Zulässigkeit von Klage und Berufung im sozialgerichtlichen Verfahren bei fehlender Mitteilung des tatsächlichen Wohnsitzes,
tatsächlichen Aufenthaltes bzw. des Beschäftigungsortes
1. Eine Klage, in der der Kläger weder seinen Wohnsitz, Aufenthaltsort oder Beschäftigungsort angibt, ist regelmäßig unzulässig.
2. Die Angabe des Wohnsitzes, Aufenthaltsortes oder Beschäftigungsortes ist nicht Zulässigkeitsvoraussetzung einer Berufung.
3. Lässt sich weder im Inland noch im Ausland ein Wohnsitz, Aufenthaltsort oder Beschäftigungsort eines Klägers feststellen,
so ist nach §
202 SGG in Verbindung mit einer entsprechenden Anwendung des §
16 ZPO das für den letzten Wohnsitz des Klägers zuständige Sozialgericht örtlich zuständig.
Eine Klage ist unzulässig, wenn der Kläger seinen tatsächlichen Wohnsitz, tatsächlichen Aufenthalt bzw. seinen Beschäftigungsort
nicht mitgeteilt hatte. Die Angabe einer postalischen Erreichbarkeit genügt nicht. Die Unzulässigkeit der Klage schlägt nicht
im Sinne einer Unzulässigkeit der Berufung durch. Denn die Angabe der ladungsfähigen Anschrift des Berufungsklägers in der
Berufungsschrift ist nicht Zulässigkeitsvoraussetzung der Berufung; dem Kläger muss es nach den Grundsätzen eines fairen Verfahrens
möglich sein, die vom erstinstanzlichen Gericht verneinte Frage der ordnungsgemäßen Klageerhebung durch die höhere Instanz
überprüfen zu lassen, ohne durch die Mitteilung seiner Anschrift in der Rechtsmittelschrift seinen eigenen Rechtsstandpunkt
von vornherein gleichsam aufzugeben. [Amtlich veröffentlichte Entscheidung]
Tatbestand:
Zwischen den Beteiligten ist ein Anspruch des Klägers gegen die Beklagte auf Erstattung von gezahlten Beiträgen zur Gesetzlichen
Rentenversicherung (GRV) streitig.
Der 1979 in Polen geborene Kläger hat bis 13. März 2000 sowie vom 4. November 2003 bis 3. Dezember 2006 Haftstrafen verbüßt.
Anschließend hat er bis 31. März 2008 Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach den §§ 19 ff SGB II erhalten und
gegenüber dem Grundsicherungsträger für Zeiten ab dem 1. April 2008 auf Leistungen verzichtet. Das Mietverhältnis seiner Wohnung
hat der Kläger zu diesem Zeitpunkt beendet.
Nachdem der Kläger am 31. Januar 2008 - unter der Anschrift W.-Str. .., ..... S. - die Klärung seines Versicherungskonto beantragt
und die Beklagte mit Bescheid vom 6. März 2008 die rentenrechtlichen Zeiten des Klägers festgestellt hatte, hat der Kläger
am 17. März 2008 - unter derselben Anschrift - bei der Beklagten die Erstattung der geleisteten Beiträge zur GRV beantragt.
Mit Bescheid vom 19. März 2008 lehnte die Beklagte den Antrag ab, denn der Kläger sei zur freiwilligen Versicherung berechtigt.
Mit seinem Widerspruch vom 9. April 2008, in dem der Kläger erneut die zuvor genannte Adresse angab, hat der Kläger unter
anderem geltend gemacht, er beziehe weder "Hartz IV" noch Arbeitslosengeld, noch gehe er in Deutschland einer Beschäftigung
nach. Er bat um Auszahlung der Beiträge und Löschung des Kontos. Des Weiteren teilte er mit, auswandern zu wollen, wobei das
Ziel der Auswanderung nicht "im Bereich der abgeschlossenen Verträge" liege. Eine Meldebestätigung in Deutschland existiere
außer einer postalischen Meldung für Post in der W.-Str. .., .... S., nicht mehr. Die Post werde von einem Bruder aus dem
Briefkasten entnommen. Er sei weder in Deutschland gemeldet, noch habe er dies vor. Mit Widerspruchsbescheid vom 18. September
2008 hat die Beklagte den Widerspruch zurückgewiesen. Eine Anfrage beim Bürgermeisteramt S./O.S. habe ergeben, dass der Kläger
immer noch unter der Adresse W.-Str. ..., .... S., gemeldet sei. Da der Kläger noch immer in der Bundesrepublik Deutschland
gemeldet sei, bestehe das Recht zur freiwilligen Versicherung und schließe die Beitragserstattung aus.
Am 1. Oktober 2008 hat der Kläger beim Sozialgericht Freiburg (SG) Klage erhoben. Dabei hat er neben seinem Namen angegeben: "c/o T. W., postalisch, W.Str. ..., .... S.". Zur Begründung hat
er mitgeteilt, er habe keinen offiziellen Wohnsitz in Deutschland mehr, sein Bruder würde die Post entgegen nehmen. Seit 1.
