Versorgung mit Arzneimitteln bei lebensbedrohender, tödlich verlaufender Erkrankung
Gründe:
I
Die Beteiligten streiten über die Kostenerstattung für ein aus Kanada beschafftes chemotherapeutisches Fertigarzneimittel.
Der 1947 geborenen, bei der beklagten Krankenkasse versicherten Klägerin wurde im Juni 2002 ein Zoekumkarzinom (Tumor im Übergangsbereich
des Dickdarms zum Dünndarm) des Stadiums III (Dukes C, pT3, pN2, pMx) operativ entfernt (T3 bezeichnet die Größe des Tumors
>T1 ist das Anfangsstadium, T4 eine Größe, die nicht mehr operabel ist<; N2 weist darauf hin, dass nahe und weiter entfernte
Lymphknoten befallen waren; Mx bezeichnet einen unklaren Metastasenstatus); im Rahmen der folgenden Behandlung wurden Metastasen
nachgewiesen. Im Anschluss an die Operation erhielt die Klägerin zunächst entsprechend allgemein anerkanntem Standard eine
unterstützende (adjuvante) Chemotherapie mit dem Wirkstoff 5-Fluorouracil (5-FU). Nach der dritten Verabreichung traten bei
ihr koronarspastische Nebenwirkungen (Prinzmetal-Angina) auf, die zur Absetzung der Therapie mit 5-FU führten. Der behandelnde
Onkologe Dr. H. beantragte für die Klägerin daraufhin am 8. August 2002 bei der Beklagten die "umgehende Genehmigung"
der Behandlung der Klägerin mit dem Fertigarzneimittel Tomudex(r) (Wirkstoff Raltitrexed) in einem individuellen Heilversuch;
internationale Publikationen belegten für den speziellen Behandlungsfall Wirksamkeit und Nutzen einer solchen Therapie, für
die es aktuell keine gleichwertige Alternative gebe. Er bat um Entscheidung binnen einer Woche, da der Krankheitsverlauf keinen
Aufschub dulde und der Verzicht auf die Behandlung voraussichtlich einen erheblichen Nachteil darstelle sowie die vorzeitige
Entwicklung gravierender Folgen wahrscheinlich mache. Tomudex(r) ist arzneimittelrechtlich zwar in Kanada, aber weder in Deutschland
noch EU-weit (auch nicht in den USA) zugelassen. Nach Mitteilung des Herstellers wurden allerdings zwischen 1995 und 1998
Zulassungen zB in Belgien, Frankreich, Irland, Italien, Luxemburg, den Niederlanden, Norwegen, Spanien, Österreich und der
Schweiz erteilt.
Vom 19. August 2002 bis 24. Februar 2003 wurde die Klägerin mit neun Einheiten Tomudex(r) behandelt; beschafft wurde das Arzneimittel
über eine deutsche Apotheke, die es aus Kanada importierte. Dr. H. , der insoweit Privatrezepte ausgestellt hatte,
legte zur Bekräftigung seiner Ansicht Schreiben der Onkologen Prof. Dr. Köhne (Universität Dresden) und Prof. Dr. Schmoll
(Deutsche Krebsgesellschaft e.V.; Universität Halle) vor, die - unter Hinweis auf eine medizinische Fachveröffentlichung -
Tomudex(r) bei kardiotoxischen Nebenwirkungen von 5-FU für die einzige Behandlungsalternative hielten; ein komplettes Absetzen
der begleitenden Chemotherapie scheide aus, da dann die Überlebenschance um 33 % gemindert werde.
Nach Einschaltung des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung (MDK) und Einholung von Informationen bei der Herstellerfirma
von Tomudex(r) lehnte die Beklagte die Kostenübernahme wegen der in Deutschland fehlenden arzneimittelrechtlichen Zulassung
ab. Die Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) zum Off-Label-Use könne nicht angewandt werden, weil es keine verlässlichen
Daten zur Anwendung von Tomudex(r) bei der adjuvanten Chemotherapie gebe und Hinweise auf eine erhöhte Zahl von therapiebedingten
Todesfällen gegenüber der Standardtherapie mit 5-FU bestünden. Im Übrigen liege nach § 29 Bundesmantelvertrag-Ärzte die Verordnung
von Arzneimitteln in der Verantwortung des Vertragsarztes, sodass es einer Genehmigung der Krankenkasse nicht bedürfe (Bescheid
vom 10. September 2002; Widerspruchsbescheid vom 12. Februar 2003).
Die anschließende Klage ist in den Vorinstanzen ohne Erfolg geblieben. Das Landessozialgericht (LSG) hat die von der Klägerin
gegen das sozialgerichtliche Urteil vom 17. Mai 2004 eingelegte Berufung zurückgewiesen: Voraussetzung für den Anspruch auf
Versorgung mit Arzneimitteln sei die Zulassung des betreffenden Mittels in Deutschland bzw EU-weit, die für Tomudex(r) fehle.
Nach der Rechtsprechung des 1. Senats des BSG seien die Grundsätze für den Off-Label-Gebrauch von Arzneimitteln zu Lasten
der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) in solchen Fällen nicht anzuwenden. Bei der Klägerin liege auch keine extrem seltene
Krankheit vor, denn obwohl kardiotoxische Nebenwirkungen von 5-FU selten aufträten, sei die Grunderkrankung ausreichend erforscht
und systematisch zu behandeln. Darüber hinaus fehlten grundsätzliche Erkenntnisse, dass die Behandlung mit Tomudex(r) weniger
Nebenwirkungen mit sich bringe als diejenige mit 5-FU. Aus der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) folge
ebenfalls keine Leistungspflicht der Beklagten (Urteil vom 15. Dezember 2004).
