Anspruch auf Arbeitslosengeld; Bemessung unter Berücksichtigung eines Lohnverzichts wegen Arbeitsplatzsicherung; Erweiterung
des Bemessungsrahmens wegen unbilliger Härte
Gründe:
I
Im Streit ist die Höhe des Arbeitslosengeldes (Alg) ab 1.5.2005.
Der 1945 geborene, ledige, kinderlose Kläger war von 1970 bis 30.4.2005 bei der K GmbH & Co KG beschäftigt. Zu Beginn des
Jahres 2005 und in der Folgezeit war auf seiner Lohnsteuerkarte die Lohnsteuerklasse I eingetragen. Ab 1.5.2005 bis zur Beendigung
des Arbeitsverhältnisses am 31.8.2005 wurde er von der Arbeit freigestellt. Am 1.5.2005 waren die Lohnabrechnungszeiträume
bis 30.4.2005 abgerechnet. Das an ihn ausgezahlte und monatlich abgerechnete Bruttoarbeitsentgelt der Entgeltabrechnungszeiträume
vom 1.5.2004 bis 30.4.2005 betrug 37 133,59 Euro. Das zuvor abgerechnete und ausgezahlte Arbeitsentgelt der Entgeltabrechnungszeiträume
vom 1.5.2003 bis 30.4.2004 betrug 43 458,65 Euro. Die Differenz der Bruttoarbeitsentgelte beruhte auf einem am 16.12.2003
geschlossenen Firmentarifvertrag, wonach zur Sicherung der vorhandenen Arbeitsplätze und des gesamten Unternehmens für den
Zeitraum von Januar bis Dezember 2004 alle Tariflöhne und Gehälter um 10 % reduziert worden waren.
Am 2.5.2005 (Montag) beantragte der Kläger die Bewilligung von Alg. Die Beklagte bewilligte ein tägliches Alg in Höhe von
36,02 Euro nach einem Bemessungsentgelt von 101,74 Euro (Bescheid vom 17.6.2005; Widerspruchsbescheid vom 5.9.2005). Das Sozialgericht
(SG) hat den Bescheid vom 17.6.2005 in der Fassung des Widerspruchsbescheids vom 5.9.2005 abgeändert und "die Beklagte verurteilt,
dem Kläger Arbeitslosengeld nach einem Bemessungsentgelt von 110,40 Euro täglich zu zahlen" (Urteil vom 13.8.2008). Das Landessozialgericht
(LSG) Nordrhein-Westfalen hat die Berufung der Beklagten zurückgewiesen (Urteil vom 4.3.2009). Zur Begründung seiner Entscheidung
hat es ausgeführt, der für die Höhe des Alg maßgebende Bemessungsrahmen sei auf zwei Jahre zu erweitern, weil es mit Rücksicht
auf das Bemessungsentgelt in diesem erweiterten Bemessungsrahmen unbillig hart wäre, von dem Bemessungsentgelt im Bemessungszeitraum
auszugehen. Betrage der Unterschied zwischen dem Bemessungsentgelt im Regelbemessungszeitraum von einem Jahr und dem Bemessungsentgelt
im erweiterten Bemessungszeitraum von zwei Jahren mehr als 10 %, sei die Annahme einer unbilligen Härte regelmäßig gerechtfertigt.
Liege die Differenz - wie hier - zwischen 5 und 10 %, sei zu prüfen, ob sich eine unbillige Härte aus den Umständen des Einzelfalles
ergebe. Hier sei zu berücksichtigen, dass die Einkommensminderung aus freiwilligen Gehaltseinbußen resultiere, die zum Erhalt
seines Arbeitsplatzes hingenommen worden seien. Es wäre widersprüchlich, dies zu Lasten des Klägers zu bewerten.
Mit ihrer Revision rügt die Beklagte eine Verletzung des §
130 Abs
3 Satz 1 Nr
2 Sozialgesetzbuch Drittes Buch - Arbeitsförderung - (
SGB III). Die dort normierte Härteregelung erfasse nur Fälle, in denen das geringere Arbeitsentgelt des Bemessungszeitraums für die
Höhe des Alg nicht ausreichend repräsentativ sei. Dabei sei es für das Vorliegen einer unbilligen Härte unerheblich, auf welche
Umstände der Minderverdienst zurückzuführen sei. Es sei nicht unbillig, die von ihr gezogene Grenze bei einer Differenz der
Bemessungsentgelte von 10 % zu ziehen, zumal sich diese auf die Höhe des Alg effektiv nur in Höhe der Lohnersatzquote (von
hier 60 %) auswirke.
