Beitragsfestsetzung in der gesetzlichen Unfallversicherung; Zulässigkeit der Aufhebung bestandskräftiger Feststellungen von
Beitragszahlungsansprüchen
Gründe:
I
Zwischen den Beteiligten ist streitig, ob die Beklagte von der Klägerin Beiträge für die Jahre 1996, 1997, 1999 und 2000 nachfordern
darf.
Die Klägerin betreibt ein Unternehmen der Baunebenbranche. Mit Veranlagungsbescheid vom 10.10.1996 veranlagte die Beklagte
sie außer mit den Unternehmenszweigen "Malerarbeiten aller Art" (Gefahrklasse 4,0), "kaufmännisches und technisches Personal"
(Gefahrklasse 1,0), "Gerüstbau, Gerüstverleih" (Gefahrklasse 10,0) auch mit dem Unternehmenszweig "Hochbau aller Art" (Gefahrklasse
8,5), ferner hob sie mit Veranlagungsbescheid vom 4.3.1999 die Gefahrklasse für den Unternehmenszweig "Gerüstbau, Gerüstverleih"
auf 10,5 an.
Die Beklagte stellte ihre Beitragsforderung gegen die Klägerin für das Jahr 1996 mit Beitragsbescheid vom 21.4.1997, die für
das Jahr 1997 mit Beitragsbescheid vom 22.4.1998, die für das Jahr 1999 im Beitragsbescheid vom 25.4.2000 und die für das
Jahr 2000 im Beitragsbescheid vom 11.4.2001 fest.
Durch eine Betriebsprüfung am 28.11.2001 stellte die Beklagte fest, dass die Lohnnachweise der Klägerin für die Jahre 1996,
1997, 1999 und 2000 zu ihren Lasten unrichtig waren. Die Entgelte von vier Meistern waren vollständig in der Gefahrklasse
1,0 nachgewiesen worden. Im Jahr 2000 waren keine Löhne im Bereich Betonsanierung mitgeteilt und nicht alle Entgelte der Arbeitnehmer
der Gerüstbauabteilung der Gefahrklasse 10,5 zugeordnet worden. Die Entgelte der Meister waren zu 25 vH der Gefahrklasse 4,0
(statt 1,0) zuzuordnen. Für die Jahre 1999 und 2000 waren dem Bereich Gerüstbau höhere Lohnsummen zuzuschreiben. Schließlich
war für das Jahr 2000 ein Anteil von 6 vH der Gesamtleistung des Unternehmens dem Unternehmenszweig "Hochbau aller Art - Betonsanierung"
(Gefahrklasse 8,5) zuzurechnen.
Auf dieser Grundlage erklärte die Beklagte in den Beitragsbescheiden vom 19.12.2001, sie hebe die früheren Feststellungen
von jährlichen Höchstbeträgen an zu zahlenden Beiträgen auf und stellte fest, die Klägerin habe ihr für das Jahr 1996 weitere
833,23 DM, für 1997 noch 1.183,36 DM, für 1999 zusätzlich 7.603,08 DM und für das Jahr 2000 weitere 15.070,82 DM, also insgesamt
noch 24.156,92 DM zu zahlen. Mit einem weiteren Bescheid vom 19.12.2001 stellte sie die Beitragsschuld der Klägerin für das
Jahr 1998 niedriger fest.
Die Klägerin legte Widerspruch gegen alle Bescheide vom 19.12.2001 ein, später auch gegen den während des Vorverfahrens erlassenen
Beitragsbescheid für 2002 vom 17.4.2003. Die Beklagte wies diese Widersprüche zurück (Widerspruchsbescheid vom 4.12.2003).
Das Sozialgericht (SG) Freiburg hat die Klagen, die sich gegen die Bescheide vom 19.12.2001 richteten, mit Gerichtsbescheid vom 11.11.2005 abgewiesen.
Das Landessozialgericht (LSG) Baden-Württemberg hat den Gerichtsbescheid des SG mit Urteil vom 29.1.2008 abgeändert, auf die Berufung der Klägerin die Beitragsbescheide vom 19.12.2001 in der Gestalt des
Widerspruchsbescheids vom 4.12.2003 aufgehoben und die Berufung der Klägerin im Übrigen, betreffend die Beitragssenkung für
1998, zurückgewiesen. Zwar seien die fraglichen Lohnnachweise der Klägerin unrichtig gewesen. Jedoch habe die Beklagte jeweils
das ihr gesetzlich eingeräumte Ermessen nicht ausgeübt.
