Zulässigkeit einer unangekündigten Außenprüfung der Lohnabrechnung durch die Bundesagentur für Arbeit
Gründe:
I
Im Streit ist die Rechtmäßigkeit der Anordnung einer Außenprüfung bei der Klägerin vom 2.10.2002.
Am 2.10.2002 nahmen zwei Mitarbeiter des Arbeitsamtes (ArbA) Nürnberg in den Räumen der Klägerin eine Außenprüfung vor, bei
der sie der Buchhalterin eine schriftliche Prüfungsverfügung vom selben Tage, die an die Firmenbezeichnung eines Reisebüros
adressiert war, übergaben. Sie beruhte auf dem Verdacht einer Unregelmäßigkeit betreffend die Lohnabrechnung für Juni 2002
einer bei der Klägerin mit Arbeitserlaubnis beschäftigten türkischen Putzhilfe, die eine Lohnabrechnung über wöchentlich 14
Stunden erhalten hatte, obwohl wöchentlich nur eine Arbeitszeit von zehn Stunden erlaubt worden war; der gezahlte Stundenlohn
soll zudem unter dem Tariflohn gelegen haben. Die zunächst durch die Beklagte von der Klägerin am 1.10.2002 angeforderten
Lohnabrechnungen für Juni und Juli 2002 waren handschriftlich erstellt und auf zehn Stunden ausgebessert worden. Der Widerspruch
der Klägerin gegen die Prüfungsverfügung blieb ohne Erfolg (Widerspruchsbescheid vom 11.3.2003).
Das Sozialgericht (SG) Nürnberg hat die Klage abgewiesen (Urteil vom 3.2.2004); den Antrag auf Aufhebung der Prüfungsverfügung des ArbA vom 2.10.2002
hat es als unzulässig verworfen, den Hilfsantrag, die Rechtswidrigkeit der Prüfungsverfügung festzustellen, als unbegründet
abgelehnt. Das Bayerische Landessozialgericht (LSG) hat die nur noch auf Feststellung der Rechtswidrigkeit der Prüfungsvereinbarung
vom 2.10.2002 gerichtete Berufung der Klägerin zurückgewiesen (Urteil vom 28.7.2005), weil ein berechtigtes Interesse an der
Feststellung zu verneinen sei. Auf die Revision der Klägerin hat der erkennende Senat das Berufungsurteil aufgehoben und die
Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückverwiesen (Urteil vom 28.8.2007), weil zwar ein Rehabilitationsinteresse
zu bejahen und somit die allein rechtshängige Fortsetzungsfeststellungsklage zulässig sei, mangels ausreichender tatsächlicher
Feststellungen jedoch nicht entschieden werden könne, ob die Fortsetzungsfeststellungsklage auch begründet sei. Das LSG hat
die Berufung daraufhin erneut zurückgewiesen (Urteil vom 10.12.2008), weil die unangekündigte, verdachtsgestützte Außenprüfung
der Beklagten ihre rechtmäßige Rechtsgrundlage in § 304 Abs 1 Nr 2 iVm § 305 Abs 1 Satz 1 Sozialgesetzbuch Drittes Buch - Arbeitsförderung - (
SGB III) in der bis zum 31.7.2004 gültigen Fassung (aF) finde. Danach habe wegen der Unregelmäßigkeiten in der Vertragsabwicklung
zwischen der Klägerin und ihrer ausländischen Arbeitnehmerin ein hinreichender Anlass für die Außenprüfung wegen der Möglichkeit
eines Verstoßes iS des § 304 Abs 1 Nr 1 und 2
SGB III aF bestanden. Die Anordnung der Außenprüfung sei zweckmäßig, bestimmt genug und auch verhältnismäßig gewesen, weil die am
1.10.2002 geforderte Übersendung sämtlicher Lohnunterlagen keine Aufklärung ergeben und sich die Prüfungsverfügung zum Betreten
der Geschäfts- und Betriebsräume der Klägerin ausschließlich auf Unterlagen der betreffenden Arbeitnehmerin beschränkt habe.
