Anspruch auf Arbeitslosengeld; Bemessung der Leistung; Anrechnung von Nebeneinkommen
Gründe:
I
Im Streit ist höheres Arbeitslosengeld (Alg) für die Zeit vom 2.2. bis 9.6.2007, insbesondere unter Berücksichtigung eines
höheren Freibetrages für Nebeneinkommen.
Der 1948 geborene Kläger war ab 11.4.2001 versicherungspflichtig beschäftigt und übte daneben ab dem 1.10.2001 eine Beschäftigung
(mit einem zeitlichen Umfang von unter 15 Wochenstunden) aus, bei der er im Zeitraum Dezember 2002 bis Dezember 2003 durchschnittlich
über 400 Euro brutto monatlich verdiente. Am 12.12.2003 erlitt der Kläger im Rahmen seiner Hauptbeschäftigung einen Arbeitsunfall
und bezog vom 23.1.2004 bis 9.6.2005 Verletztengeld, das unter Einbeziehung seines Einkommens aus der Nebentätigkeit berechnet
war.
Am 10.6.2005 meldete sich der Kläger arbeitslos und bezog bis zum 9.6.2007 Alg. Im März 2006 nahm er seine Nebentätigkeit
wieder auf; die Beklagte änderte die Alg-Bewilligung (Bescheid vom 29.6.2005) ua für den streitigen Zeitraum wegen des erzielten
Nebeneinkommens unter Berücksichtigung eines Freibetrags von 165 Euro monatlich ab (Bescheid vom 3.1.2007; Bescheid vom 8.2.2007
für die Zeit ab 1.9.2006; Widerspruchsbescheid vom 19.2.2007).
Die mit dem Ziel erhobene Klage, bei der Berücksichtigung des Nebeneinkommens einen höheren Freibetrag, errechnet aus dem
Durchschnittsverdienst der bereits früher ausgeübten Nebentätigkeit, zugrunde zu legen, blieb erfolglos (Urteil des Sozialgerichts
[SG] Karlsruhe vom 23.10.2007), nachdem auch während des Klageverfahrens nach Vorlage der jeweiligen Einkommensnachweise Änderungsbescheide
ergangen waren (Bescheid vom 14.3.2007 ebenfalls für die Zeit ab 1.9.2006; Bescheid vom 5.4.2007 für die Zeit ab 1.2.2007;
Bescheid vom 10.5.2007 für die Zeit ab 1.3.2007; Bescheid vom 1.6.2007 für die Zeit ab 1.4.2007; Bescheid vom 28.6.2007 für
die Zeit ab 1.5.2007). Das Landessozialgericht (LSG) Baden-Württemberg hat die Beklagte demgegenüber verurteilt, dem Kläger
ab dem 2.2.2007 höheres Alg unter Zugrundelegung eines Freibetrages für Nebeneinkommen in Höhe von monatlich 234,30 Euro zu
gewähren (Urteil vom 15.7.2009). Zur Begründung seiner Entscheidung hat es ausgeführt, der vom erzielten Nebeneinkommen abzuziehende
Freibetrag bemesse sich nicht nach §
141 Abs
1 Sozialgesetzbuch Drittes Buch - Arbeitsförderung - (
SGB III), sondern nach dessen Abs 2 in der vom 1.1.2005 bis 31.12.2008 geltenden Fassung. Nach Sinn und Zweck der Regelung stehe
der Bezug einer Lohnersatzleistung der vom Gesetz geforderten Beschäftigung gegen Arbeitsentgelt gleich. Es spiele auch keine
Rolle, dass die bis zum Arbeitsunfall ausgeübte Nebenbeschäftigung zwar unter 15 Stunden wöchentlich ausgeübt worden sei,
aber wegen der Höhe des gezahlten Arbeitsentgelts die Geringfügigkeitsgrenze überschritten habe und damit versicherungspflichtig
gewesen sei.
Mit der Revision rügt die Beklagte eine Verletzung des §
141 Abs
2 SGB III. Der dortige Begriff des Arbeitsentgelts sei eng auszulegen und gelte nicht für Einkommen aus Lohnersatzleistungen. Eine
Privilegierung der Einkommensanrechnung auf der Grundlage des §
141 Abs
2 SGB III sei zudem nicht geboten, wenn vor Entstehung des Alg-Anspruchs eine nicht geringfügige und damit versicherungspflichtige,
aber weniger als 15 Wochenstunden umfassende Tätigkeit ausgeübt worden sei.
Die Beklagte beantragt,
das Urteil des LSG aufzuheben und die Berufung des Klägers gegen das Urteil des SG zurückzuweisen.