Die Beklagte rügt mit ihrer vom LSG zugelassenen Revision, das Urteil des LSG verletze §
168 Abs
2 Siebtes Buch Sozialgesetzbuch (
SGB VII), der kein Ermessen einräume. Die Rechtsauffassung des LSG unterlaufe auch §
76 Abs
1 Viertes Buch Sozialgesetzbuch (
SGB IV), der die Versicherungsträger zur rechtzeitigen und vollständigen Erhebung der Einnahmen verpflichte. Auch das öffentliche
Interesse an Beitragsgerechtigkeit stehe der Ausübung von Ermessen entgegen. Die Beitragsnacherhebung müsse erfolgen, wenn
die Lohnnachweise unrichtig sind oder unvollständige Angaben enthalten oder die Anmeldung ganz unterblieben ist. Seien die
Beiträge aus diesen Gründen zu niedrig festgesetzt worden, könne die Pflicht zur vollständigen Beitragserhebung nur zu dem
Ergebnis führen, die Beiträge vollständig nachzufordern. Für eine Ermessensausübung sei Raum.
Die Beklagte beantragt,
das Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 29.1.2008 insoweit aufzuheben, als es den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts
abgeändert hat, und insoweit die Berufung der Klägerin zurückzuweisen.
Die Klägerin beantragt,
die Revision der Beklagten zurückzuweisen.
Zwar seien ihr Lohnnachweise unrichtig gewesen. §
168 Abs
2 SGB VII sei aber eine Ermessensvorschrift, wie sowohl der Wortlaut als auch die Gesetzesmaterialien zeigten. Die Beklagte solle nicht
nur die Rechtmäßigkeit, sondern auch die Zweckmäßigkeit ihres Verwaltungshandelns prüfen. Sie habe aber das gesetzlich geforderte
Ermessen nicht ausgeübt. §
168 Abs
2 SGB VII sei auch keine Ausnahmevorschrift zu § 45 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X), sondern sei eine gleichrangige Ergänzung dieser Vorschrift, weshalb § 45 SGB X für deren Auslegung nichts hergebe.
Die Beteiligten sind zur Höhe des festzusetzenden Streitwerts gehört worden.
II
Die Revision der Beklagten ist zulässig. Sie ist entgegen der Rüge der Klägerin schon bei der Einlegung der Revision (§
164 Abs
1 Satz 1
Sozialgerichtsgesetz [SGG]) insbesondere durch einen postulationsfähigen und mit Prozessvollmacht ausgestatteten Beschäftigten vertreten worden
(§
73 Abs
4 Satz 4
SGG).
Die Revision der Beklagten ist im Sinne der Aufhebung des LSG-Urteils und der Zurückverweisung des Rechtsstreits an das Berufungsgericht
begründet (§
170 Abs
2 Satz 2
SGG). Das Urteil des LSG verletzt Bundesrecht, soweit es den Gerichtsbescheid des SG abgeändert und den Anfechtungsklagen der Klägerin gegen die Verwaltungsakte in den Nachforderungsbescheiden vom 19.12.2001
in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 4.12.2003 stattgegeben hat. Denn die Verwaltungsakte der Beklagten, mit denen sie
die früheren Höchstbetragsfestsetzungen aufgehoben hat, sind entgegen dem LSG rechtmäßig. Die Beklagte musste, ohne dass das
Gesetz ihr Ermessen eingeräumt hat, die Festsetzungen der Höchstbeträge der Beitragsforderungen in den ersten Beitragsbescheiden
für die Jahre 1996, 1997, 1999 und 2000 jeweils aufheben, weil die Lohnnachweise der Klägerin unrichtig waren und deshalb
der jeweilige Beitrag zu niedrig festgesetzt worden war. Soweit die Beklagte sodann Nachzahlungspflichten der Klägerin für
diese Jahre festgestellt hat, kann das Bundessozialgericht (BSG) aber noch nicht abschließend über die Berufung entscheiden.
Das LSG hat nämlich, von seiner Rechtsfassung ausgehend zu Recht, keine Feststellungen dazu getroffen, ob die Beklagte die
Höhe der vier Nachforderungen nach Maßgabe des Beitragsrechts der
Reichsversicherungsordnung (
RVO), des
SGB VII und des ergänzenden Satzungsrechts der Beklagten zutreffend festgestellt hatte.
Dazu näher wie folgt:
1. Die Anfechtungsklagen richten sich gegen die Verwaltungsakte in den Nachforderungsbescheiden vom 19.12.2001. Deren Rechtmäßigkeit
beurteilt sich nach der zum Zeitpunkt des Erlasses der angefochtenen Verwaltungsakte geltenden Gesetzesfassung, weil sie keine
Verwaltungsakte mit Dauerwirkung enthalten (vgl BSG vom 11.3.1987 - 10 RAr 5/85 - BSGE 61, 203, 205 = SozR 4100 § 186a Nr 21).
