Tatbestand:
Der Kläger begehrt bezüglich der Quartale IV/99 bis II/00 höheres Honorar für die Behandlung von Patienten, die Leistungen
der Sozial- und Jugendhilfe erhalten haben.
Grundlage für die Behandlung von Sozial- und Jugendhilfeempfängern durch Berliner Vertragsärzte war die zwischen der (damaligen)
AOK Berlin (heute: AOK Nordost) und dem Land Berlin am 6. März 1992 geschlossene Vereinbarung über "die Durchführung und Abrechnung
der ambulanten gesundheitlichen Versorgung" des folgenden Personenkreises (im Folgenden: Empfänger von Sozialhilfe):
- hilfebedürftige Personen nach dem Bundessozialhilfegesetz,
- PrV-Rentner und ihre zuschlagsberechtigten Angehörigen (ausgenommen Mutterschaftsvorsorge),
- Kriegsbeschädigte und deren Familienangehörige sowie Kriegshinterbliebene, die im Rahmen der Kriegsopferfürsorge betreut
werden,
- Empfänger von Unterhaltshilfe nach dem Lastenausgleichsgesetz oder von Beihilfe zum Lebensunterhalt aus dem Härtefond des
Lastenausgleiches oder dem Flüchtlingshilfegesetz oder dem Reparationsschädengesetz.
Ebenfalls am 6. März 1992 schlossen dieselben Vertragsparteien eine inhaltlich gleichlautende Vereinbarung über die ambulante
gesundheitliche Versorgung von
- hilfebedürftigen Personen nach dem Bundessozialhilfegesetz in Verbindung mit § 30 des Gesetzes zur Ausführung des Kinder- und Jugendhilfegesetzes,
- Empfänger von Erziehungshilfe nach dem Kinder- und Jugendhilfegesetz in Heimen, Pflegeanstalten, Wohngemeinschaften und Jugendwerkheimen
(im Folgenden: Empfänger von Jugendhilfe).
Für diese Personenkreise erfasste die ambulante gesundheitliche Versorgung u.a. die ärztliche Behandlung nach den für Versicherte
der AOK Berlin geltenden Vorschriften und Bestimmungen auf der Grundlage von Krankenscheinen, welche durch die Bezirksämter
auszustellen und mit den Symbolen "U" bzw. "J" zu versehen waren. Die Vergütung dieser Leistungen sollte sich nach den von
der AOK Berlin mit ihren jeweiligen Vertragspartner geschlossenen Verträgen richten (Ziff. 17 bzw. 18 der Vereinbarungen).
Behörden des Landes Berlin sollten der AOK Berlin gem. §
264 Sozialgesetzbuch Fünftes Buch (
SGB V) die durch die Durchführung dieser Vereinbarungen entstandenen Kosten einschließlich eines angemessenen Verwaltungskostenanteils
erstatten (Ziff. 18 bzw. 19 der Vereinbarungen).
Die Rechtsbeziehungen zwischen der Beklagten und der früheren AOK Berlin bestimmten sich u.a. nach dem Gesamtvertrag vom 9.
Dezember 1976, dessen Geltungsbereich die kassenärztliche Versorgung für die Anspruchsberechtigten der AOK umfasste (§ 1 Abs.
1) und dessen Bestimmungen für die auftragsweise versorgten Personen entsprechend galten (§ 1 Abs. 3). Dieser Vertrag sah
u.a. vor, dass die Abrechnungsstelle der Beklagten die von den Kassenärzten eingereichten Abrechnungsunterlagen auch darauf
überprüft, ob die Honoraranforderung gebührenordnungsmäßig stimmen (§ 12 Abs. 1 lit. c), und dass sie nicht abrechnungsfähige
Leistungen zu streichen hat (§ 12 Abs. 2 Satz 1).