Mit ihrer Revision rügt die Klägerin sinngemäß die Verletzung von §
13 Abs
3, §
27 Abs
1 und §
31 Abs
1 Fünftes Buch Sozialgesetzbuch (
SGB V) durch das LSG. Sie meint, der Behandlungserfolg habe ihr Recht gegeben, denn weder seien unter Tomudex(r) Nebenwirkungen
aufgetreten noch seien bis dato wieder Tumorzellen nachgewiesen worden. Sie leide an einer lebensbedrohlichen bzw ihre Lebensqualität
nachhaltig beeinträchtigenden Krankheit, ohne dass es zur Therapie mit Tomudex(r) eine Alternative gebe. Auf Grund der Zulassung
des Mittels in anderen Staaten bestehe Erfolgaussicht auf wissenschaftlicher Basis. Nach der bereits im Verwaltungsverfahren
eingereichten Studie von Prof. Dr. Köhne ua (British Journal of Cancer 1998 >77<, 973) gebe es außerdem Hinweise, dass mit
Tomudex(r) kardiotoxische Nebenwirkungen vermieden werden könnten, was sich bei ihr bestätigt habe; seine Veröffentlichung
belege die Einzigartigkeit der Komplikation. Die Gefahr eines Missbrauchs bei einem Einzelimport des Arzneimittels nach §
73 Abs 3 Arzneimittelgesetz (AMG) bestehe nicht, da kardiologische Nebenwirkungen von 5-FU ausgesprochen selten seien.
Die Klägerin beantragt,
die Urteile des Landessozialgerichts Hamburg vom 15. Dezember 2004 und des Sozialgerichts Hamburg vom 17. Mai 2004 sowie den
Bescheid der Beklagten vom 10. September 2002 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 12. Februar 2003 aufzuheben und die
Beklagte zu verurteilen, ihr 8.284,59 EUR zu zahlen.
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Sie hält das LSG-Urteil für zutreffend.
Der Senat hat beim Hersteller von Tomudex(r) Auskünfte über den Zulassungsstatus des Mittels eingeholt sowie dessen technische
Monographie (Technical Monograph International Edition, August 2000) beigezogen. Der Senat hat den Beteiligten ferner Fragen
zum Sachverhalt vorgelegt, die im Vorfeld der mündlichen Verhandlung vom 4. April 2006 bzw in der Verhandlung beantwortet
und unstreitig gestellt worden sind.
II
Die zulässige Revision der Klägerin ist begründet. Die Urteile der Vorinstanzen und die ablehnenden Bescheide der Beklagten
sind zu ändern. Die Klägerin hat gegen die Beklagte Anspruch auf Erstattung des begehrten Betrages von (noch) 8.284,59 EUR.
1. Rechtsgrundlage für die Erstattung der Kosten für das vom 19. August 2002 bis 24. Februar 2003 auf ärztliches Privatrezept
von der Klägerin selbst beschaffte Fertigarzneimittel Tomudex(r) ist §
13 Abs
3 Satz 1 Alt 1
SGB V (hier anzuwenden in der seit 1. Juli 2001 geltenden Fassung von Art 5 Nr 7 Buchst b Neuntes Buch Sozialgesetzbuch - Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen vom 19. Juni 2001, BGBl I
1046). Danach ist eine Krankenkasse zur Kostenerstattung verpflichtet, wenn sie eine unaufschiebbare Leistung nicht rechtzeitig
erbringen konnte und dem Versicherten dadurch für die selbstbeschaffte Leistung Kosten entstanden sind. Diese Voraussetzungen
sind erfüllt.
a) Der Klägerin war es angesichts der Gesamtumstände nicht zumutbar, mit dem Beginn der Behandlung bis zu einer Entscheidung
der Beklagten zu warten. Die Behandlung war daher iS von §
13 Abs
3 Satz 1 Alt 1
SGB V unaufschiebbar. Die beantragte Leistung war im Zeitpunkt ihrer tatsächlichen Erbringung so dringlich, dass aus medizinischer
Sicht keine Möglichkeit eines nennenswerten Aufschubes mehr bestand (vgl BSG SozR 3-2500 § 13 Nr 22 S 105; BSGE 73, 271, 287 = SozR 3-2500 § 13 Nr 4 S 26). Die Chemotherapie der Klägerin musste ohne längere Pause schnellstens weitergeführt werden,
um den angestrebten Behandlungserfolg nicht zu gefährden und die gute Chance auf ein Überleben trotz des fortgeschrittenen
Stadiums des Tumors zu erhalten.
b) Tomudex(r) musste der Klägerin von der Beklagten ausnahmsweise als Leistung der GKV gewährt werden.
Der nach §
13 Abs
3 SGB V in Betracht kommende Kostenerstattungsanspruch reicht nicht weiter als ein entsprechender Sachleistungsanspruch des Versicherten
gegen seine Krankenkasse. Er setzt daher im Regelfall voraus, dass die selbstbeschaffte Behandlung zu den Leistungen gehört,
welche die Krankenkassen allgemein in Natur als Sach- oder Dienstleistung zu erbringen haben (stRspr, vgl zB BSGE 79, 125, 126 f = SozR 3-2500 § 13 Nr 11 S 51 f mwN; BSGE 93, 236 = SozR 4-2500 § 27 Nr 1, jeweils RdNr 10 - Visudyne(r); BSG SozR 4-2500 § 27a Nr 1 RdNr 3 - ICSI; zuletzt: Senatsurteil vom
27. September 2005 - B 1 KR 28/03 R - extrakorporale Stoßwellentherapie). Dies ist bei dem Arzneimittel Tomudex(r) im Grundsatz nicht der Fall. Denn Fertigarzneimittel
sind mangels Zweckmäßigkeit und Wirtschaftlichkeit (§
2 Abs
1 Satz 1, §
12 Abs
1 SGB V) nicht von der Leistungspflicht der GKV nach §
27 Abs
1 Satz 2 Nr
1 und
3, §
31 Abs
1 Satz 1
SGB V umfasst, wenn ihnen die erforderliche (§ 21 Abs 1 AMG) arzneimittelrechtliche Zulassung fehlt (vgl Senatsurteil vom 4. April 2006 - B 1 KR 12/04 R - D-Ribose, RdNr 22 mwN, zur Veröffentlichung vorgesehen).
Für das zulassungspflichtige Tomudex(r) lag weder in Deutschland noch EU-weit eine solche Arzneimittelzulassung vor. Die in
einzelnen EU-Staaten und der Schweiz beschränkt auf diese Staaten erteilte Arzneimittelzulassung von Tomudex(r) entfaltete
nicht zugleich auch entsprechende Rechtswirkungen für Deutschland; denn weder das deutsche Recht noch das Europarecht sehen
eine solche Erweiterung der Rechtswirkungen der nur von nationalen Behörden erteilten Zulassungen ohne ein entsprechend vom
Hersteller eingeleitetes sowie positiv beschiedenes Antragsverfahren vor (vgl im Einzelnen BSGE 93, 1 = SozR 4-2500 § 31 Nr 1, jeweils Leitsatz und RdNr 11 ff - Immucothel(r)). Damit kam mangels Zulassung von Tomudex(r) seine
zulassungsüberschreitende Anwendung (vgl dazu BSGE 89, 184 ff = SozR 3-2500 § 31 Nr 8 - Sandoglobulin(r)) ebenfalls von vornherein nicht in Betracht (BSGE 93, 1 = SozR aaO, jeweils RdNr 22).
c) Die einschlägigen Regelungen des Leistungsrechts der GKV zur Arzneimittelversorgung bedürfen jedoch in Fällen der vorliegenden
Art auf Grund des Beschlusses des BVerfG vom 6. Dezember 2005 (1 BvR 347/98 - SozR 4-2500 § 27 Nr 5 = NZS 2006, 84 = NJW 2006, 891 = MedR 2006, 164 - immunbiologische Therapie) auch im Arzneimittelbereich (dazu unter 2.) einer weiter gehenden verfassungskonformen Auslegung.