2. Die angefochtenen Verwaltungsakte sind formell rechtmäßig.
a) Die Beklagte hat in den Bescheiden vom 19.12.2001 jeweils die Aufhebung der Höchstbetragsregelung in den ersten Beitragsbescheiden
für die streitigen Beitragsjahre noch hinreichend bestimmt erklärt (§ 33 Abs 1 SGB X). Ein objektiver Erklärungsempfänger konnte den Nachforderungsbescheiden noch entnehmen, dass die früheren Höchstbetragsregelungen
nicht mehr gelten sollten. Die Erklärung, welche Beträge jeweils nachzuzahlen waren, war bestimmt.
b) Die Verwaltungsakte waren auch nicht wegen eines Anhörungsmangels aufzuheben.
Gemäß § 42 Satz 2 iVm Satz 1 SGB X kann der Adressat eines Verwaltungsaktes, der in seine Rechte eingreift, dessen Aufhebung beanspruchen, wenn die nach § 24 SGB X erforderliche Anhörung unterblieben und nicht wirksam nachgeholt worden ist (§ 41 Abs 1 Nr 3 und Abs 2 SGB X). Die Beklagte ist aber ihrer Pflicht nachgekommen, die Klägerin anzuhören. Sie hat ihr vor Erlass der Verwaltungsakte vom
19.12.2001 Gelegenheit gegeben, sich zu den für diese erheblichen (Haupt-)Tatsachen zu äußern.
Die Nachforderungsbescheide verlautbaren Verwaltungsakte, die in die allgemeine Handlungsfreiheit der Klägerin eingreifen,
weil sie vier begünstigende Verwaltungsakte aufheben und vier Nachzahlungspflichten begründen (vgl zur Anhörungspflicht vor
Beitragsregelungen BSG vom 26.9.1991 - 4 RK 4/91 - BSGE 69, 247, 248 = SozR 3-1300 §
24 Nr 4; Bereiter/Hahn, Gesetzliche Unfallversicherung, Handkommentar, Stand: Lieferung 6/08, §
168 SGB VII RdNr 4; Burchardt in
SGB VII-Kommentar, Stand: Dezember 2004, §
168 RdNr 11; Höller in Hauck/Noftz,
SGB VII - Gesetzliche Unfallversicherung - §
168 RdNr 11).
Die Anhörung hat hier wohl schon dadurch stattgefunden, dass der Betriebsprüfer der Beklagten das Ergebnis der Prüfung und
damit die für die Unrichtigkeit der Lohnnachweise maßgeblichen Haupttatsachen mit dem Geschäftsführer der Klägerin erörtert
und ihm den vom Geschäftsführer gegengezeichneten Bericht übergeben hat (vgl auch den hier nicht anzuwendenden §
168 Abs
2 S 2
SGB VII idF des Art 1 Nr
22a Buchst c Gesetz zur Modernisierung der gesetzlichen Unfallversicherung vom 30.10.2008 [UVMG], BGBl I 2130). Dies kann aber
dahingestellt bleiben, da die Anhörung jedenfalls während des Vorverfahrens wirksam nachgeholt worden ist (§ 42 Satz 2 iVm § 41 Abs 1 Nr 3 SGB X). Die Beklagte hat nach Erlass der Bescheide vom 19.12.2001 und nach Einlegung des Widerspruchs im Gespräch mit dem Geschäftsführer
der Klägerin diesem die tatsächlichen Grundlagen ihrer Entscheidung bekannt gegeben, der Geschäftsführer der Klägerin hat
dazu wiederholt seinen Rechtsstandpunkt dargelegt. Die Anhörung ist damit jedenfalls nachgeholt, ein möglicher Verfahrensfehler
der Beklagten ist dadurch "unbeachtlich" (§ 41 Abs 1 SGB X) geworden.
3. In materiell-rechtlicher Hinsicht lagen die drei tatbestandlichen Voraussetzungen der Ermächtigungsgrundlagen für die Aufhebungen
der früheren Höchstbetragsfestsetzungen vor.
a) Ermächtigungsgrundlage für die "Neufeststellung" der Beitragsforderung für das Jahr 1996, welche die Aufhebung der bisherigen
Höchstbetragsregelung für dieses Jahr umfasst, ist gemäß dem bei Bescheiderteilung gültigen §
219 Abs
1 Satz 2
SGB VII noch § 749
RVO, denn sie betrifft das Haushaltsjahr 1996.