April 2008 sei er nicht mehr unter seiner alten Adresse wohnhaft, der alte Wohnsitz sei nur noch als Briefkasten in der Wohnung
seines Bruders "angemeldet"; seit 1. April 2008 sei das Mietverhältnis gekündigt. Er halte sich seit dem 1. April 2008 gelegentlich
in Deutschland auf. Bei Erhebung der Klage habe er sich im EU-Gebiet aufgehalten. Er habe keinen Wohnsitz in Deutschland,
habe sich auch nicht im Ausland angemeldet; als EU-Bürger habe er die Freizügigkeit, sich aufzuhalten, wo er wolle.
Mit Gerichtsbescheid vom 24. Juli 2009 hat das SG die Klage abgewiesen. Die Klage sei unzulässig. Gemäß §
90 Abs.
1 Satz 1
SGG müsse die Klage unter anderem den Kläger bezeichnen, wozu im Regelfall erforderlich sei, dass der Kläger seine Wohnanschrift
mitteile. Dies entspreche der Handhabung in den anderen Prozessordnungen und sei erforderlich, um die örtliche Zuständigkeit
des Gerichts nach §
57 SGG prüfen und den gesetzlichen Richter feststellen zu können. Der Kläger habe erklärt, dass er zum Zeitpunkt der Klageerhebung
keinen Wohnsitz in Deutschland gehabt habe; die Angabe einer postalischen Adresse unter der der Bruder Post entgegen nehme,
genüge nicht. Auch die Mitteilung, dass er sich im EU-Gebiet aufgehalten habe, sei nicht ausreichend.
Gegen den ihm per Postzustellungsurkunde durch Einwurf in den zur Wohnung gehörenden Briefkasten (Adresse: W.-Str. ..., .....
S.) am 28. Juli 2009 zugestellten Gerichtsbescheid hat der Kläger - unter der Adresse W.-Str. ..., ..... S. - am 17. August
2009 beim SG Berufung eingelegt (Eingang beim Landessozialgericht Baden-Württemberg [LSG] am 24. August 2009). Eine Begründung seines
Rechtsmittels hat der Kläger nicht mitgeteilt.
Der Kläger beantragt sinngemäß,
den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Freiburg vom 24. Juli 2009 sowie den Bescheid der Beklagten vom 19. März 2008 in der
Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 18. September 2008 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, ihm die geleisteten Beiträge
zur Gesetzlichen Rentenversicherung zu erstatten.
Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Sie hält das Urteil des SG für zutreffend.
Auch gegenüber dem Senat hat der Kläger einen tatsächlichen Wohnsitz nicht mitgeteilt. Die Gemeinde S. hat dem Senat auf Anfrage
dagegen mitgeteilt, dass der Kläger nach wie vor unter der gerichtsbekannten Adresse polizeilich gemeldet sei.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts sowie des Vorbringens der Beteiligten wird auf die Akten des LSG sowie die
beigezogenen Akten des SG, (S 15 AL 4872/08) und der Beklagten Bezug genommen.
Entscheidungsgründe:
Die Berufung des Klägers hat keinen Erfolg.
Die gem. §§
143,
144 Abs.
1 SGG statthafte Berufung ist form- und fristgerecht eingelegt (§
151 Abs.
1 SGG) und insgesamt zulässig. Sie ist jedoch unbegründet.
Die Klage vom 1. Oktober 2008 ist unzulässig, weil der Kläger seinen tatsächlichen Wohnsitz, tatsächlichen Aufenthalt bzw.
seinen Beschäftigungsort nicht mitgeteilt hatte. Zwar hat der Kläger eine postalische Erreichbarkeit angegeben, jedoch genügt
dies nicht. Insoweit wird auf die zutreffenden Gründe des Urteils des SG Bezug genommen, die sich der Senat aufgrund eigener Prüfung zu eigen macht, und weswegen von einer weiteren Darstellung der
Entscheidungsgründe abgesehen wird (§
153 Abs.
2 SGG; zum Problem vgl. auch BSG, Beschluss vom 18. November 2003 - B 1 KR 1/02 S - SozR 4-1500 § 90 Nr. 1 = juris und Hessisches LSG, Urteil vom 30. März 2006 - L 8 KR 46/05 - juris). Die Unzulässigkeit der Klage schlägt - auch obwohl der Kläger auch im Berufungsverfahren trotz Aufforderung diese
Angaben nicht nachgeholt hat - nicht im Sinne einer Unzulässigkeit der Berufung durch. Denn nach der Rechtsprechung ist die
Angabe der ladungsfähigen Anschrift des Berufungsklägers in der Berufungsschrift nicht Zulässigkeitsvoraussetzung der Berufung;
dem Kläger muss es nach den Grundsätzen eines fairen Verfahrens möglich sein, die vom erstinstanzlichen Gericht verneinte
Frage der ordnungsgemäßen Klageerhebung durch die höhere Instanz überprüfen zu lassen, ohne durch die Mitteilung seiner Anschrift
in der Rechtsmittelschrift seinen eigenen Rechtsstandpunkt von vornherein gleichsam aufzugeben (BGH, Urteil vom 9. Dezember
1987 - IVb ZR 4/87 - BGHZ 102, 332 = juris; BGH, Urteil vom 11. Oktober 2005 - XI ZR 398/04 - NJW 2005, 3773-3775 = juris; VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 11. März 1997 - 9 S 2902/95 - AP Nr 30 zu §
253 ZPO = juris Rn. 15 = OVG Münster, Urteil vom 18. Juni 1993 - 8 A 1447/90 - NVwZ-RR 1994, 124 = juris; so im Ergebnis auch Hessisches LSG, Urteil vom 30. März 2006 - L 8 KR 46/05 - juris).