Diese Auslegung hat zur Folge, dass die Anspruchsvoraussetzungen von §
27 Abs
1 Satz 2 Nr
3 und §
31 Abs
1 Satz 1
SGB V in Fällen wie dem der Klägerin ausnahmsweise bejaht werden müssen. Die Klägerin litt an einer lebensbedrohlichen Erkrankung,
bei der die Anwendung der üblichen Standard-Behandlung mit 5-FU aus medizinischen Gründen ausschied und andere Behandlungsmöglichkeiten
nicht zur Verfügung standen. Der Vertragsarzt Dr. H. durfte daher in diesem medizinisch begründeten Einzelfall
Tomudex(r) ausnahmsweise auf Kosten der Beklagten verordnen, obwohl das Mittel bloß gemäß § 73 Abs 3 AMG im Wege des Einzelimports über eine Apotheke aus Kanada beschafft und deshalb an sich von der Versorgung ausgeschlossen war
(vgl oben 1.b). Die Behandlung war bei der Klägerin "notwendig" iS von §
27 Abs
1 Satz 1
SGB V, um die Verschlimmerung ihrer Krankheit zu verhüten.
2. Die vom BVerfG zum Anspruch von Versicherten auf ärztliche Behandlung mit nicht allgemein anerkannten Methoden im Beschluss
vom 6. Dezember 2005 (1 BvR 347/98, aaO) entwickelten Grundsätze gelten sinngemäß auch im Bereich der Versorgung mit Arzneimitteln.
a) Das BVerfG hat in dem genannten Beschluss zu einer ärztlichen Behandlungsmethode das Urteil des Senats vom 16. September
1997 (BSGE 81, 54 = SozR 3-2500 § 135 Nr 4) aufgehoben und entschieden, dass es mit den Grundrechten aus Art
2 Abs
1 in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip und aus Art
2 Abs
2 Satz 1
Grundgesetz nicht vereinbar ist, einen gesetzlich Krankenversicherten, für dessen lebensbedrohliche oder regelmäßig tödliche Erkrankung
eine allgemein anerkannte, medizinischem Standard entsprechende Behandlung nicht zur Verfügung steht, generell von der Gewährung
einer von ihm gewählten, ärztlich angewandten Behandlungsmethode auszuschließen, wenn eine nicht ganz entfernt liegende Aussicht
auf Heilung oder auf eine spürbare positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf besteht. Der Beschluss beanstandet insoweit
eine verfassungswidrige Auslegung im Grundsatz verfassungsgemäßer Vorschriften des
SGB V durch das BSG.
Eine Leistungsverweigerung der Krankenkasse unter Berufung darauf, eine bestimmte neue ärztliche Behandlungsmethode sei im
Rahmen der GKV ausgeschlossen, weil der zuständige Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA, vgl §
91 SGB V) diese noch nicht anerkannt oder sie sich zumindest in der Praxis und in der medizinischen Fachdiskussion noch nicht durchgesetzt
hat (zusammenfassend BSGE 94, 221 RdNr 23 = SozR 4-2400 § 89 Nr 3 RdNr 24 mwN), verstößt nach dieser Rechtsprechung des BVerfG gegen das
Grundgesetz, wenn folgende drei Voraussetzungen kumulativ erfüllt sind:
-
Es liegt eine lebensbedrohliche oder regelmäßig tödlich verlaufende Erkrankung vor (dazu unter 4.a).
-
Bezüglich dieser Krankheit steht eine allgemein anerkannte, medizinischem Standard entsprechende Behandlung nicht zur Verfügung
(dazu unter 4.b).
-
Bezüglich der beim Versicherten ärztlich angewandten (neuen, nicht allgemein anerkannten) Behandlungsmethode besteht eine
"auf Indizien gestützte" nicht ganz fern liegende Aussicht auf Heilung oder wenigstens auf eine spürbare positive Einwirkung
auf den Krankheitsverlauf (BVerfG, aaO, RdNr 64 = SozR, aaO, RdNr 33; dazu unter 9.).
b) Sachliche Gründe dafür, bei Vorliegen der oben genannten Voraussetzungen danach zu differenzieren, ob der krankenversicherungsrechtliche
Anspruch des Versicherten auf eine bestimmte Art der ärztlichen Behandlung oder auf die Versorgung mit einem Arzneimittel
gerichtet ist, sind nicht ersichtlich, weil die verfassungsrechtliche Problematik sich unabhängig davon stellt, welche konkrete
Leistungsart des
SGB V im Streit ist. Dies wird im Übrigen dadurch bestätigt, dass das BVerfG in seinem Beschluss vom 6. Dezember 2005 in zustimmender
Weise das Urteil des 1. Senats des BSG vom 19. Oktober 2004 (BSGE 93, 236 = SozR 4-2500 § 27 Nr 1 - Visudyne(r)) zitiert hat (aaO, RdNr 67 = SozR, aaO, RdNr 36), bei dem es - wie im vorliegenden
Fall - (auch) um die Anwendung eines Fertigarzneimittels gegangen war. In diesem Urteil hat der erkennende Senat bereits selbst
auf die Notwendigkeit hingewiesen, dass Maßnahmen zur Behandlung einer Krankheit, die so selten auftritt, dass ihre systematische
Erforschung praktisch ausscheidet, vom Leistungsumfang der GKV nicht allein deshalb ausgeschlossen sind, weil das bei der
Behandlung verwendete, in Deutschland nicht zugelassene Arzneimittel im Einzelfall aus dem Ausland beschafft werden muss.
Der erkennende Senat überträgt daher die vom BVerfG zum Anspruch von Versicherten auf ärztliche Behandlung mit nicht allgemein
anerkannten Methoden entwickelten Grundsätze sinngemäß auch auf den Bereich der Versorgung mit Arzneimitteln.