Ermächtigungsgrundlage für die Aufhebungen der früheren Höchstbetragsfestsetzungen betreffend die Beitragsjahre 1997, 1999
und 2000 ist §
168 Abs
2 SGB VII in der ab 1.1.1997 geltenden Fassung des Art 1 des Gesetzes zur Einordnung des Rechts der gesetzlichen Unfallversicherung in das Sozialgesetzbuch vom 7.8.1996 (BGBl I 1254),
die bis zum 4.11.2008 in Kraft gewesen ist. §
168 Abs
2 Nr
2 SGB VII wurde mit Wirkung erst zum 5.11.2008 in der Rechtsfolge neu gefasst ("ist" aufzuheben; vgl Art 1 Nr 22a Buchst a UVMG, aaO.).
Der zeitliche Geltungsbereich der Neufassung der Vorschrift erfasst die vorher ergangenen angefochtenen Verwaltungsakte, die
keine Dauerwirkung haben, nicht.
b) Beide Ermächtigungsgrundlagen setzen tatbestandlich voraus, dass die Lohnnachweise, die den früheren Beitragsfeststellungen
zugrunde lagen, unrichtig waren, so dass deshalb der Höchstbetrag der Zahlungspflicht des Beitragsschuldners zu niedrig festgesetzt
wurde. Sie ermächtigen und verpflichten den Beitragsgläubiger sodann, diese rechtswidrig begünstigende Höchstbetragsfestsetzung
zuungunsten des Beitragsschuldners aufzuheben. Ohne eine solche Aufhebung darf der Träger die Beitragsschuld nicht neu feststellen.
Nur § 749
RVO hat die Berufsgenossenschaft zusätzlich zur Aufhebung auch dazu ermächtigt und verpflichtet, die Beitragsschuld neu festzustellen.
Das folgt seit 1997 nach Aufhebung der früheren Höchstbetragsfeststellung aus §
168 Abs
1 SGB VII. Das ergibt sich aus Folgendem:
Nach § 749 Nr 3
RVO darf die Berufsgenossenschaft nach Zustellung des Bescheids den Beitrag zuungunsten des Beitragsschuldners nur dann noch
anders feststellen, wenn (Nr
3) der Lohnnachweis sich als unrichtig ergibt. §
168 Abs
2 SGB VII aF lautet: (2) Der Beitragsbescheid darf mit Wirkung für die Vergangenheit zuungunsten der Beitragspflichtigen nur dann aufgehoben
werden, wenn
1. ...
2. der Lohnnachweis unrichtige Angaben enthält oder sich die Schätzung als unrichtig erweist
3. ...
§
168 Abs
2 SGB VII setzt voraus, dass eine Beitragsfestsetzung nach §
168 Abs
1 SGB VII für das jeweilige Umlagejahr bereits ergangen und dass der Beitrag darin zugunsten des Beitragspflichtigen der Höhe nach
rechtswidrig zu niedrig festgesetzt worden ist, weil ua der Lohnnachweis unrichtige Angaben enthielt (ähnlich BSG vom 4.3.2004
- B 3 KR 15/03 R - juris RdNr 10). Fehlt eine dieser drei Voraussetzungen, darf der Träger die frühere Höchstbetragsregelung nicht aufheben
und bleibt an sie gebunden. Der Beitragsbescheid muss, damit die Aufhebung eines Verwaltungsakts zuungunsten des Beitragspflichtigen
überhaupt möglich ist, einen den Beitragspflichtigen begünstigenden Verwaltungsakt verlautbart haben. Diese begünstigende
Regelung besteht in der Feststellung, dass der Beitragsschuldner nicht mehr als diesen Betrag zahlen muss.
Diese begünstigende Höchstbetragsregelung steht ab dem Zeitpunkt ihres Erlasses nicht mehr zur Disposition der Verwaltung.
Der zuständige Träger ist zudem gemäß §
77 SGG an sie gebunden (vgl auch BSG vom 2.12.1992 - 6 RKa 33/90 - BSGE 71, 274, 277 = SozR 3-1500 § 85 Nr 1 S 4). Das bedeutet, dass zwischen dem Träger und dem Beitragspflichtigen kraft des Verwaltungsakts
feststeht, dass der Träger keinen höheren Beitrag fordern darf, solange die Höchstbetragsregelung wirksam ist (§ 39 Abs 2 SGB X).
Die Bindungswirkung der Höchstbetragsregelungen besteht nach §
77 SGG nicht, soweit durch Gesetz anderes bestimmt ist, insbesondere soweit ein Gesetz zur Aufhebung der Verwaltungsakte ermächtigt.
§
168 Abs
2 SGB VII ermächtigt zur Aufhebung wirksamer und bindender Höchstbetragsregelungen. § 739
RVO spricht zwar ausdrücklich nur davon, dass die Berufsgenossenschaft nach Zustellung eines Beitragsbescheides (§ 746
RVO) den Beitrag nur noch dann zuungunsten des Beitragsschuldners anders feststellen darf, wenn ua der Lohnnachweis unrichtig
war. Er umfasst damit aber unausgesprochen auch die vorrangige Ermächtigung zur Aufhebung der früheren begünstigenden Feststellung
des Höchstbetrags der Beitragszahlungspflicht in dem nach § 746
RVO ergangenen Beitragsbescheid.
