - 5 C 14.09 -, juris, RdNr. 20). Demgegenüber reicht die Ankündigung eines Erstattungsanspruchs allein nicht aus. Denn mit dem Begriff
der Geltendmachung i.S. des § 111 Satz 1 SGB X ist ein unbedingtes Einfordern der Leistung gemeint, nicht ein bloß vorsorgliches Anmelden. Die Anforderungen, die an das
wirksame Geltendmachen eines Erstattungsanspruches zu stellen sind, bestimmen sich nach dem Zweck des § 111 SGB X, nämlich möglichst rasch klare Verhältnisse darüber zu schaffen, ob eine Erstattungspflicht besteht (vgl. Bundestagsdrucksache
9/95, S. 26 zu § 117 des Entwurfs eines SGB X). Danach muss der in Anspruch genommene Leistungsträger bereits beim Zugang der Anmeldung des Erstattungsanspruches ohne
weitere Nachforschungen beurteilen können, ob die erhobene Forderung ausgeschlossen ist. Dies kann er ohne Kenntnis des Forderungsbetrages
feststellen, wenn die Umstände, die im Einzelfall für die Entstehung des Erstattungsanspruches maßgeblich sind und der Zeitraum,
für den die Sozialleistungen erbracht wurden, hinreichend konkret mitgeteilt sind. Es kann dahinstehen, dass die maßgebenden
Teile der Verwaltungsakte und die Entgeltvereinbarung mit der E erst im Berufungsverfahren vorgelegt worden sind und die Höhe
des Tagessatzes zuvor nicht bekannt und deshalb von dem Beklagten und dem Sozialgericht nicht in zutreffender Höhe zugrunde
gelegt wurden. Ohne die für die vorgenannten Zeiträume erst nach Ablauf des Jahreszeitraums vorgenommene Bezifferung konnte
der Beklagte eine Bewertung der Erstattungsforderung nicht vornehmen.
Gründe für eine Zulassung der Revision im Sinne von §
160 Abs.
2 SGG liegen nicht vor. Es handelt sich um eine Einzelfallentscheidung auf gesicherter Rechtsgrundlage, ohne dass der Senat von
einer Entscheidung der in §
160 Abs.
2 Nr.
2 SGG genannten Gerichte abweicht.