§ 305
SGB III aF verstoße weder gegen Art
13 Abs
1 Grundgesetz (
GG) noch gegen Art 8 Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK). Das Betretens- und Prüfungsrecht des § 305
SGB III diene dem Schutz der Arbeitnehmer bzw der Versichertengemeinschaft und fordere keine vorherige richterliche Genehmigung.
Mit der Revision rügt die Klägerin einen Verstoß gegen §§ 304 ff
SGB III. Die Prüfungsverfügung sei ungeeignet gewesen, sie ausreichend zu informieren und ihr eine effektive Kontrolle zu ermöglichen.
Insbesondere habe ein Hinweis auf das Auskunftsverweigerungsrecht nach § 306 Abs 1 Satz 3
SGB III aF gefehlt. Hieraus resultiere ein Verstoß gegen Art 6 Abs 1 und Art 8 EMRK sowie gegen Art
12,
13,
14,
2 Abs
1 und 19 Abs
3 GG. Vor dem Hintergrund der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) zu Art 8 EMRK müssten die vom Bundesverfassungsgericht (BVerfG) aufgestellten Grundsätze für Betriebsprüfungen aufgegeben werden, mit der
Folge, dass §§ 304 ff
SGB III aF verfassungswidrig seien. Die faktische Durchsuchung ihrer (der Klägerin) Betriebsräume ohne eine vorherige richterliche
Kontrolle enthalte wegen der fehlenden Belehrungspflicht über das Auskunftsverweigerungsrecht neben einer psychologischen
Beeinträchtigung keinen angemessenen und wirksamen Missbrauchsschutz.
Die Klägerin beantragt,
die Urteile des LSG und des SG aufzuheben und festzustellen, dass der Bescheid der Beklagten vom 2.10.2002 rechtswidrig gewesen ist.
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Sie hält die Entscheidung des LSG für zutreffend.
II
Die zulässige Revision ist begründet (§
170 Abs
2 Satz 1
Sozialgerichtsgesetz [SGG]). Das LSG hat die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des SG im Ergebnis zu Unrecht zurückgewiesen. Die nach der vorangegangenen Senatsentscheidung vom 28.8.2007 (B 7/7a AL 16/06 R -
SozR 4-1500 § 131 Nr 3) zulässige Fortsetzungsfeststellungsklage der Klägerin ist auch begründet, weil die Prüfungsverfügung
der Beklagten vom 2.10.2002 rechtswidrig war (§
131 Abs
1 Satz 3
SGG).
Streitgegenstand des Verfahrens ist ausschließlich die Rechtmäßigkeit dieser Verfügung. Sie ordnete als Verwaltungsakt iS
von § 31 Satz 1 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch - Sozialverwaltungsverfahren und Sozialdatenschutz - (SGB X) die Prüfung bei der Klägerin "gemäß §§ 304 ff
SGB III aF und §
107 Viertes Buch Sozialgesetzbuch - Gemeinsame Vorschriften für die Sozialversicherung - (
SGB IV) sowie § 2 des Arbeitnehmer-Entsendegesetzes (AEntG)" an. Da § 2 AEntG offensichtlich ebenso wenig einschlägig ist wie §
107 SGB IV (vgl BSG, aaO, RdNr
14), misst sich deren Rechtmäßigkeit allein an § 304 Abs 1 Nr 2 iVm § 305 Abs 1 Satz 1
SGB III (beide idF des Gesetzes zur Erleichterung der Bekämpfung von illegaler Beschäftigung und Schwarzarbeit vom 23.7.2002 - BGBl
I 2787). Nicht Gegenstand des Verfahrens sind nach dem ausdrücklichen Antrag der Klägerin, die Rechtswidrigkeit der Prüfungsverfügung
festzustellen, die einzelnen, in § 305
SGB III aufgeführten Duldungspflichten, zu denen die Mitarbeiter der Beklagten die Klägerin bzw ihre Mitarbeiter aufgefordert haben.