Diese Voraussetzungen lagen vor. Es waren für jedes Jahr (1996, 1997, 1999, 2000) Beitragsbescheide ergangen. In ihnen war
jeweils der Höchstbetrag der Beitragsschuld gemessen an der gesetzlichen Beitragsschuld zugunsten der Klägerin zu niedrig
festgesetzt worden, weil deren Lohnnachweise unrichtig waren.
Die Angaben der Klägerin in ihren Lohnnachweisen waren, wie zwischen den Beteiligten nicht mehr streitig ist, zu Lasten der
Beitragsforderungen der Beklagten unrichtig. In den Jahren 1996, 1997, 1999 und 2000 hat sie zu Unrecht die Entgelte ihrer
Meister in vollem Umfang im Unternehmenszweig "kaufmännisches und technisches Personal" (Gefahrklasse 1,0) nachgewiesen. Da
die Meister zum Teil auch auf den Baustellen zur Kontrolle und Überprüfung eingesetzt worden sind, waren die Entgelte - jedenfalls
teilweise - dem Unternehmenszweig "Malerarbeiten aller Art" (Gefahrklasse 4,0) zuzuordnen. Für die Jahre 1999 und 2000 hat
die Klägerin Entgelte der Arbeitnehmer der Gerüstbauabteilung nicht dem Unternehmenszweig "Gerüstbau/Gerüstverleih" (Gefahrklasse
10,0) zugeordnet. Auch soweit im Jahr 2000 die Klägerin im Lohnnachweis keine Lohnsummen des Unternehmenszweigs "Hochbau aller
Art, hier Betonsanierung", nachgewiesen hat, war dies unzutreffend. Diese unrichtigen Angaben haben zu einer rechtswidrig
zu niedrigen Beitragsfestsetzung geführt.
4. Die Beklagte hat diese Höchstbetragsregelungen zu Recht aufgehoben, ohne Ermessen zu betätigen. §
168 Abs
2 SGB VII räumt den Unfallversicherungsträgern nämlich kein Aufhebungsermessen ein. Vielmehr müssen sie die frühere rechtswidrig begünstigende
Höchstbetragsregelung aufheben, falls - wie hier - ein Tatbestand des §
168 Abs
2 SGB VII erfüllt ist.
a) Die Frage, ob das Gesetz den Unfallversicherungsträgern für die Aufhebung früherer Beitragshöchstfestsetzungen Ermessen
einräumt, ist in Rechtsprechung und Schrifttum umstritten. Die herrschende Meinung nimmt an, §
168 Abs
2 Nr
2 SGB VII aF gewähre Ermessen (vgl LSG Baden-Württemberg, Beschluss vom 10.7.2007 - L 7 U 2777/07 ER-B; LSG Berlin-Brandenburg vom 20.3.2007 - L 2U 46/03 - und vom 12.2.2003 - L 2U 221/06; LSG Rheinland-Pfalz vom 20.2.2004
- L 2 ER 59/03 U - NZS 2004, 602; LSG Nordrhein-Westfalen vom 1.10.2008 - L 17 U 274/07 - jetzt B 2 U 34/08 R; Schleswig-Holsteinisches LSG vom 22.11.2007 - L 1 U 98/06; sowie die herrschende Meinung in der Literatur: Platz in Lauterbach, Unfallversicherung, 4. Aufl, Stand April 2007, §
168 SGB VII RdNr 4; Höller in Hauck/Noftz,
SGB VII - Gesetzliche Unfallversicherung, Stand IV. Lieferung 2009, K §
168 RdNr 11; Bereiter-Hahn/Mehrtens, Gesetzliche Unfallversicherung, Stand Januar 2008, §
168 SGB VII RdNr 4). Dies wird von der Mindermeinung verneint (LSG Niedersachsen vom 29.7.1997 - L 3 U 223/97 - Breithaupt 1997, 939, 942 mwN; LSG Berlin vom 30.4.2002 - L 2 U 55/00; SG Dortmund vom 25.7.2002 - S 17 U 45/00; aus der Literatur: Bigge in BG 2008, S 133, 135; Ricke in KasselerKomm, Sozialversicherungsrecht, Stand September 2007,
§
168 SGB VII RdNr 4; Bigge in jurisPR-SozR 22/07 Anm 3).
b) Für die Rechtsauffassung des LSG, die Norm stelle es in das Ermessen der Verwaltung, den früheren begünstigenden Verwaltungsakt
aufzuheben, spricht allerdings der ab 1997 gültige Gesetzeswortlaut ("darf nur aufgehoben werden"). Er deutet in der juristischen
Fachsprache (seit 1981 auch im SGB) im Regelfall, allerdings nicht notwendig immer, auf die Einräumung eines Ermessens hin.