Die Beklagte beantragt,
die Urteile des LSG und des SG aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Der Kläger beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Er hält das angefochtene Urteil für zutreffend.
II
Die Revision der Beklagten ist begründet (§
170 Abs
2 Satz 1
Sozialgerichtsgesetz [SGG]). Die Bemessung des Alg nach dem Regelbemessungsentgelt ist nicht zu beanstanden. Eine unbillige Härte liegt nicht
vor.
Gegenstand des Revisionsverfahrens ist der Bescheid der Beklagten vom 17.6.2005 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom
5.9.2005 (§
95 SGG). Ob in der Folgezeit weitere Bescheide ergangen sind, ist den Feststellungen des LSG nicht zu entnehmen. Dies bedarf aber
keiner weiteren Prüfung, weil ein etwaiger Verstoß des Berufungsgerichts gegen §
96 SGG ohnedies keinen in der Revisionsinstanz fortwirkenden und dort von Amts wegen zu beachtenden Verfahrensmangel darstellt (BSG
SozR 4-4100 § 128 Nr 8 RdNr 10). Bei dem Rechtsstreit handelt es sich um einen Höhenstreit im Rahmen einer kombinierten Anfechtungs-
und Leistungsklage (§
54 Abs
1 und 4, §
56 SGG), bei der Grund und Höhe des Alg-Anspruchs in vollem Umfang zu überprüfen sind (stRspr; vgl: BSGE 95, 8 ff RdNr 6 = SozR 4-4300 § 140 Nr 1; BSGE 95, 191 ff RdNr 13 = SozR 4-4300 § 37b Nr 2; BSG SozR 4-4300 § 130 Nr 3 RdNr 9).
Anspruch auf Alg bei Arbeitslosigkeit haben nach §
118 Abs
1 SGB III (in der Fassung, die die Norm durch das Dritte Gesetz für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt vom 23.12.2003 - BGBl
I 2848 - erhalten hat) Arbeitnehmer, die arbeitslos sind, sich bei der Agentur für Arbeit arbeitslos gemeldet und die Anwartschaftszeit
erfüllt haben. Der Kläger war angesichts seiner Freistellung ab 1.5.2005 beschäftigungs- und damit arbeitslos. Er hat sich
auch arbeitslos gemeldet und einen Antrag auf Alg gestellt und hat angesichts der durchgehenden Beschäftigung seit 1970 bis
zu seiner Freistellung auch die Anwartschaftszeit erfüllt. Ob dem Kläger ein Anspruch auf Alg nach §
118 SGB III zusteht, kann im Übrigen aber dahinstehen; denn selbst wenn die Voraussetzungen eines Anspruchs auf Alg ab 1.5.2005 dem Grunde
nach vorliegen, steht dem Kläger kein Anspruch auf höheres Alg zu.
Nach §
129 Nr 2
SGB III (in der Fassung, die die Norm durch das Gesetz zur Beendigung der Diskriminierung gleichgeschlechtlicher Gemeinschaften vom
16.2.2001 - BGBl I 266 - erhalten hat) beträgt das Alg für Arbeitslose, die - wie hier - kein Kind iS des §
32 Abs
1,
3 bis
5 des Einkommensteuergesetzes (
EStG) haben sowie für Arbeitslose, deren Ehegatte oder Lebenspartner kein Kind iS des §
32 Abs
1,
3 bis
5 EStG hat, 60 % (allgemeiner Leistungssatz) des pauschalierten Nettoentgelts (Leistungsentgelt), das sich aus dem Bruttoentgelt
ergibt, das der Arbeitslose im Bemessungszeitraum erzielt hat. Der Bemessungszeitraum umfasst nach §
130 Abs
1 SGB III (in der Fassung, die die Norm durch das Dritte Gesetz für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt vom 23.12.2003 - BGBl
I 2848 - erhalten hat) die beim Ausscheiden des Arbeitslosen aus dem jeweiligen Beschäftigungsverhältnis abgerechneten Entgeltabrechnungszeiträume
der versicherungspflichtigen Beschäftigungen im Bemessungsrahmen. Der Bemessungsrahmen umfasst seinerseits ein Jahr; er endet
mit dem letzten Tag des letzten Versicherungspflichtverhältnisses - hier die Beschäftigung bei der K GmbH & Co KG; §
24 Abs
1 SGB III - vor Entstehung des Anspruchs am 1.5.2005. Der kalendermäßig zu berechnende (Coseriu/Jakob in Nomoskommentar [NK]
SGB III, 3. Aufl 2008, §
130 RdNr 17) Regelbemessungsrahmen beginnt daher am 30.4.2005 und endet (rückwärts gerechnet) am 1.5.2004. In den Lohnabrechnungszeiträumen
Mai 2004 bis April 2005 hat der Kläger ein Bruttoarbeitsentgelt in Höhe von 37 133,59 Euro erzielt. Das Bemessungsentgelt
im Regelbemessungszeitraum beträgt danach, wie von der Beklagten angenommen, 101,74 Euro (37 133,59 Euro : 365 Tage; zur Berechnung
nach Kalendertagen vgl BSG SozR 4-4300 § 130 Nr 5).