3. Bei der sinngemäßen Übertragung der vom BVerfG entwickelten Grundsätze auf den Arzneimittelbereich ist allerdings eine
verfassungskonforme Auslegung nur derjenigen Normen des
SGB V geboten, die einem verfassungsrechtlich begründeten Anspruch auf Arzneimittelversorgung entgegenstehen. Dagegen bleibt die
Prüfung der allgemeinen Voraussetzungen des
SGB V für einen Leistungsanspruch auch unter Berücksichtigung der Verfassungsmäßigkeit eines abgeschlossenen Leistungskatalogs
der GKV-Leistungen (vgl dazu Senatsurteil vom 4. April 2006 - B 1 KR 12/04 R - D-Ribose, RdNr 28 ff mwN, zur Veröffentlichung vorgesehen) unberührt (vgl dazu 5.).
Die vom BVerfG entwickelten Maßstäbe auf den Bereich der Arzneimittelversorgung anzuwenden bedeutet auch, zu berücksichtigen,
dass die verfassungsrechtlichen Schutzpflichten den Leistungsansprüchen Versicherter selbst im Falle regelmäßig tödlich verlaufender
Krankheiten Grenzen setzen. Das hat das BVerfG betont, indem es in seinem Beschluss vom 6. Dezember 2005 (aaO RdNr 57 bzw
SozR, aaO, RdNr 26) herausgestellt hat, dass es mit der Verfassung in Einklang steht, die Konkretisierung der Leistungen vor
allem den Ärzten vorzubehalten (§
15 Abs
1 SGB V), und dass dementsprechend gerade die ärztliche Einschätzung der Behandlungschancen maßgeblich ist. Damit bezieht es in einem
umfassenden Sinne die Regeln der ärztlichen Kunst in die Vorgaben für eine verfassungskonforme Auslegung des
SGB V mit ein. Dem entspricht es, für den Bereich der Arzneimittel die spezifischen Sicherungen auch des Arzneimittelrechts in
den Blick zu nehmen.
a) Der Senat kann bei der Umsetzung des Beschlusses des BVerfG vom 6. Dezember 2005 nicht außer Acht lassen, dass die vom
BVerfG betonten verfassungsrechtlichen Schutzpflichten (aaO, RdNr 65 = SozR, aaO, RdNr 34) nicht nur die leistungserweiternde
Konkretisierung der Leistungsansprüche der Versicherten bestimmen. Diese Schutzpflichten sollen die Versicherten auch davor
bewahren, auf Kosten der GKV mit zweifelhaften Therapien behandelt zu werden, wenn auf diese Weise eine nahe liegende, medizinischem
Standard entsprechende Behandlung nicht wahrgenommen wird. Ebenso wenig darf die Rechtsprechung des BVerfG dazu führen, dass
unter Berufung auf sie im Einzelfall Rechte begründet werden, die bei konsequenter Ausnutzung durch die Leistungsberechtigten
institutionelle Sicherungen aushebeln, die der Gesetzgeber gerade im Interesse des Gesundheitsschutzes der Versicherten und
der Gesamtbevölkerung errichtet hat.
b) Um die Notwendigkeit der Krankenbehandlung iS von §§
27,
31 SGB V mit einem nicht zugelassenen, aus dem Ausland importierten Arzneimittel trotz der Anforderungen des §
2 Abs
1 und §
12 Abs
1 SGB V über die bisherige BSG-Rechtsprechung hinaus bejahen zu können, müssen daher neben der nach dem BVerfG erforderlichen Krankheitssituation
(dazu unter 4.a und 4.b) und den allgemeinen krankenversicherungsrechtlichen Erfordernissen (dazu 5.) folgende Voraussetzungen
erfüllt sein:
-
Es darf kein Verstoß gegen das Arzneimittelrecht vorliegen (dazu 6.).
-
Unter Berücksichtigung des gebotenen Wahrscheinlichkeitsmaßstabes (vgl dazu 7.a) überwiegt bei der vor der Behandlung erforderlichen
sowohl abstrakten als auch speziell auf den Versicherten bezogenen konkreten Analyse und Abwägung von Chancen und Risiken
der voraussichtliche Nutzen (vgl dazu 7.b bis d).
-
Die - in erster Linie fachärztliche - Behandlung muss auch im Übrigen den Regeln der ärztlichen Kunst entsprechend durchgeführt
und ausreichend dokumentiert werden (dazu unter 8.).
Ist diesen Kriterien genügt, bietet die Arzneimitteltherapie im Sinne der Rechtsprechung des BVerfG hinreichende Aussicht
auf Erfolg (dazu unter 9.). Zusätzlich muss - im Sinne einer allgemeinen, aber zweckmäßig erst nach Darstellung der Nutzen-Risiko-Analyse
zu prüfenden Voraussetzung - sichergestellt sein, dass der Versicherte nach der erforderlichen ärztlichen Aufklärung ausdrücklich
in die beabsichtigte Behandlung eingewilligt hat (dazu unter 10.; zum Ganzen ähnlich in Bezug auf den Behandlungsanspruch
des Versicherten allgemein: Francke/Hart, MedR 2006, 131, 133 ff, die eine Lösung allerdings aus den Grundsätzen zum medizin- bzw arzthaftungsrechtlichen Institut des individuellen
Heilversuchs herleiten, ferner bereits Hart, MedR 1994, 94 ff).
4. Vorliegend handelt es sich um eine Krankheitssituation, für die das BVerfG eine verfassungskonforme Auslegung der Vorschriften
des
SGB V im oben unter 2. aufgezeigten Sinne gefordert hat.
a) Die Klägerin litt (auch) nach der im Juni 2002 durchgeführten Operation an einer lebensbedrohlichen Erkrankung. Das bei
ihr zunächst operativ und dann chemotherapeutisch behandelte Dickdarm-Karzinom befand sich nicht mehr im Anfangsstadium (zu
einem solchen Fall: Senatsurteil vom 4. April 2006 - B 1 KR 12/05 R - interstitielle Brachytherapie mit Permanent-Seeds bei Prostatakarzinom, zur Veröffentlichung in SozR vorgesehen), sondern
war bereits mindestens bis zum Stadium III gewachsen. Nach der operativen Entfernung des Tumors und der verbundenen Lymphknoten
war die statistische Überlebenswahrscheinlichkeit auf Grund des fortgeschrittenen Stadiums und der unklaren Situation in Bezug
auf Fernmetastasen erheblich herabgesetzt.