Der Kläger beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Er hält das angefochtene Urteil für zutreffend.
II
Die zulässige Revision der Beklagten ist im Sinne der Zurückverweisung zur erneuten Verhandlung und Entscheidung (§
170 Abs
2 Satz 2
Sozialgerichtsgesetz [SGG]) begründet. Es fehlen ausreichende tatsächliche Feststellungen des LSG, um abschließend entscheiden zu können.
Gegenstand des Verfahrens sind wegen der Beschränkung des Streitgegenstandes auf die Zeit vom 2.2. bis 9.6.2007 nur die Bescheide
vom 5.4., 10.5., 1.6. und 28.6.2007. Denn der Bescheid vom 8.2.2007 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 19.2.2007
ist insgesamt ersetzt durch den Bescheid vom 14.3.2007 (§ 39 Abs 2 Sozialgesetzbuch Zehntes Buch - Sozialverwaltungsverfahren
und Sozialdatenschutz [SGB X]), der seinerseits durch den Bescheid vom 5.4.2007 unter Erhöhung des täglichen Leistungsbetrages
für Februar 2007 auf 24,89 Euro ersetzt wird. Der Bescheid vom 10.5.2007 ersetzt ab März 2007 den Bescheid vom 5.4.2007 unter
Erhöhung des täglichen Leistungsbetrages in diesem Monat auf 24,91 Euro. Der Bescheid vom 1.6.2007 ersetzt dann ab 1.4.2007
den Bescheid vom 10.5.2007 unter Anhebung des täglichen Leistungsbetrages für April 2007 auf 23,87 Euro. Schließlich ersetzt
noch der Bescheid vom 28.6.2007 ab 1.5.2007 den Bescheid vom 1.6.2007 unter Erhöhung des täglichen Leistungsbetrages für diesen
Monat auf 20,29 Euro. Diese Abänderungsbescheide betreffend die Monate Februar bis Juni 2007 sind gemäß §
96 Abs
1 SGG Gegenstand des Klageverfahrens geworden. Den Änderungsbescheid vom 7.9.2007 betreffend den Leistungsanspruch vom 1.6. bis
9.6.2007 hat die Beklagte in der mündlichen Verhandlung vor dem Senat aufgehoben. Die Bescheide aus dem Jahr 2006 über die
Neuberechnung des Leistungsanspruchs unter Berücksichtigung der ab März 2006 wieder aufgenommenen Nebentätigkeit des Klägers
sind bestandskräftig geworden (§
77 SGG).
Es handelt es sich um eine Teil-Anfechtungsklage (§
54 Abs
1 SGG), gerichtet auf höheres Alg unter Berücksichtigung eines um 69,30 Euro (234,30 Euro - 165 Euro) höheren Freibetrags, begrenzt
in der Höhe des früher bewilligten Alg. Bei einem solchen Streit sind Grund und Höhe des Anspruchs auf Alg in vollem Umfang
und unter allen denkbaren rechtlichen Gesichtspunkten zu prüfen (stRspr; vgl: BSGE 95, 8 ff RdNr 6 = SozR 4-4300 § 140 Nr 1; BSGE 95, 191 RdNr 13 = SozR 4-4300 § 37b Nr 2; BSG SozR 4-4300 § 130 Nr 3 RdNr 9).
Ob die streitgegenständlichen Änderungsbescheide nach § 48 Abs 1 Satz 2 Nr 3 SGB X iVm §
330 Abs
3 Satz 1
SGB III dann ihrerseits wegen der Einkommensanrechnung jeweils für einen Monat wieder nach §§ 44, 45 oder nach § 48 SGB X zu korrigieren waren, weil evtl die ursprüngliche Einkommensanrechnung von Anfang falsch war (vgl hierzu mit Nachweisen aus
der Rspr: Eicher in Eicher/Schlegel,
SGB III, Stand März 2007, §
329 RdNr 1 f), mag das LSG prüfen. Das LSG hat sich ausschließlich mit der Berechnung des Freibetrages nach §
141 Abs
2 SGB III (in der Fassung, die die Norm durch das Dritte Gesetz für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt vom 23.12.2003 - BGBl
I 2848 - erhalten hat) auseinander gesetzt. Bei der Berechnung des Alg-Anspruchs ist dem Kläger allerdings kein Freibetrag
nach §
141 Abs
2 SGB III zuzugestehen.
Nach §
141 Abs
1 Satz 1
SGB III ist das Arbeitsentgelt aus einer weniger als 15 Stunden wöchentlich umfassenden Beschäftigung, die der Arbeitslose während
einer Zeit ausübt, für die ihm Alg zusteht, nach Abzug der Steuern, der Sozialversicherungsbeiträge und der Werbungskosten
sowie eines Freibetrages in Höhe von 165 Euro auf das Alg für den Kalendermonat, in dem die Beschäftigung ausgeübt wird, anzurechnen.