Jedoch kann die Höchstbetragsregelung zuungunsten des Beitragsschuldners nur ganz oder gar nicht und nur dann aufgehoben werden,
wenn feststeht, dass der Unfallversicherungsträger eine höhere Beitragsforderung hat. Zu welchem Zweck er dennoch befugt sein
sollte, die frühere Feststellung eines rechtswidrig niedrigen Höchstbetrags nicht aufzuheben, ergibt sich aus dem Wortlaut
nicht.
c) Das LSG hat aber wohl sinngemäß vorausgesetzt, es bestehe ein Ermessen nicht nur hinsichtlich der Aufhebung oder Nichtaufhebung
der Höchstbetragsregelung, sondern vor allem für die Neufeststellung der Beitragsforderung. Dann gäbe es also eine Art "Gesamtentscheidung"
aus zwei Verwaltungsakten, in der die Aufhebung der früheren Höchstbetragsregelung und die neue Beitragsfeststellung miteinander
verbunden wären, um eine sachgerechte Einzelfallentscheidung über den nachzufordernden Beitrag zu erlauben. Dabei wären zwei
Ermessenszwecke denkbar:
Erstens könnte eigenes Fehlverhalten des Unfallversicherungsträgers zu berücksichtigen sein, wenn es zur Unrichtigkeit der
Lohnnachweise (oder einer Schätzung) führte. Das könnte sich daraus ergeben, dass §
168 Abs
2 Nr
2 SGB VII auch Fälle erfasst, in denen die Unrichtigkeit der ersten Höchstbetragsfeststellung allein oder wesentlich auf einem Fehlverhalten
des Trägers beruht. Aufgrund eines solchen wesentlichen Fehlers des Trägers können dem Unternehmer bezifferbare wirtschaftliche
Nachteile entstehen, weil die Nachforderung erst später erhoben wird und sie den durch den Verwaltungsakt begründeten Vertrauens-
und Dispositionsschutz des Unternehmers verdrängt. Auch können sich die wirtschaftlichen Umstände inzwischen zum Nachteil
des Unternehmers geändert haben. Diese wirtschaftlichen Nachteile könnten ggf bei der Neufeststellung der Beitragsschuld im
Wege der Ermessensausübung in dem Sinne zu berücksichtigen sein, dass die Beklagte nicht den gesamten sich aus Gesetz und
Satzung errechnenden Beitrag fordern darf.
Zweitens könnte ein praktisches Bedürfnis der Träger bestehen, von einer strikten Feststellung des höheren Nachforderungsbetrages
absehen zu dürfen, wenn Einzelfallumstände die Festsetzung nur eines Teils hiervon oder sogar ein Absehen von ihr nahelegen.
Die Unfallversicherungsträger gehen bei der Feststellung ihrer Nachforderungen nicht selten "vergleichsweise", aber ohne einen
in ihrem Ermessen stehenden Vergleichsvertrag (§ 54 Abs 1 SGB X) zu schließen, auf tatsächliche oder rechtliche Unklarheiten ein und setzen eine geringere als die von ihnen "eigentlich"
errechnete Nachforderung fest. Nach dem Bekunden der Beklagten berücksichtigen sie dabei auch, ob eigenes Fehlverhalten zur
Unrichtigkeit der ersten Entscheidung beigetragen hat und welche konkreten wirtschaftlichen Nachteile dem Beitragsschuldner
durch die Nachforderung entstehen.
d) Dieser Ansicht ist aber nicht zu folgen. Der scheinbar Ermessen einräumende Gesetzeswortlaut ("darf nur") schließt nicht
aus, dass die Befugnis zur Aufhebung der Höchstbetragsregelung bei Vorliegen des Tatbestandes gebunden auszuüben ist, wie
es bei Eingriffsermächtigungen, um die es hier geht, nicht selten anzutreffen ist.
aa) Allerdings überzeugen die Argumente der Beklagten gegen eine Ermessenseinräumung nicht. Ermessen ist entgegen ihrer Ansicht
nicht schon deshalb ausgeschlossen, weil der Wortlaut dasselbe bedeutet wie: "Ist nur zulässig, wenn". Denn auch diese Formulierung
kann eine Ermessenseinräumung bedeuten. Ein Ausschluss von Ermessen ergibt sich auch nicht aus §
76 SGB IV, nach dem Einnahmen rechtzeitig und vollständig zu erheben sind. Denn diese Vorschrift ist nicht anwendbar. Solange nämlich
die Höchstbetragsregelung nicht aufgehoben ist, steht fest, dass dem Unfallversicherungsträger keine höheren Einnahmen zustehen.