b) Um entsprechend den Zielen der 5-FU-Therapie die Bildung von Fernmetastasen und das Wiederauftreten des Tumors zu verhindern,
standen Methoden, die dem allgemein anerkannten Stand der medizinischen Erkenntnisse entsprachen, im Zeitpunkt der Behandlung
im Jahre 2002/2003 nicht zur Verfügung. Weder gab es insoweit für die konkret erforderliche Behandlung ein zugelassenes Arzneimittel
noch konnte im Rahmen eines zulässigen Off-Label-Gebrauchs ein Mittel eingesetzt werden, mit dem mit hinreichender Erfolgsaussicht
zumindest eine Verzögerung des Krankheitsverlaufs hätte erreicht werden können. Fälle, in denen überhaupt keine Behandlungsmethode
zur Verfügung steht, stehen dabei jenen Fällen gleich, bei denen es zwar grundsätzlich eine solche anerkannte Methode gibt,
diese aber bei dem konkreten Versicherten wegen des Bestehens gravierender gesundheitlicher Risiken nicht angewandt werden
kann (ähnlich schon zum Anspruch auf Auslandsbehandlung: BSG SozR 3-2500 § 18 Nr 1 S 2). Letzteres ist insbesondere dann der
Fall, wenn schwerwiegende Nebenwirkungen (vgl deren Definition in Art 1 Nr 11 der "Richtlinie 2001/83/EG des Europäischen
Parlaments und des Rates vom 6. November 2001 zur Schaffung eines Gemeinschaftskodexes für Humanarzneimittel", ABl L 311,
S 67) auftreten, die eine weitere Anwendung der Standard-Arzneimitteltherapie ausschließen, und auch die Anwendung eines (weiteren)
anderen anerkannten Arzneimittels ausscheidet. Solche Nebenwirkungen ergaben sich bei der Klägerin bei der Standardtherapie
mit 5-FU. Die bei der Klägerin aufgetretene Prinzmetal-Angina bewirkte, dass 5-FU kontraindiziert war und abgesetzt werden
musste. Eine andere "schulmäßige" Arzneimitteltherapie stand für ihre Behandlung ebenfalls nicht erkennbar zur Verfügung.
Die Möglichkeit, die Chemotherapie vollständig zu beenden, kam aus medizinischen Gründen nicht in Betracht.
5. Bis auf die fehlende Arzneimittelzulassung sind alle weiteren allgemeinen Voraussetzungen für eine Leistungspflicht der
GKV erfüllt.
Entsprechend §
15 Abs
1 SGB V wurde Tomudex(r) der Klägerin ärztlich verordnet. Wie von §
31 Abs
1 Satz 1
SGB V (idF durch Art 1 Nr 8 Buchst a des Gesetzes vom 23. Juni 1997, BGBl I 1520) verlangt, war die Klägerin bei der Beklagten versichert, Tomudex(r)
ein apothekenpflichtiges Arzneimittel (§ 43 Abs 3 AMG) und als solches nicht nach §
34 SGB V ausgeschlossen. Es unterfiel weder dem Katalog des §
34 Abs
1 SGB V noch der Verordnung über unwirtschaftliche Arzneimittel in der GKV (hier anzuwenden mit den Änderungen durch die Verordnung
vom 16. November 2000, BGBl I 1593). Es wurde auch nicht im Rahmen einer Arzneimittelstudie verabreicht (zum grundsätzlichen
Ausschluss solcher Mittel vgl BSGE 93, 137 ff = SozR 4-2500 § 137c Nr 2).
6. Der Import von Tomudex(r) aus Kanada und der Bezug von Tomudex(r) verstieß nicht gegen das Arzneimittelrecht.
a) Das allgemein geltende, dem Gesundheitsschutz dienende innerstaatliche arzneimittelrechtliche Zulassungserfordernis darf
durch eine vermeintlich "großzügige", im Interesse des einzelnen Versicherten erfolgende richterrechtliche Zuerkennung von
Ansprüchen auf Versorgung mit einem bestimmten Arzneimittel nicht faktisch systematisch unterlaufen und umgangen werden. Ein
solches Vorgehen wäre nämlich sowohl mit einem inakzeptablen unkalkulierbaren Risiko etwaiger Gesundheitsschäden für den betroffenen
Versicherten behaftet als auch mit einer nicht gerechtfertigten Ausweitung der Leistungspflicht zu Lasten der übrigen Versicherten
verbunden. Solche Auswirkungen dürfen einer Versichertengemeinschaft nicht aufgebürdet werden, die die Behandlung - typischerweise
unter Anwendung des Instruments der Versicherungspflicht, also zwangsweise - finanziert (vgl schon BSGE 89, 184, 190 = SozR 3-2500 § 31 Nr 8 S 34; zuletzt: Senats-Urteil vom 27. September 2005 - B 1 KR 6/04 R - SozR 4-2500 § 31 Nr 3 RdNr 25 Wobe-Mugos E, auch zur Veröffentlichung in BSGE vorgesehen). Eine Ausweitung der Ansprüche
der Versicherten der GKV auf Arzneimittel, die deutschen arzneimittelrechtlichen Zulassungsstandards nicht genügen, muss mithin
auf eng umgrenzte Sachverhalte mit notstandsähnlichem Charakter begrenzt bleiben (vgl schon BSGE 93, 236 = SozR 4-2500 § 27 Nr 1 - Visudyne(r), jeweils RdNr 27). Die Voraussetzungen für eine derartige notstandsähnliche Situation
liegen hier vor (vgl oben 4.a und b).
b) Arzneimittelrechtlich war für Tomudex(r) weder die Zulassung förmlich abgelehnt noch gemäß § 30 AMG zurückgenommen, widerrufen oder ruhend gestellt worden. Der Import von Tomudex(r) widersprach im Falle der Klägerin auch
nicht dem Gesetz und erfüllte keinen Straf- oder Ordnungswidrigkeiten-Tatbestand; denn die Einfuhr durch eine Apotheke entsprach
den Voraussetzungen für den Einzelimport eines weder in Deutschland noch EU-weit zugelassenen Arzneimittels nach § 73 Abs 3 AMG (in den im Zeitpunkt der streitigen Behandlung maßgeblichen Fassungen vom 26. Juli 1999 >BGBl I, S 1666< und vom 21. August
2002 - BGBl I, S 3352). Diese Regelung erlaubt die Einfuhr von Fertigarzneimitteln in geringen Mengen und auf Bestellung einzelner
Personen im Rahmen des üblichen Apothekenbetriebs, wenn sie in dem Staat in den Verkehr gebracht werden dürfen, aus dem sie
nach Deutschland verbracht werden, und von Apotheken bestellt worden sind. Arzneimittelrechtlich muss dabei allgemein gewährleistet
sein, dass der Verkauf oder die Verabreichung des Arzneimittels nicht gesetz- und verbotswidrig ist (stRspr, zB BSGE 93, 1 = SozR 4-2500 § 31 Nr 1, jeweils RdNr 22). Auch diese Voraussetzung war hier erfüllt.
