Vorläufige Leistungen nach dem AsylbLG
Wechselbeziehung zwischen Anordnungsgrund und Anordnungsanspruch
Offene Erfolgsaussichten in der Hauptsache
Existenzgefährdung und Folgenabwägung
1. Zwischen Anordnungsgrund und Anordnungsanspruch besteht eine Wechselbeziehung. An das Vorliegen des Anordnungsgrundes sind
dann weniger strenge Anforderungen zu stellen, wenn bei der Prüfung der Sach- und Rechtslage das Obsiegen in der Hauptsache
wahrscheinlich ist.
2. Ist bzw. wäre eine in der Hauptsache erhobene Klage dagegen offensichtlich unzulässig oder unbegründet, so ist wegen des
fehlenden Anordnungsanspruches der Erlass einer einstweiligen Anordnung abzulehnen.
3. Sind die Erfolgsaussichten in der Hauptsache offen, kommt dem Anordnungsgrund entscheidende Bedeutung zu.
4. Soweit existenzsichernde Leistungen in Frage stehen, sind die Anforderungen an den Anordnungsgrund und den Anordnungsanspruch
weniger streng zu beurteilen; in diesem Fall ist ggf. auch anhand einer Folgenabwägung unter Berücksichtigung der grundrechtlichen
Belange der Antragsteller zu entscheiden.
5. Der Erlass einer einstweiligen Anordnung muss für die Abwendung wesentlicher Nachteile nötig sein, d.h. es muss eine dringliche
Notlage vorliegen, die eine sofortige Entscheidung erfordert; eine solche Notlage ist bei einer Gefährdung der Existenz oder
erheblichen wirtschaftlichen Nachteilen zu bejahen.
Gründe
Die zulässige Beschwerde des Antragstellers, mit der dieser beantragt,
die Antragsgegnerin unter Aufhebung des Beschlusses des Sozialgerichts Frankfurt am Main vom 13. Juli 2016 im Wege der einstweiligen
Anordnung zu verpflichten, ihm Leistungen nach §§
1,
3 AsylbLG, hilfsweise unabweisbare Leistungen gem. §
1a AsylbLG, ab dem 18. Mai 2016 für einen angemessenen Zeitraum, mindestens jedoch bis zum 27. Juni 2016, zu gewähren und
ihm für das Verfahren 1. Instanz Prozesskostenhilfe unter Beiordnung von Rechtsanwältin B. zu gewähren,
ihm Prozesskostenhilfe für das Beschwerdeverfahren unter Beiordnung von Rechtsanwältin B. zu gewähren,
ist zulässig, aber nur in dem aus dem Tenor ersichtlichen Umfang begründet.
Nach §
86b Abs.
2 Satz 1 und
2 Sozialgerichtsgesetz (
SGG) kann das Gericht der Hauptsache auf Antrag eine einstweilige Anordnung in Bezug auf den Streitgegenstand treffen, wenn die
Gefahr besteht, dass durch eine Veränderung des bestehenden Zustands die Verwirklichung eines Rechts des Antragstellers vereitelt
oder wesentlich erschwert werden könnte. Einstweilige Anordnungen sind auch zur Regelung eines vorläufigen Zustands in Bezug
auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint.
Nach §
86b Abs.
2 Satz 4
SGG i.V.m. §
920 Abs.
2 Zivilprozessordnung (
ZPO) sind der Anordnungsanspruch und der Anordnungsgrund glaubhaft zu machen.