Im Übrigen sei Folgendes lediglich ergänzend zum Urteil des SG ausgeführt: Auch wenn der Kläger zwar seine postalische Erreichbarkeit, nicht jedoch einen tatsächlichen Wohnsitz bzw. Aufenthaltsort
mitgeteilt hat, war das SG dennoch sachlich (§
8 SGG) und örtlich (§§
57,
202 SGG in Verbindung mit §
16 ZPO) zur Entscheidung über die vom Kläger erhobene Klage zuständig. Die örtliche Zuständigkeit bestimmt sich grundsätzlich nach
§
57 Abs.
1 Satz 1
SGG. Für den Kläger lässt sich ein zur Begründung des Gerichtsstandes maßgeblicher tatsächlicher Wohnsitz, Aufenthalt oder Beschäftigungsort
weder im Inland noch im Ausland feststellen. Die bloße Meldung bei der Gemeinde S. genügt insoweit nicht um einen relevanten
Wohnsitz zu begründen (BSG, Urteil vom 31. Januar 1980 - 8b RKg 4/79 - BSGE 49, 254-256 = SozR 5870 § 1 Nr. 6 = juris Rn. 15). Da ein tatsächlicher Wohnsitz oder tatsächlicher Aufenthalt des Klägers von gewisser
Dauer auch im Ausland nicht festzustellen ist, bestimmt sich die Zuständigkeit auch nicht gemäß §
57 Abs.
3 SGG nach dem Sitz der Beklagten.
Vielmehr ist in Fällen, in denen der Beschäftigungsort, der Wohnsitz und auch der Aufenthaltsort einer - wie hier - als Versicherter
klagenden Person unbekannt sind, zur Bestimmung der örtlichen Zuständigkeit gemäß §
202 SGG in entsprechender Anwendung des §
16 ZPO auf den letzten Wohnsitz des Klägers abzustellen (BSG, Beschluss vom 2. April 2009 - B 12 SF 8/08 S - NJW 2010, 1165 = juris Rn. 6). Nach §
202 SGG gelten die Vorschriften der
ZPO subsidiär für das sozialgerichtliche Verfahren und sind heranzuziehen, wenn eine abschließende Regelung im
SGG fehlt und die Lücke nicht durch Heranziehung anderer Vorschriften des
SGG geschlossen werden kann. Dabei kann auch eine modifizierende Anwendung notwendig sein (BSG aaO. unter Verweis auf Leitherer
in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer,
SGG, 9. Auflage 2008, § 202 Rn. 2). Nach §
16 ZPO wird der allgemeine Gerichtsstand einer Person, die keinen Wohnsitz hat, durch den Aufenthaltsort im Inland und, wenn ein
solcher nicht bekannt ist, durch den letzten Wohnort bestimmt, sodass gemäß §
12 ZPO das für den letzten Wohnsitz zuständige Gericht zur Entscheidung berufen ist. Da im sozialgerichtlichen Verfahren nach den
Regelungen des §
57 SGG grundsätzlich bei der Klage eines Versicherten auf dessen Wohnsitz oder in Ermangelung dessen auf seinen Aufenthaltsort abgestellt
wird, ist §
16 ZPO insoweit entsprechend anzuwenden, als auf den letzten Wohnsitz des klagenden Versicherten abzustellen ist, wenn der gegenwärtige
Wohnsitz und Aufenthaltsort nicht bekannt sind (BSG aaO.). Der letzte Wohnsitz des Klägers befand sich in S., somit im örtlichen
Zuständigkeitsbereich des SG Freiburg.
Da Post den Kläger über die von ihm angegebene Adresse stets erreicht hat und der Bruder des Klägers die Funktion eines Empfangsbevollmächtigten
wahrnimmt, insoweit seine postalische Erreichbarkeit vorhanden ist, musste weder das SG noch der Senat den Gerichtsbescheid bzw. das Urteil gem. §§
135,
105 Abs.
1 Satz 3,
153 Abs.
1,
63 Abs.
2 SGG in Verbindung mit §
185 Nr.
1 ZPO öffentlich zustellen.
Die Kostenentscheidung beruht auf §
193 SGG; dabei wurde berücksichtigt, dass der Kläger mit seinem Begehren in beiden Rechtszügen keinen Erfolg hatte.
Gründe für die Zulassung der Revision liegen nicht vor (§
160 Nr. 1 und 2
SGG).