Nach §
141 Abs
2 SGB III bleibt jedoch das Arbeitsentgelt aus einer geringfügigen Beschäftigung nach Abs 1 Satz 1 bis zu dem Betrag anrechnungsfrei,
der in den letzten 12 Monaten vor der Entstehung des Anspruches aus einer geringfügigen Beschäftigung durchschnittlich auf
den Monat entfällt, mindestens jedoch ein Betrag in Höhe des Freibetrages, der sich nach Abs 1 ergeben würde, wenn der Arbeitslose
in den letzten 18 Monaten vor der Entstehung des Anspruches neben einem Versicherungspflichtverhältnis eine geringfügige Beschäftigung
mindestens 12 Monate lang ausgeübt hat.
Nach den tatsächlichen Feststellungen des LSG (§
163 SGG) liegen die Voraussetzungen des §
141 Abs
2 SGB III für das vom Kläger in der Zeit ab 2.2.2007 erzielte Arbeitsentgelt aus der Beschäftigung nicht vor. Der Kläger hat nicht
in den vor Entstehung des Alg-Anspruchs liegenden letzten 18 Monaten neben seiner versicherungspflichtigen Beschäftigung eine
geringfügige Beschäftigung mindestens 12 Monate lang ausgeübt. Entgegen den Ausführungen des LSG im angefochtenen Urteil ist
der Bezug von Verletztengeld aus der gesetzlichen Unfallversicherung der tatsächlichen Ausübung einer geringfügigen Beschäftigung
in dem erforderlichen Umfang und Zeitraum nicht gleichzusetzen. Denn unabhängig von der Frage, ob und in welchem Umfang eine
Unterbrechung der ausgeübten geringfügigen Beschäftigung die Berücksichtigung des Freibetrages nach §
141 Abs
2 SGB III entfallen lässt (vgl hierzu Bundessozialgericht [BSG], Urteil vom 1.7.2010 - B 11 AL 31/09 R - zur Veröffentlichung in SozR vorgesehen), handelt es sich entgegen den Ausführungen des LSG bei dem gezahlten Verletztengeld
nicht um Arbeitsentgelt, das durch Ausübung einer geringfügigen Beschäftigung erzielt worden ist.
Während §
141 Abs
1 SGB III den Zweck verfolgt, dem Arbeitslosen einen Anreiz zu geben, seine Arbeitskraft neben dem Bezug von Leistungen einzusetzen,
um auf diese Weise seine Wiedereingliederung zu erleichtern (BT-Drucks 13/4941, zu § 141 - Anrechnung von Nebeneinkommen -
S 180), verfolgt Abs 2 der Regelung ebenso wie der Abs 3 die Absicht, dem Arbeitslosen die Nebeneinkünfte zu belassen, die
schon längere Zeit vor Eintritt der Arbeitslosigkeit seinen Lebensstandard mitbestimmt haben (BT-Drucks 14/873 S 14 zu Nr
21; s insgesamt hierzu BSGE 97, 80 ff = SozR 4-4300 §
141 Nr
3, RdNr
15 mwN). Nach dem eindeutigen Wortlaut des §
141 Abs
2 SGB III muss dabei allerdings die geringfügige Beschäftigung auch tatsächlich ausgeübt worden sein.
Diese Auslegung kann entgegen der Auffassung des LSG nicht ausschließlich durch die Teleologie des Gesetzes geprägt werden.
Vielmehr stellt das Gesetz ausdrücklich und bewusst auf die Ausübung einer Nebentätigkeit ab. Das Verletztengeld als Lohnersatzleistung
fällt damit nicht unter die Vorschrift des §
141 Abs
2 SGB III, weil es kein tatsächlich erzieltes Arbeitsentgelt aus einer ausgeübten Tätigkeit ist. Der Bezug von Verletztengeld ersetzt
gerade ein tatsächlich erarbeitetes Einkommen bzw Nebeneinkommen, tritt quasi an dessen Stelle, und kann aufgrund seines Lohnersatzcharakters