Der Kläger nimmt seit August 1994 als Allgemeinmediziner im Berliner Bezirk R an der vertragsärztlichen Versorgung teil. In
den Honorarbescheiden für die Quartale IV/99 bis II/00 lehnte die Beklagte die Vergütung diverser vom Kläger geltend gemachter
Leistungen nach den Gebührenordnungsnummern (GO-Nrn.) 1, 2, 42, 855, 856, 205 des Einheitlichen Bewertungsmaßstabes (EBM) ab. Für das Quartal I/00 betraf dies zusätzlich
Leistungen nach den GO-Nrn. 10, 5 und 378, für das Quartal II/00 Leistungen nach den GO-Nrn. 15, 376 und 801. Gegen den Honorarbescheid für das Quartal IV/99 legte der Kläger Widerspruch ein und begründete ihn
im Wesentlichen wie folgt:
"Mein Widerspruch richtet sich gegen das gesamte Rechnungswerk für das IV. Quartal 1999 u. a. gegen
1) die "Verrechung" bzw. Einbehaltung der der Höhe nach nicht gerechtfertigten Forderung der KV aus dem Vorquartal (III. Quartal
1999) in Höhe von DM 12.363,39.
Obwohl gegen diese Forderung Widerspruch im Zusammenhang mit dem Widerspruch gegen den Honorarbescheid III. Quartal 1999 eingelegt
wurde und die Aussetzung der Rückforderung bis zur Bescheidung des Widerspruchs beantragt wurde, wurde nunmehr diese strittige
Forderung von der KV Berlin einfach einbehalten bzw. mit der Honoaraforderung für das IV. Quartal 1999 "verrechnet".
2) nicht gerechtfertigte Absetzungen
3) gegen die Berechnung des Praxisbudgets mit nur teilquotierten Werten aus dem ersten Halbjahr 1996
4) gegen die Berechnung des Zusatzbudgets
5) gegen die Maßnahmen Prüfungsausschuss, Brief 14.04.2000."
Seine Widersprüche gegen die Honorarbescheide für die Quartale I/00 und II/00 begründete der Kläger trotz entsprechender Ankündigung
nicht. In der Folgezeit gewährte die Beklagte weiteres Honorar für die im Streit befindlichen Quartale:
Bescheid vom
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Quartal
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Nachvergütung i. H. v.
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Grund der Nachvergütung
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26. November 2001
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I/00
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776,06 DM
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Hausbesuche bei AOK-Versicherten
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II/00
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929,06 DM
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Hausbesuche bei AOK-Versicherten
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29. November 2001
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I/00
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1.706,13 DM
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Fremdkassenzahlungsausgleich
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1.709,24 DM
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II/00
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3.112,94 DM
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Fremdkassenzahlungsausgleich
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2.358,35 DM
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31. Mai 2002
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I/00
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3.557,57 €
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Laborgrundgebühr, Wirtschaftlichkeitsbonus
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II/00
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3.688,63 €
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Laborgrundgebühr, Wirtschaftlichkeitsbonus
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Mit Widerspruchsbescheid vom 10. Februar 2003 wies die Beklagte die drei o.g. Widersprüche des Klägers zurück und begründete
im Einzelnen, aus welchen Gründen sie Leistungen nach den o.g. GO-Nrn. teilweise nicht vergütete bzw. die von ihr vorgenommene Honorarverteilung für rechtmäßig hielt.
Im anschließenden Klageverfahren brachte der Kläger (erstmals) in der mündlichen Verhandlung vom 6. April 2005 vor, dass er
sich gegen die "Absetzungen bzgl. der Patienten mit U- und J-Scheinen" wende, da die Beklagte für eine solche Prüfung nicht
zuständig sei und die Absetzungen daher rechtswidrig seien.
Mit Urteil vom 23. Mai 2007 wies das Sozialgericht die Klage ab, weil der Kläger mit dem Einwand bezüglich der sachlich-rechnerische
Richtigstellung bzw. der Absetzungen bei den U- und J-Scheinen präkludiert sei. Im Übrigen sei die Beklagte zur Überprüfung
der Abrechnung der U- und J-Scheine auf sachlich-rechnerische Richtigkeit befugt.