Zwischen Anordnungsgrund und Anordnungsanspruch besteht dabei eine Wechselbeziehung. An das Vorliegen des Anordnungsgrundes
sind dann weniger strenge Anforderungen zu stellen, wenn bei der Prüfung der Sach- und Rechtslage das Obsiegen in der Hauptsache
wahrscheinlich ist. Ist bzw. wäre eine in der Hauptsache erhobene Klage dagegen offensichtlich unzulässig oder unbegründet,
so ist wegen des fehlenden Anordnungsanspruches der Erlass einer einstweiligen Anordnung abzulehnen. Sind die Erfolgsaussichten
in der Hauptsache offen, kommt dem Anordnungsgrund entscheidende Bedeutung zu. Soweit existenzsichernde Leistungen in Frage
stehen, sind die Anforderungen an den Anordnungsgrund und den Anordnungsanspruch weniger streng zu beurteilen. In diesem Fall
ist ggf. auch anhand einer Folgenabwägung unter Berücksichtigung der grundrechtlichen Belange der Antragsteller zu entscheiden
(vgl. BVerfG vom 12. Mai 2005, NVwZ 2005, 927, und vom 15. Januar 2007, 1 BvR 2971/06, juris). Der Erlass einer einstweiligen Anordnung muss für die Abwendung wesentlicher Nachteile nötig sein; d. h. es muss
eine dringliche Notlage vorliegen, die eine sofortige Entscheidung erfordert (ständige Rechtsprechung des HLSG, bspw. Beschluss
vom 29. Januar 2008, L 9 AS 421/07 ER m.w.N., juris). Eine solche Notlage ist bei einer Gefährdung der Existenz oder erheblichen wirtschaftlichen Nachteilen
zu bejahen (Keller in: Meyer-Ladewig/Keller/ Leitherer,
SGG, 11. Aufl. 20014, §
86b Rdnr. 29a).
Der Antragsteller hat für die Zeit ab 18. Mai 2016 bis zum Beginn der stationären Aufenthalts einen Anordnungsanspruch glaubhaft
gemacht.
Der Antragsteller gehört zunächst - wie auch schon das Sozialgericht im mit der Beschwerde angefochtenen Beschluss ausgeführt
hat - zu dem nach §
1 Abs.
1 Nr.
5 AsylbLG leistungsberechtigten Personenkreis. Danach sind leistungsberechtigt Ausländer, die sich tatsächlich im Bundesgebiet aufhalten
und die vollziehbar ausreisepflichtig sind, auch wenn eine Abschiebungsandrohung noch nicht oder nicht mehr vollziehbar ist.
Diese Voraussetzungen erfüllt der Antragsteller, der nach Ablauf der vorbestehenden Duldung am 26. November 2015 und der Versagung
einer Aufenthaltserlaubnis bzw. weiteren Duldung vollziehbar ausreisepflichtig nach § 50 Abs. 1 AufenthG ist. Der seit Ablauf der Grenzüberschreitungsbescheinigung am 28. April 2016 bestehende illegale Aufenthalt in der Bundesrepublik
Deutschland steht der Leistungsberechtigung nach dem
AsylbLG nicht entgegen, da das Gesetz lediglich auf den tatsächlichen Aufenthalt im Bundesgebiet abstellt (§
1 Abs.
1 AsylbLG "sich tatsächlich im Bundesgebiet aufhalten"; vgl. auch Birk in: LPK-SGB XII, 10. Auflage 2015, §
1 AsylbLG Rn. 11).
Der Antragsteller hat daher Anspruch auf Grundleistungen nach §
3 Abs.
2 AsylbLG, da er sich im streitgegenständlichen Zeitraum nicht in einer Aufnahmeeinrichtung aufgehalten hat.
Die Voraussetzungen für eine Einschränkung des Leistungsanspruchs nach §
1a AsylbLG liegen nicht vor. In Betracht kommen dabei einzig Leistungseinschränkungen nach §
1a Abs.
2 AsylbLG in der seit 24. Oktober 2015 geltenden Fassung des Art. 2 Nr. 2 Asylverfahrensbeschleunigungsgesetz vom 20. Oktober 2015 (BGBl I, 1722), wonach Leistungsberechtigte nach §