Das von der Klägerin im Einzelfall unter Vorlage eines Rezepts von Dr. H. beschaffte Mittel Tomudex(r) verfügte
über eine Zulassung in mehreren EG-Staaten, sodass es zumindest den Kriterien des europäischen Rechts für die Zulassung von
Arzneimitteln in den einzelnen Mitgliedstaaten nach Art 4 ff Richtlinie 65/65/EWG (ABl S 369; jetzt Art 6 ff Richtlinie 2001/83/EG
>ABl L 311 S 67<) entsprach. Es wurde nur in der jeweils benötigten Menge und nicht auf Vorrat eingeführt. In Kanada, von
wo aus das Arzneimittel importiert wurde, ist Tomudex(r) zugelassen und verkehrsfähig. Wie der Senat bereits in seinem Visudyne(r)-Urteil
(BSGE 93, 236 = SozR 4-2500 § 27 Nr 1, jeweils RdNr 25, 18) ausgeführt hat, kann - wie hier - bei Vorliegen eines internationalen Abkommens
zur Gute-Labor- bzw Gute-Herstellungspraxis von Arzneimitteln von der Einhaltung des notwendigen Mindeststandards der erforderlichen
Produktmittelsicherheit in der Regel ausgegangen werden (vgl hier speziell insoweit Abkommen zwischen der EG und Kanada über
die gegenseitige Anerkennung vom 20. Juli 1998 98/566/EG >ABl L 280 S 1< mit sektoralem Anhang Nr 6 über die Gute Herstellungspraxis
für Arzneimittel S 37, in Kraft getreten am 1. November 1998 >ABl L 280 S 66<, abgedruckt bei Kloesel/Cyran, Arzneimittelrecht
Kommentar, Bd X, EU 120).
7. Die vor der Behandlung mit einem Arzneimittel der vorbeschriebenen Art regelmäßig erforderliche abstrakte und konkret auf
den Versicherten bezogene Nutzen-Risiko-Analyse musste im Falle der Klägerin unter Beachtung des gebotenen Wahrscheinlichkeitsmaßstabes
positiv ausfallen.
a) Der Wahrscheinlichkeitsmaßstab, der zu verlangen ist, um davon ausgehen zu dürfen, dass die behaupteten Behandlungserfolge
mit hinreichender Sicherheit dem Einsatz gerade der streitigen Behandlung zugerechnet werden können und das einzugehende Risiko
vertretbar ist, unterliegt Abstufungen je nach der Schwere und dem Stadium der Erkrankung.
Dabei sind Differenzierungen im Sinne der Geltung abgestufter Evidenzgrade nach dem Grundsatz vorzunehmen "je schwerwiegender
die Erkrankung und 'hoffnungsloser' die Situation, desto geringere Anforderungen an die 'ernsthaften Hinweise' auf einen nicht
ganz entfernt liegenden Behandlungserfolg" (mit ähnlicher Tendenz schon: Di Fabio, Risikoentscheidungen im Rechtsstaat, 1994,
179; Laufs, in: Laufs/Uhlenbruck, Handbuch des Arztrechts, 3. Aufl 2002, § 130 RdNr 23). Anhaltspunkte zur Entwicklung solcher
Abstufungen können die in der Richtlinie des G-BA über die Bewertung medizinischer Untersuchungs- und Behandlungsmethoden
niedergelegten Grundsätze bieten (idF vom 1. Dezember 2003 >BAnz 2004 S 5678<, zuletzt geändert am 18. Oktober 2005 >BAnz
2006 S 107<; seit 1. April 2006 "Richtlinie zu Untersuchungs- und Behandlungsmethoden in der vertragsärztlichen Versorgung"
>BUB-RL< idF vom 17. Januar 2006 >BAnz S 1523<; die BUB-RL ist allerdings für den Bereich des Einsatzes von Fertigarzneimitteln
nicht unmittelbar anwendbar, vgl zuletzt BSGE 94, 221 RdNr 30 = SozR 4-2400 § 89 Nr 3 RdNr 31 mwN), ebenso die Verfahrensordnung des G-BA (vom 20. September 2005, BAnz 2005, S
16998). Danach können als Beurteilungsgrundlage beim Fehlen anderer Studien auch "Assoziationsbeobachtungen, pathophysiologische
Überlegungen, deskriptive Darstellungen, Einzelfallberichte, u.Ä.; nicht mit Studien belegte Meinungen anerkannter Experten,
Berichte von Expertenkomitees und Konsensuskonferenzen" in Betracht kommen (vgl § 9 Abs 3 Punkt IV BUB-RL, § 18 Abs 2 Punkt
IV und Abs 3 Punkt IV; § 20 Abs 2 Verfahrensordnung).
b) Bei der erforderlichen Gegenüberstellung von (angenommenem) Nutzen der Behandlung und dem Risiko schädlicher Nebenwirkungen
kann für die Notwendigkeit der Durchführung einer nicht durch allgemein anerkannte wissenschaftliche Erkenntnisse gesicherten
Behandlung sprechen, dass das anzuwendende Arzneimittel bereits in einem einzelnen anderen EU-Mitgliedstaat bzw einem vergleichbaren
Abkommensstaat unter Beachtung der europarechtlich im Arzneimittelbereich geltenden Richtlinien-Vorgaben zugelassen worden
ist. Umgekehrt müsste die abstrakte Risiko-Nutzen-Abwägung für ein Arzneimittel negativ verlaufen, wenn auf Grund der Versagensgründe
des § 25 Abs 2 Satz 1 Nr 3 bis 5a und 7 AMG bereits eine ablehnende Zulassungsentscheidung des Bundesinstitutes für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) ergangen
ist und sich zwischenzeitlich keine neuen Erkenntnisse ergeben haben. Sofern das BfArM die Zulassung eines Arzneimittels aus
einem der genannten Gründe versagt oder die Zulassung widerrufen, zurückgenommen oder dessen Ruhen nach § 30 AMG angeordnet hat, hat es nämlich die Risiken und den Nutzen des konkreten Arzneimittels geprüft und als nicht ausreichend nachgewiesen
angesehen (vgl schon BSGE 72, 252 ff = SozR 3-2200 § 182 Nr 17 - Goldnerz-Aufbaucreme; BSG SozR 3-2500 § 31 Nr 3 - Edelfosin; BSG SozR 3-2500 § 31 Nr 7; BSGE
94, 213 ff = SozR 4-5570 § 30 Nr 1 - Tasmar(r), auch zur Veröffentlichung in SozR vorgesehen). Entsprechendes gilt, wenn für ein
Arzneimittel im Rahmen der zentralen oder dezentralen Zulassung auf EU-Ebene die Zulassung verweigert wurde. - Solche negativen
Zulassungsentscheidungen sind bezüglich Tomudex(r) nicht festgestellt worden oder sonst ersichtlich.