Gegen dieses ihm am 1. Oktober 2007 zugestellte Urteil richtet sich die Berufung des Klägers vom 1. November 2007, zu deren
Begründung er auf sein erstinstanzliches Vorbringen verweist und darüber hinaus die Auffassung vertritt, eine Präklusion liege
nicht vor.
Der Kläger beantragt sinngemäß,
das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 23. Mai 2007 aufzuheben und die Honorarbescheide für die Quartale IV/99 bis II/00
in der Fassung der Änderungsbescheide vom 26. November 2001, 29. November 2001 und 31. Mai 2002, alle in der Gestalt des Widerspruchsbescheides
vom 10. Februar 2003, zu ändern und die Beklagte zu verpflichten, ihm höheres Honorar für diese Quartale zu gewähren und hierbei
auch diejenigen Leistungen zu vergüten, die er im Zusammenhang mit den so genannten U- und J-Scheinen geltend gemacht und
deren Vergütung die Beklagte bislang abgelehnt hat.
Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend und bringt ergänzend vor: Der Kläger könne auch im Hinblick auf das Rechtsinstitut
der Verwirkung mit seinen Einwänden nicht mehr gehört werden. Denn selbst wenn sich die Absetzungen und sachlich-rechnerischen
Richtigstellungen bei den U- und J-Scheinen als rechtswidrig erweisen sollten, könnte sie gegenüber dem Land Berlin als Träger
der Sozialhilfe keinen Rückgriff mehr nehmen, weil solche Ansprüche längst verjährt seien.
Wegen des Sach- und Streitstandes im Einzelnen sowie wegen des weiteren Vorbringens der Beteiligten wird auf die Gerichtsakte
sowie die beigezogene Verwaltungsakte, die Gegenstand der mündlichen Verhandlung war, verwiesen.
Entscheidungsgründe:
Die zulässige Berufung ist unbegründet. Im Ergebnis zu Recht hat das Sozialgericht die Klage abgewiesen. Denn der Kläger hat
gegenüber der Beklagten keinen Anspruch auf höhere Vergütung seiner in den Quartalen IV/99 bis II/00 erbrachten Leistungen
für Empfänger von Sozial- oder Jugendhilfe.
1) Ein Erfolg der klägerischen Berufung scheitert allerdings nicht schon an der vom Sozialgericht und der Beklagten angenommenen
Präklusion seiner Einwände. Diese beschränken sich auf rechtliche Überlegungen, welche grundsätzlich nicht Gegenstand einer
Präklusion sein können (vgl. Musielak/Huber,
Zivilprozessordnung, 8.A., §
296 Rd. 6). Auch ein Fall der Verwirkung liegt nicht vor. Denn die vom Kläger aufgeworfene Frage, ob die Beklagte für die "Absetzung"
bzw. sachlich-rechnerische Richtigstellung im Zusammenhang mit den von ihm erbrachten Leistungen für Empfänger von Sozial-
oder Jugendhilfe über eine ausreichende Rechtsgrundlage verfügt, hat der Senat vielmehr in jedem Verfahrensstadium von Amts
wegen zu prüfen.
2) Die Klage ist als kombinierte Anfechtungs- und Verpflichtungsklage (§
54 Abs.
1 Satz 1
Sozialgerichtsgesetz -
SGG) zulässig. Zwar legt die im Verlauf des Rechtsstreits überwiegende Verwendung des Begriffs "Absetzung" die Annahme nahe,
der Kläger wende sich gegen einen Eingriff in seine Rechtssphäre durch Erlass eines nur belastenden Verwaltungsaktes, was
zur Statthaftigkeit der reinen Anfechtungsklage führen würde. Tatsächlich jedoch hat es die Beklagte in den angegriffenen
Honorarbescheiden lediglich abgelehnt, bestimmte Leistungen zu vergüten, die der Kläger gegenüber Empfängern von Sozial- oder
Jugendhilfe erbracht hat, sodass der Kläger auch eine Verpflichtungsklage erheben muss, will er die bislang ihm verwehrte
Vergütung erlangen.