Nach § 304
SGB III prüfen die Arbeitsämter, ob Sozialleistungen nach dem
SGB III zu Unrecht bezogen werden oder wurden, ausländische Arbeitnehmer mit einer erforderlichen Genehmigung und nicht zu ungünstigeren
Arbeitsbedingungen als vergleichbare deutsche Arbeitnehmer beschäftigt werden oder wurden und die Angaben des Arbeitgebers,
die für die Leistungen erheblich sind, zutreffend bescheinigt wurden. Zur Durchführung dieser Aufgaben, also der angeordneten
Außenprüfung, sind sie gemäß § 305 Abs 1 Satz 1
SGB III berechtigt, Grundstücke und Geschäftsräume des Arbeitgebers während der Geschäftszeit zu betreten und dort Einsicht in die
Lohn-, Meldeunterlagen, Bücher und andere Geschäftsunterlagen und Aufzeichnungen zu nehmen, aus denen Umfang, Art und Dauer
von Beschäftigungsverhältnissen hervorgehen oder abgeleitet werden können. Es bedarf vorliegend keiner Entscheidung darüber,
ob die Anordnung als solche überhaupt notwendig war oder ob erst die Anordnung der Duldung einzelner Rechte des § 305
SGB III die richtige Vorgehensweise dargestellt hätte. Ebensowenig bedarf es einer Entscheidung darüber, unter welchen Voraussetzungen
die Anordnung erfolgen darf, insbesondere, ob ein konkreter Anlass notwendig ist. Wenn die Anordnung insoweit unzulässig wäre,
wäre sie schon deshalb aufzuheben.
Schließlich muss der Senat auch nicht entscheiden, ob § 305 Abs 1 Satz 1
SGB III gegen das
GG oder die EMRK verstößt. Allerdings hat der Senat keinen Zweifel, dass dies bei grundrechts- bzw europarechtskonformer Auslegung nicht der
Fall ist.
Die Anordnung der Außenprüfung war bereits rechtswidrig, weil die Beklagte von dem ihr nach § 305 Abs 1 Satz 1
SGB III zustehenden Ermessen keinen Gebrauch gemacht hat. Es steht grundsätzlich im Ermessen der Arbeitsämter, in welcher Weise sie
ihre gesetzlichen Aufgaben nach § 304 Abs 1
SGB III erfüllen, insbesondere ob, wann und in welcher Form Prüfungen vorgenommen werden sollen (vgl: Gagel,
SGB III, § 304 RdNr 4, Stand Juli 1999; Brand in Niesel,
SGB III, 2. Aufl 2002, § 304 RdNr 4). Denn nach § 305 Abs 1 Satz 1
SGB III sind ua die Arbeitsämter zur Durchführung des § 304 Abs 1 "berechtigt", Grundstücke und Geschäftsräume des Arbeitgebers während der Geschäftszeit zu betreten. Dieses bei der Durchführung
der Aufgaben nach § 304 Abs 1 Satz 1
SGB III auszuübende Ermessen muss - erlässt man, wie vorliegend, eine generelle Verfügung über die Betriebsprüfung - denknotwendig
auch bei deren Erlass selbst ausgeübt werden. Denn auch wenn eine effektive Überprüfungstätigkeit der berechtigten Behörde
nicht gefährdet werden darf, so darf doch ein wirksamer Rechtsschutz der duldungsverpflichteten Arbeitgeber durch ein uneingeschränktes
Vorgehen der Erlaubnisbehörde nicht vereitelt werden (vgl BSG SozR 3-7815 Art 1 § 7 Nr 1 S 8 f, Juris RdNr 57, mwN).