Speziell bei der Arzneimittelversorgung müssen die vorhandenen Erkenntnisse abstrakt die Annahme rechtfertigen, dass mit der
geplanten Arzneimitteltherapie der angestrebte Erfolg erreicht werden kann und zwar in dem Sinne, dass die Anwendung des Arzneimittels
- unter Berücksichtigung von Spontanheilung und wirkstoffunabhängigen Effekten - eher zu einem therapeutischen Erfolg führt
als seine Nichtanwendung (ähnlich schon BVerwGE 94, 215, Leitsatz 2 und 219 = Buchholz 418.32 AMG Nr 25 = NJW 1994, 2433 >zu den Anforderungen an die Begründung der therapeutischen Wirksamkeit eines Arzneimittels nach § 25 Abs 2 Satz 1 Nr 4 AMG<).
Eine positive Auswirkung auf den Krankheitsverlauf ist zu bejahen, wenn zumindest das Fortschreiten der Krankheit aufgehalten
oder Komplikationen verhindert werden. Fehlen theoretisch-wissenschaftliche Erklärungsmuster, kann im Einzelfall bei vertretbaren
Risiken auch die bloße ärztliche Erfahrung für die Annahme eines Behandlungserfolgs entscheidend sein, wenn sich diese Erkenntnisse
durch andere Ärzte in ähnlicher Weise wiederholen lassen (so schon zur Auslandsbehandlung BSGE 84, 90, 97 = SozR 3-2500 § 18 Nr 4 S 20).
c) Die Anwendung von Tomudex(r) war abstrakt in Bezug auf die Schwere der zu behandelnden Erkrankung bei einem plausiblen
Nutzen mit Risiken verbunden, die insgesamt vertretbar waren. Dass Tomudex(r) in keinem Staat für die begleitende Chemotherapie
zugelassen wurde, ändert daran nichts. Die Anwendung außerhalb seiner ausländischen Zulassungen für die palliative und kurative
Chemotherapie war nicht rechtswidrig. Zwar wurde 1999 eine groß angelegte Studie zur begleitenden Chemotherapie mit Tomudex(r)
abgebrochen, nachdem mehrere Todesfälle aufgetreten waren. Bei der Mehrzahl der Fälle war aber anscheinend die Therapieanleitung
nicht beachtet worden. Deshalb wurde in der Folge in der medizinischen Wissenschaft weiterhin die Anwendung von Tomudex(r)
auch in der adjuvanten Therapie befürwortet, da die Gründe für die Todesfälle und der Erfolg von Tomudex(r) weiterer Überprüfung
bedurften und die vorliegenden abgeschlossenen Studien den Einsatz von Tomudex(r) rechtfertigten (vgl Stellungnahmen von Prof.
Dr. Köhne vom 30. August 2002 und von Prof. Dr. Schmoll vom 3. September 2002; vgl auch Bericht "Drug-company decision to
end cancer trial" in: The Lancet 354 >1999<, 1045).
d) Auch die konkrete Risiko-Nutzen-Abwägung des behandelnden Arztes durfte in objektiv nicht zu beanstandender Weise zu Gunsten
der Klägerin ausfallen.
Die Behandlung mit Tomudex(r) versprach mit der gebotenen Wahrscheinlichkeit entsprechend der Einschätzung des behandelnden
Arztes Dr. H. , der als internistischer Onkologe umfassende Erfahrung bei der Behandlung mit Zytostatika hatte,
auch den bereits mit der 5-FU-Therapie erstrebten Behandlungserfolg für die Tumorerkrankung der Klägerin. Seine Einschätzung
stützte sich auf eigene Erkenntnisse und Erwägungen, die Angaben der Experten Prof. Dr. Schmoll und Prof. Dr. Köhne gegenüber
dem MDK und auf die zu Tomudex(r) veröffentlichten Studien, in denen dessen Einsatz im Vergleich mit 5-FU bzw seinen Vorformen
überprüft worden war. Daraus ergab sich - bei Einhaltung der Dosierungsempfehlungen - für Tomudex(r) ein der Behandlung mit
5-FU ähnliches Erfolgs- und Risikoprofil (vgl Technische Monographie Tomudex(r) S 18 ff; Van Custem et al, Annals of Oncology
13 >2002<, 513 f; Tumorzentrum Freiburg, Empfehlungen zur standardisierten Diagnostik, Therapie und Nachsorge - Kolorektales
Karzinom, 2000, unter 3.2.3, im Internet recherchiert im Februar 2006 unter: www.tumorzentrum-freiburg.de/medizinEURinfo/kolorektalEURkarzinom.htm).
Vor dem Hintergrund der hohen Wahrscheinlichkeit eines tödlichen Krankheitsverlaufs in naher Zeit ohne 5-FU oder eine entsprechende
Therapie und bei vertretbaren Risiken des kontrollierten Einsatzes von Tomudex(r) reichen erhebliche ernsthafte Hinweise auf
einen individuellen Wirkungszusammenhang aus, während der Nachweis eines generellen Wirkungszusammenhangs, wie er in Regelfällen
erforderlich ist (vgl BSGE 76, 194, 198 f = SozR 3-2500 § 27 Nr 5 S 11 f - Remedacen), nicht verlangt werden kann. Solche Hinweise können sich aus einem Vergleich
des betroffenen Versicherten mit dem Zustand anderer ähnlich erkrankter Patienten ergeben, wobei die Erfahrungen einer länger
andauernden Behandlung Folgerungen für die Wirksamkeit erlauben können. Abgestellt werden kann dabei auf die fachliche Einschätzung
der Wirksamkeit der Methode durch den behandelnden Arzt unter Mitberücksichtigung der wissenschaftlichen Diskussion im betroffenen
Fachgebiet.