1 Abs.
1 Nr.
5 AsylbLG, für die ein Ausreisetermin und eine Ausreisemöglichkeit feststehen, ab dem auf den Ausreisetermin folgenden Tag keinen Anspruch
auf Leistungen nach den §§
2,
3 und
6 AsylbLG haben, es sei denn, die Ausreise konnte aus Gründen, die sie zu vertreten haben, nicht durchgeführt werden (Satz 1). Ihnen
werden bis zu ihrer Ausreise oder der Durchführung ihrer Abschiebung nur noch Leistungen zur Deckung ihres Bedarfs an Ernährung
und Unterkunft einschließlich Heizung sowie Körper und Gesundheitspflege gewährt (Satz 2). Im Falle des Antragstellers standen
ausweislich der vom der Antragsgegnerin beigezogenen Ausländerakte und der von dieser vorgelegten Stellungnahme der Ausländerbehörde
vom 15. August 2016 vor oder im tenorierten Zeitraum weder ein Ausreisetermin noch eine Ausreisemöglichkeit fest. Der Ablauf
der sich aus der Grenzüberschreitungsbescheinigung ergebenden Frist am 28. April 2016 zur freiwilligen Ausreise reicht hierfür
bereits nach dem Wortlaut des Gesetzes ersichtlich nicht aus, da sich hieraus jedenfalls kein Ausreisetermin ergibt sondern
ein Zeitraum - die in der Bescheinigung bezeichnete Ausreisefrist. Der Ablauf einer Ausreisefrist soll indessen nach dem Willen
des Gesetzgebers gerade nicht für die Leistungskürzung ausreichen. So ergibt sich aus den Gesetzesmaterialien, dass nach dem
ursprünglichen Entwurf des Asylbeschleunigungsgesetzes die Leistungskürzung bei Leistungsberechtigten nach §
1 Abs.
1 Nr.
5 AsylbLG eintreten sollte, "denen eine Ausreisefrist nicht gewährt wurde oder bei denen diese abgelaufen ist" (Art. 2 Nr. 2 Buchst.
b) des Entwurfs eines Asylbeschleunigungsgesetzes, BR-Drs. 446/15, S. 8), dieser Normtext auf Empfehlung des federführenden
Ausschusses für Innere Angelegenheiten jedoch verworfen wurde, weil "unklar" sei, "welche Ausreisefrist konkret gemeint" sei
(BR-Drs. 446/1/15, S. 6): "Erst für vollziehbar Ausreisepflichtige, die unter keinen Umständen für ein Bleiberecht in Betracht
kommen und deren Ausreisedatum und Reisemöglichkeit feststehen" (a. a. O.) ist die Leistung auf das unabdingbar Notwendige
zu kürzen.
Für den vorgenannten Zeitraum liegt - auch wenn dieser zum Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung bereits vollständig in
der Vergangenheit liegt - auch ein Anordnungsgrund vor, da der Antragsteller, der zuvor Leistungen nach dem SGB II bzw. SGB XII bezogen hat, mittellos ist. Nach ganz h. M. sind daher Leistungen ab Eingang des Eilantrags beim Sozialgericht am 18. Mai
2015 zuzusprechen. Es würde dem Grundsatz des effektiven Rechtsschutzes aus Art.
19 Abs.
4 GG widersprechen, auf den Zeitpunkt der Entscheidung des Gerichts abzustellen (Keller in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer,
SGG, 11. Auflage 2014, §
86b Rn. 35a).
Seit der Aufnahme in die stationäre Einrichtung am 28. Juni 2016 liegt demgegenüber jedenfalls ein Anordnungsgrund nicht mehr
vor, weil das Existenzminimum nach dem eigenen Vortrag des Antragstellers seither durch die stationäre Behandlung gesichert
ist.
Entgegen der Auffassung des Antragstellers kommt eine zeitlich über den 27. Juni 2016 hinausgehende vorläufige Regelung nicht
in Betracht. Unter Berücksichtigung der nach seinen eigenen Angaben ungewissen Dauer der stationären Behandlung und des Umstands,
dass nach Angaben der Ausländerbehörde der Antragsgegnerin aufgrund der am 2. August 2016 beim Hessischen Landtag eingelegten
Petition die Erteilung einer Duldung in Betracht kommt, ist für den Senat in keiner Weise absehbar, ob die Voraussetzungen
für eine Leistungsgewährung nach Ende der Behandlung überhaupt noch unverändert bestehen. Überdies ist es dem Antragsteller
durchaus zuzumuten, sich dann ggf. erneut um existenzsichernde Leistungen zu bemühen, zumal vom rechtskonformen Verhalten
der Antragsgegnerin auszugehen ist.
Hinsichtlich des Antrags auf Prozesskostenhilfe ist die Beschwerde o. g. Gründen ebenfalls zulässig und begründet.
Die Kostenentscheidung beruht auf der entsprechenden Anwendung von §
193 SGG.
Dem bedürftigen Antragsteller ist auch für das Beschwerdeverfahren Prozesskostenhilfe zu bewilligen, §
73a SGG i. V. m. §§
114,
119 Abs.
1 Satz 2
ZPO.
Dieser Beschluss ist gemäß §
177 SGG unanfechtbar.