nicht dem tatsächlich erzielten Arbeitsentgelt iS des §
141 Abs
1 SGB III gleichgesetzt werden. Sozialleistungen wie das Verletztengeld fallen also nicht unter §
141 SGB III, weil dort die Begünstigung lediglich für das "Arbeitsentgelt" vorgesehen ist.
Dass der Bezug einer Entgeltersatzleistung nicht dem Arbeitsentgelt aus einer Beschäftigung gleichzustellen ist, ergibt sich
aus der Entstehungsgeschichte des §
141 SGB III (s die Darstellung in BSG, Urteil vom 1.7.2010 - B 11 AL 31/09 R - RdNr 19, zur Veröffentlichung in SozR vorgesehen) und aus systematischen Erwägungen. Zwar bezogen sich die Ausführungen
des BSG im Urteil vom 28.1.1992 (SozR 3-4100 § 115 Nr 3 S 13 f), dass nur das ausdrücklich genannte "Arbeitsentgelt", nicht
aber damit zusammenhängende Lohnersatzleistungen wie das Verletztengeld von der Regelung umfasst seien, auf die Vorgängervorschrift
des §
141 Abs
1 Satz 1
SGB III, den § 115 Abs 1 Satz 1 Arbeitsförderungsgesetz. Allerdings bezieht sich §
141 Abs
2 SGB III gleichfalls auf das Arbeitsentgelt in Abs
1 der Vorschrift, sodass der Arbeitsentgeltbegriff in beiden Absätzen nach der gesamten Struktur des §
141 SGB III, denknotwendig einheitlich auszulegen ist. Insoweit stellt §
141 SGB III auf die in §
14 Sozialgesetzbuch Viertes Buch - Gemeinsame Vorschriften für die Sozialversicherung - (
SGB IV) enthaltene Legaldefinition ab, wonach Arbeitsentgelt alle laufenden oder einmaligen Einnahmen aus einer Beschäftigung sind.
Die Änderung des §
141 SGB III mit Wirkung zum 1.1.2009 durch das Gesetz zur Neuausrichtung der arbeitsmarktpolitischen Instrumente vom 21.12.2008 (BGBl
I 2917), mit der der Gesetzgeber den Begriff einer geringfügigen Beschäftigung aus dem Gesetzestext entfernt und durch eine
Bezugnahme auf eine Erwerbstätigkeit iS des §
119 Abs
3 SGB III ersetzt hat, der eine Tätigkeitszeit (Arbeitszeit) von weniger als 15 Stunden wöchentlich verlangt. Mit dieser Neuregelung
sollte die nach altem Recht bestehende Ungleichbehandlung zwischen einem Arbeitslosen, der sein privilegiertes Nebeneinkommen
aus einer selbstständigen Tätigkeit erzielte und einem Arbeitslosen, der eine abhängige Nebenbeschäftigung ausübte, beseitigt
werden. Denn das Nebeneinkommen aus einer abhängigen Beschäftigung wurde nur in vollem Umfang geschützt, wenn es im Rahmen
einer geringfügigen Beschäftigung erzielt wurde (Entgeltgrenze 400 Euro monatlich), während Nebeneinkommen aus einer selbstständigen
Tätigkeit auch dann privilegiert war, wenn es mehr als geringfügig war, die Tätigkeit jedoch weniger als 15 Wochenstunden
ausgeübt wurde (vgl: BT-Drucks 16/10810 S 38 zu Nr 40). Die Gesetzesbegründung stellt mithin ausdrücklich auf Einkommen aus
einer Tätigkeit ab.
Eine solche wörtliche Auslegung ist im Übrigen auch zur Gleichbehandlung abhängig Beschäftigter mit Selbstständigen nach §
141 Abs
3 SGB III erforderlich, die nicht im Falle von Krankheit, Arbeitsunfällen etc von Gesetzes wegen versichert sind, bzw denen eine etwaige
Versicherungsleistung unabhängig von dem Einkommen aus der selbstständigen Tätigkeit erbracht wird. Die vom LSG zu Grunde
gelegte teleologische Auslegung würde demgegenüber die abhängig Beschäftigten bei Berücksichtigung einer Lohnersatzleistung
einseitig gegenüber den Selbstständigen bevorzugen.
Ob die Regelung des §
141 Abs
2 SGB III wegen des Begriffs einer geringfügigen Beschäftigung in seiner bis zum 31.12.2008 geltenden Fassung gegen Art
3 Grundgesetz verstößt und ob insoweit eine verfassungskonforme Auslegung erforderlich ist, kann hier dahinstehen. Denn es fehlt bereits
an der vor der Arbeitslosigkeit erforderlichen Ausübung einer Beschäftigung.
Das LSG wird ggf auch über die Kosten des Revisionsverfahrens zu entscheiden haben.