Trotz Fehlens von Phase-III-Studien zur Frage, ob Tomudex(r) geringere kardiotoxische Nebenwirkungen aufwies als 5-FU, ergab
sich aus den veröffentlichten Erfahrungen anderer Ärzte, dass Patienten, bei denen es unter 5-FU zu kardiologischen Nebenwirkungen
gekommen war, die Behandlung mit Tomudex(r) nebenwirkungsfrei überstanden hatten (Köhne et al, British Journal of Cancer >1998<
77 >6<, 973; Küchenmeister et al, Strahlentherapie und Onkologie 2000 >176< 560, 563; Mross/Semsek, Praxis 2001 >90<, 497,
500; aus jüngerer Zeit: Vanhoefer/Köhne, DÄBl 2003, A-705, 706; Ng/Cunningham/Norman, European Journal of Cancer 41 >2005<,
1542, 1545). Bekannte Risikofaktoren von Tomudex(r) in Bezug auf die Nierenfunktion der behandelten Patienten (Technische
Monographie Tomudex(r), S 36, 68 und Produktinformation) konnten bei der Klägerin ausgeschlossen werden, sodass das Risiko
bei ihr im Wesentlichen insoweit demjenigen von 5-FU entsprach.
8. Die Arzneimittel-Therapie wurde im Falle der Klägerin nach den Regeln der ärztlichen Kunst durch einen erfahrenen Onkologen
durchgeführt und dokumentiert.
Die Behandlung mit einem nicht in Deutschland und EU-weit zugelassenen Arzneimittel auf Kosten der GKV muss in Fällen der
streitigen Art regelmäßig durch einen Facharzt bzw einen in gleicher Weise einschlägig qualifizierten Arzt durchgeführt werden.
Bei der Anwendung von Arzneimitteln, die toxische Nebenwirkungen erwarten lassen, wie dies typischerweise bei Zytostatika
der Fall ist, kann zudem erforderlich sein, dass der behandelnde Arzt im Umgang mit entsprechenden Arzneimitteln erfahren
ist. Der behandelnde Arzt muss die Behandlung verantworten (vgl §
15 Abs
1 SGB V) und die Regeln der ärztlichen Kunst bei der Durchführung der Behandlung einhalten (vgl §
28 Abs
1 Satz 1
SGB V). Das setzt auch eine hinreichende Dokumentation der Behandlung und die Vornahme von Kontrollen und gebotenen Sicherheitsvorkehrungen
voraus (zB durch Überwachung geeigneter medizinischer Parameter oder Verordnung von stationärer Behandlung bei Realisierung
von Gefahren), um das Risiko für den Patienten gering zu halten und bei Bedarf schnell reagieren zu können (vgl schon Hart,
MedR 1994, 94, 96).
Die von Dr. H. durchgeführte Behandlung der Klägerin entsprach diesem Standard. Er überprüfte kontinuierlich und
engmaschig ihr Blutbild sowie ihre Leber- und Nierenwerte und nahm begleitende Untersuchungen vor, um das Risiko von Tomudex(r)
abschätzen zu können. Es gibt keine Anhaltspunkte dafür, dass er Tomudex(r) anders anwandte als es den Anweisungen des Herstellers
entsprach. Eine stationäre Aufnahme der Klägerin zur Behandlung mit Tomudex(r) war bei alledem nicht angezeigt. Schließlich
bestehen keine Hinweise darauf, dass Dr. H. die Blutwerte der Klägerin und die Wirkung von Tomudex(r) nicht ausreichend
beobachtete oder dass bei ihr ein risikoerhöhender reduzierter Allgemeinzustand (vgl Technische Monographie Tomudex(r), S
31 ff) vorlag. Die Behandlung wurde umfassend ärztlich dokumentiert.
9. Bei der Arzneimittel-Therapie mit Tomudex(r) lag nach alledem die vom BVerfG geforderte auf Indizien gestützte, nicht ganz
fern liegende Aussicht auf Heilung bzw auf eine positive Einwirkung auf den weiteren Krankheitsverlauf vor. Denn der voraussichtliche
Nutzen des Einsatzes von Tomudex(r) überwog bei der abstrakten und konkreten, speziell auf die Klägerin bezogenen Abwägung
gegenüber den Risiken unter Beachtung des gebotenen Wahrscheinlichkeitsmaßstabs. Tomudex(r) wurde - wie bereits dargelegt
- auch im Übrigen bei der Klägerin entsprechend den Regeln der ärztlichen Kunst und bei ausreichender ärztlicher Dokumentation
ohne Verstoß gegen das Arzneimittelrecht eingesetzt.
10. Dem Schutz der Klägerin als Patientin und ihrem Selbstbestimmungsrecht wurde bei der Arzneimitteltherapie mit Tomudex(r)
schließlich durch ausreichende ärztliche Information Rechnung getragen.
Versicherte müssen der konkreten Heilbehandlung in Kenntnis ihrer Art und Bedeutung zugestimmt haben. Hierzu finden sich für
die Arzneimittelprüfung am Menschen Konkretisierungen und Mindestanforderungen in §§ 40, 41 AMG sowie in Art 3 Abs 2 Buchst a und b der Richtlinie 2001/20/EG des Europäischen Parlaments und des Rates zur Angleichung der Rechts- und guten
Verwaltungsvorschriften über die Anwendung der guten klinischen Praxis bei der Durchführung von klinischen Prüfungen mit Humanarzneimitteln
(ABl 2001 L 121 S 34). Diese Regelungen zeigen Wertungen auf, welche auch in Fällen der vorliegenden Art sinngemäß herangezogen
werden können (vgl dazu schon Hart, MedR 1994, 94, 97). Sowohl bei der Arzneimittelprüfung wie bei der Frage der Notwendigkeit der Behandlung einer lebensbedrohlichen bzw
tödlich verlaufenden Krankheit ohne bestehende schulmedizinische Behandlungsalternative geht es nämlich darum, aus übergeordneten
Gründen ein Arzneimittel bei Patienten zur Anwendung zu bringen, dessen Wirkungen und Risiken noch nicht in dem an sich dafür
vorgesehenen Verfahren ausreichend wissenschaftlich erforscht sind. Die mit dem Arzneimitteleinsatz verbundene Risiko-Nutzen-Abwägung
erfordert dann, neben der ständigen Überwachung des Arzneimitteleinsatzes auch, dass die Patienten nach umfassender Aufklärung
über die Tragweite der Behandlung darin eingewilligt haben.
Die Klägerin ist in diesem Sinne nach ihren unstreitig gebliebenen Angaben im Revisionsverfahren von dem behandelnden Onkologen,
der ihr das Mittel verordnete, über die Nutzen und Risiken der Behandlung mit Tomudex(r) in vollem Umfang informiert worden
und hat in Kenntnis dessen ausdrücklich in die Behandlung eingewilligt.