Rechtliche Rückschlüsse daraus, dass das Gesetz seit dem 5.11.2008 statt von "darf, nur" von "ist" spricht und dass die Änderung
mit der Begründung vorgeschlagen worden ist, es handle sich dabei nur um eine "Klarstellung", verbieten sich schon deshalb,
weil der Deutsche Bundestag nicht angeordnet hat, dass der neue Gesetzestext rückwirkend in Kraft treten soll. Er hat nur
eine Neuregelung für die Zukunft getroffen.
bb) Die Entstehungsgeschichte des §
168 Abs
2 SGB VII zeigt, dass er die Wörter: "darf nur" im Blick auf die Aufhebung in demselben Sinn verwendet, in dem die
RVO ihn von 1911 bis Ende 1996 (zuletzt in § 749
RVO) im Blick auf die Beitragsneufeststellung gebraucht hat. So lautete bereits § 749
RVO idF des Unfallversicherungs-Neuregelungsgesetzes vom 30.4.1963 (BGBl I 241 UVNG): "Nach Zustellung des Bescheides darf die
Berufsgenossenschaft den Beitrag zuungunsten des Beitragsschuldners nur dann noch anders feststellen, wenn ... 3. der Lohnnachweis
sich als unrichtig ergibt". Die Formulierung stammte ihrerseits aus einer seit dem Jahr 1913 geltenden Vorläufervorschrift
in § 755
RVO idF vom 19.7.1911 (RGBl I 509), also aus einer Zeit, als das allgemeine Verwaltungsrecht und das Sozialverwaltungsrecht einschließlich
der Ermessenslehre nicht im Ansatz den heutigen Stand der Unterscheidung zwischen gebundener und Ermessensverwaltung erreicht
hatten.
In ständiger Verwaltungspraxis wurden Beitragsänderungen nach § 749
RVO nicht als Ermessensentscheidungen getroffen, obwohl auch die Regelungen der
RVO schon immer den Wortlaut hatten, dass ein Beitragsbescheid unter den genannten Voraussetzungen ... geändert werden "darf".
Auch in der Literatur zu § 749
RVO ist nicht erörtert und gefordert worden, dass eine Beitragsnachforderung nur ergehen kann, wenn nicht nur die tatbestandlichen
Voraussetzungen erfüllt sind, sondern auch Ermessen ausgeübt worden ist (vgl zu § 740
RVO: Ricke in KasselerKomm, Stand September 1994, § 749
RVO RdNr 3; Baumer/Fischer/Salzmann, Die gesetzliche Unfallversicherung, Stand 49. Lieferung 1996, § 749 Anm 6; Bereiter-Hahn/Mehrtens, Stand Mai 1994 § 749
RVO RdNr 2; Lauterbach, Gesetzliche Unfallversicherung, Stand 1.1.1996, § 749 RdNr 3 und 6b; Burchardt in Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, Gesetzliche Unfallversicherung, Stand Dezember 2001,
§ 749 RdNr 11).
Bei Inkrafttreten des SGB X zum 1.1.1981 hat der Gesetzgeber § 749
RVO beibehalten, obwohl zunächst dessen Streichung vorgeschlagen worden war (vgl Wiesner, SGb 1984, S 95 mwN). Nach dem damaligen
Verständnis sollte eine einfachere Regelung geschaffen werden, die auf die Vertrauensschutzregelung ähnlich dem § 45 Abs 2 SGB X verzichtet und die nur in den ausdrücklich genannten Fällen die Nachforderung erlaubt und gebietet und sie anderenfalls verbietet
(vgl Wiesner aaO., S 95 f).
Die Rechtsprechung hat die Nichtausübung von Ermessen nie beanstandet (vgl BSG vom 12.12.1985 - 2 RU 30/85 - SozR 2200 § 734 Nr 6 S 24 f; ähnlich BSG vom 12.12.1985 - 2 RU 49/84 - SozR 2200 § 734 Nr 5 S 14; LSG Niedersachsen vom 29.7.1997 - L 3 U 223/97 - juris RdNr 22). In den vom BSG entschiedenen Fällen war es zur Neuveranlagung für laufende Tarifzeiten gekommen, in der
Folge sind Beiträge nach § 749 Nr 3
RVO höher festgesetzt worden. Das BSG hat bezüglich der Beitragsnachforderungen nur die Voraussetzungen nach § 749 Nr 3
RVO geprüft. In dem einen Fall hat es die Neufeststellungen nicht auf Ermessensfehler hin überprüft oder gar mangels Ermessensausübung
als rechtswidrig angesehen. In dem anderen Fall wurde die Sache an das LSG zurückverwiesen, damit dort geprüft werde, ob die
Beiträge aufgrund der Neuveranlagung - hinsichtlich ihrer Höhe - rechtmäßig sind. Dennoch wurde nicht einmal erwähnt, dass
das LSG auch prüfen müsse, ob der Träger Ermessen rechtmäßig ausgeübt hatte, ohne das im BSG-Urteil Anhaltspunkte für eine
solche Ermessensbetätigung erkennbar sind.