Der 11. Senat des BSG (SozR 3-7815 Art 1 § 7 Nr 1 S 8) hat bereits unter Bezugnahme auf eine Entscheidung des erkennenden
Senats vom 12.7.1989 (SozR 7815 Art 1 §
7 AÜG Nr 1) hinsichtlich der Geltendmachung von Betretungs- und Prüfungsrechten der Erlaubnisbehörde nach Art 1 §
7 Abs 3
AÜG ausgeführt, dass bei der Ermessensausübung der Erlaubnisbehörde, in welcher Weise sie ihre gesetzlichen Aufgaben erfülle,
die gesetzlichen Grenzen des Ermessens durch Prinzipien wie Gleichbehandlung, Selbstbindung der Verwaltung, Geeignetheit und
vor allem auch durch den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit der Mittel bestimmt werden. Es ist nicht ersichtlich, weshalb hier
etwas anderes gelten sollte.
Nach diesen Maßstäben hatten die Arbeitsämter ihr Ermessen entsprechend dem Zweck der Ermächtigung und unter Einhaltung der
gesetzlichen Grenzen des Ermessens dahin auszuüben, ob zur Durchführung der Aufgaben nach § 304 Abs 1
SGB III überhaupt eine unangemeldete Betriebsprüfung erforderlich ist. An einer Ermessensausübung fehlt es hier jedoch gänzlich,
sodass die Prüfungsverfügung aufgrund des Ermessensnichtgebrauchs rechtswidrig und aufzuheben ist. Abgesehen davon, dass schon
die fehlende Begründung (§ 35 Abs 1 Satz 3 SGB X) Indiz für ein nicht ausgeübtes Ermessen ist (vgl BSG SozR 3-1300 § 50 Nr 16 S 41 f), zeigt das Verfahren und der Inhalt
des Bescheides, dass Ermessen nicht ausgeübt wurde. Die Beklagte hat nämlich pauschal und undifferenziert alle denkbaren Ermächtigungsgrundlagen
in einer vorgefertigten Verfügung aufgezählt, obwohl nur § 304
SGB III in Betracht kam. Der eigene Vortrag des Beklagtenvertreters in der mündlichen Verhandlung am 1.3.2011, der selbst davon ausgeht,
dass kein Ermessen auszuüben sei, bestätigt dies. Anders als bei einer fehlenden Begründung (§ 41 Abs 1 Nr 2 SGB X) kann im Falle eines (materiellen) Ermessensfehlers der Mangel in der Ermessensbetätigung nach §
39 Abs
1 Sozialgesetzbuch Erstes Buch - Allgemeiner Teil - (
SGB I) im Klageverfahren nicht nachgeholt werden (vgl nur Schütze in von Wulffen, SGB X, 7. Aufl 2010, § 41 RdNr 11 mwN). Eine Ermessensschrumpfung oder sog Ermessensreduzierung auf Null ist vorliegend wegen der Schwere des Eingriffs
und des eher geringfügigen Anlasses nicht anzunehmen, selbst wenn ggf die unangekündigte, verdachtsgestützte Außenprüfung
ggf das einzig (noch) geeignete Mittel zu Feststellungen sein sollte. Insoweit stand lediglich eine im Monat Juni um vier
Wochenstunden von der Arbeitserlaubnis abweichende Beschäftigung einer Putzhilfe im Raum. Die untertarifliche Bezahlung erfüllt
alleine nicht die Voraussetzungen des § 304
SGB III (ungünstigere Arbeitsbedingungen als vergleichbare deutsche Arbeitnehmer). Liegt kein bloßer Verfahrens- oder Formfehler,
sondern ein materieller Ermessensfehler vor, scheidet auch eine Anwendung von § 42 SGB X aus.
Die Kostenentscheidung folgt aus §
197a Abs
1 Satz 1
SGG iVm §
154 Abs
1 Verwaltungsgerichtsordnung. Die Streitwertfestsetzung folgt aus § 63 Abs 2 Satz 1, § 47 Abs 1, § 52 Abs 2 Gerichtskostengesetz.