3) Es kann offen bleiben, auf welcher Rechtgrundlage der Anspruch eines Berliner Vertragsarztes gegen die Beklagte auf Vergütung
von Leistungen für Empfänger von Sozial- oder Jugendhilfe beruht. Sollte eine solche Rechtsgrundlage nicht existieren, wäre
die (Verpflichtungs-)Klage schon aus diesem Grund abzuweisen. Ist eine Anspruchsgrundlage für die Vergütung dieser Leistungen
hingegen vorhanden - dies sei im vorliegenden Fall zugunsten des Klägers unterstellt -, ist die Beklagte auch zur sachlich-rechnerischen
Richtigstellung, d.h. zur Prüfung, ob die Voraussetzungen der Leistungslegenden des EBM für die von einem Vertragsarzt geltend
gemachten Leistungen vorliegen, berechtigt.
Maßgeblich ist § 1 Abs. 3 des o.g. Gesamtvertrages, wonach die Bestimmungen dieses Vertrages auch für die auftragsweise versorgten
Personen gelten. Dieser Gesamtvertrag zählt(e) zu den vertraglichen Bestimmungen über die vertragsärztliche Versorgung i.S.v.
§
95 Abs.
3 Satz 3
SGB V, an die der Kläger kraft der ihm erteilten Zulassung gebunden war. Empfänger von Sozial- und Jugendhilfeleistungen gehörten
in den streitgegenständlichen Quartalen auch zu den auftragsweise versorgten Personen i.S.v. § 1 Abs. 3 Gesamtvertrag. Denn
durch die o.g. Verträge vom 6. März 1992 hatte das Land Berlin die (damalige) AOK Berlin beauftragt, die ambulante gesundheitliche
Versorgung, mithin auch die ambulante Behandlung durch Berliner Kassen-/Vertragsärzte, durchzuführen. Der Charakter einer
Auftragsleistung wird durch Ziff. 18 bzw. 19 dieser Verträge besonders herausgestellt: die dort in Bezug genommene Regelung
des §
264 SGB V (in der bis zum 31. Dezember 2003 geltenden Fassung; seither §
264 Abs.
1 SGB V), wonach die Krankenkasse für Arbeits- und Erwerbslose, die nicht gesetzlich gegen Krankheit versichert sind, für andere
Hilfeempfänger sowie für die vom Bundesministerium für Gesundheit bezeichneten Personenkreise die Krankenbehandlung übernehmen
kann, sofern ihr Ersatz der vollen Aufwendungen für den Einzelfall sowie eines angemessenen Teils ihrer Verwaltungskosten
gewährleistet wird, wird einhellig als gesetzlicher Auftrag qualifiziert (BSG, Urteil vom 17. Juni 2008, Az.: B 1 KR 30/07 R, m.w.N.; vgl. auch Senat, Urteil vom 2. Juni 2010, Az.: L 7 KA 12/06, beide veröffentlicht in Juris).
Unterfällt somit die ambulante Behandlung von Empfänger von Sozial- und Jugendhilfeleistungen durch den Kläger den Regelungen
des o.g. Gesamtvertrages, ist die Beklagte nach dessen § 12 Abs. 1 lit. c, Abs. 2 Satz 1 zur Prüfung der gebührenordnungsmäßigen
Voraussetzungen und ggf. zur Streichung nicht abrechnungsfähiger Leistungen nicht nur berechtigt, sondern sogar verpflichtet.
Diese Prüfung hat sie nach dem für den Senat aus den Akten erkennbaren Sachverhalt korrekt durchgeführt. Auch der Kläger hat
insoweit keine Einwände erhoben.
Gründe für die Zulassung der Revision nach §
160 Abs.
2 SGG liegen nicht vor.