In der Begründung des Entwurfs der Bundesregierung für ein Gesetz zur Einordnung des Rechts der gesetzlichen Unfallversicherung
in das Sozialgesetzbuch - Unfallversicherungs-Eingliederungsgesetz - UVEG (Gesetzesbeschluss vom 7.8.1996, BGBl I 1254) ist ausgeführt worden (vgl BT-Drucks 13/2204 S 113), die Vorschrift zähle die
Fälle auf, in denen ein Beitragsbescheid mit Wirkung für die Vergangenheit aufgehoben werden kann. Es bleibe mit der Regelung
die bisherige Rechtslage (unter Hinweis auf: § 749
RVO) im Wesentlichen unverändert. Auch auf den Ausschluss der Ermessensnormen in §§ 44 f SGB X weist die Gesetzesbegründung hin. Diesen Ausführungen lässt sich die Regelungsintention der gesetzesinitiativ gewordenen
Bundesregierung entnehmen, die bisher geltende Rechtslage trotz begrifflicher Klarstellungen nicht ändern zu wollen.
e) Der Ausschluss des § 45 SGB X, der Aufhebungsermessen bei der Rücknahme rechtswidrig begünstigender Verwaltungsakte einräumt, bedeutet, dass die Sondervorschrift
des §
168 Abs
2 SGB VII alle Umstände abschließend festgelegt und bewertet, von denen die Aufhebung der Höchstbetragsregelung abhängen soll. Die
gegenteilige Auffassung hat zum Inhalt, das Gesetz ermächtige die Unfallversicherungsträger nicht lediglich zur Aufhebung
der früheren Höchstbetragsregelung, sondern unausgesprochen auch noch dazu, nach materiellem Recht bestehende Beitragsforderungen
aus anderen Gründen als dem Abschluss eines Vergleichsvertrags im Ermessenswege niedriger festzusetzen, also die gesetzliche
Beitragsschuld nach Ermessen zu verringern. Ihr zu folgen, wäre eine unzulässige, mit dem Gesetzeswortlaut unvereinbare und
in den Vorbehaltsbereich des Gesetzes (§ 31 Erstes Buch Sozialgesetzbuch) eingreifende richterliche Rechtsfortbildung.
5. Der Senat hat den Rechtsstreit an das LSG zurückverwiesen, soweit die Klägerin auch gegen die Neufeststellung der Höhe
ihrer Beitragszahlungspflicht für die Jahre 1996, 1997, 1999 und 2000 zulässig Anfechtungsklage erhoben hat. Insoweit hatte
das Berufungsgericht - ausgehend von seiner Rechtsauffassung zutreffend - keine tatsächlichen Feststellungen getroffen, so
dass das BSG nicht abschließend entscheiden kann, ob die neuen Beitragsfestsetzungen der Höhe nach rechtmäßig sind. Im Übrigen
hat der Senat mit diesem Urteil abschließend entschieden, dass das LSG die Aufhebungen der Höchstbetragsfeststellungen vom
19.12.2001 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 4.3.2001 nicht deshalb aufheben durfte, weil die Beklagte keine Ermessensentscheidungen
getroffen hatte. Daran ist das LSG bei seiner abschließenden Entscheidung über die Berufung als Ganzes gebunden.
6. Die Kostenentscheidung für das Revisionsverfahren bleibt dem LSG vorbehalten.
7. Die Streitwertfestsetzung folgt aus §
197a Abs
1 SGG iVm § 63 Abs 2, § 52 Abs 1 sowie § 47 Abs 1 Gerichtskostengesetz (GKG). Liegt einem Rechtsstreit das Begehren nach Erhalt eines höheren Geldbetrags oder nach Minderung einer finanziellen Belastung
zugrunde, so ist der Streitwert gemäß § 52 Abs 1 GKG an dem verfolgten wirtschaftlichen Interesse auszurichten. Zu diesem Zweck ist ein Betrag festzusetzen. Das wirtschaftliche
Interesse der mit der Revision verfolgten Anfechtung der Verwaltungsakte über die Beitragsnachzahlungen entspricht dem Betrag
der nachzuzahlenden Beiträge, das sind 12.151,23 Euro.