Der Bemessungsrahmen ist nicht auf zwei Jahre (1.5.2003 bis 30.4.2005) zu erweitern. Nach §
130 Abs
3 SGB III ist der Bemessungsrahmen auf zwei Jahre zu erweitern, wenn der Bemessungszeitraum weniger als 150 Tage mit Anspruch auf Arbeitsentgelt
enthält (Nr 1) oder - was hier angesichts der durchgehenden Beschäftigung des Klägers im Bemessungsrahmen allein in Frage
kommt - es mit Rücksicht auf das Bemessungsentgelt in dem auf zwei Jahre erweiterten Bemessungsrahmen unbillig hart wäre,
von dem Bemessungsentgelt im Regelbemessungszeitraum auszugehen und der Arbeitslose dies verlangt sowie die zur Bemessung
erforderlichen Unterlagen vorlegt (Nr 2). Auch mit Rücksicht auf das Bemessungsentgelt in dem auf zwei Jahre erweiterten Bemessungsrahmen
ist es jedoch nicht unbillig hart, von einem Bemessungsentgelt in Höhe von 101,74 Euro auszugehen. Bei einer Erweiterung des
Bemessungsrahmens auf die 730 Kalendertage umfassende Zeit vom 1.5.2003 bis 30.4.2005 ergibt sich unter Hinzurechnung des
in den Entgeltabrechnungszeiträumen von Mai 2003 bis April 2004 erzielten Arbeitsentgelts in Höhe von 43 458,65 Euro ein Gesamtarbeitsentgelt
in Höhe von 80 592,24 Euro. Dividiert durch 730 Tage ergäbe sich im erweiterten Bemessungsrahmen ein um 8,66 Euro höheres
Bemessungsentgelt in Höhe von 110,40 Euro (80 592,24 Euro : 730 Tage = 110,40 Euro pro Tag). Dies entspricht einer Differenz
von 8,51 % zu dem Bemessungsentgelt im Regelbemessungszeitraum.
Eine unbillige Härte iS des §
130 Abs
3 Satz 1 Nr
2 SGB III liegt aber erst dann vor, wenn das Bemessungsentgelt aus dem erweiterten Bemessungsrahmen das um 10 % erhöhte Regelbemessungsentgelt
übersteigt. Der Senat schließt sich insoweit der Rechtsprechung des 11. Senats in seinem Urteil vom 24.11.2010 (B 11 AL 30/09 R) an, wonach der von der Beklagten zu Grunde gelegte Maßstab dem durch die Rechtshistorie wie auch die Gesamtsystematik gerechtfertigten
Anliegen des Gesetzgebers nach Vereinfachung entspreche. Die für erforderlich gehaltene Differenz der Bemessungsentgelte von
mindestens 10 % setze die untere Grenze für die Annahme einer unbilligen Härte, für die nicht schon jede geringe Abweichung
vom Normalfall ausreichend sei, nicht unangemessen hoch an. Unerheblich seien dabei auch die Gründe für den Minderverdienst.
Dies lege schon der Wortlaut des §
130 Abs
3 Satz 1 Nr
2 SGB III vor seinem entstehungsgeschichtlichen Hintergrund nahe, das Bemessungsentgelt nach einfach festzustellenden und objektiv
überprüfbaren Maßstäben zu bestimmen und im Interesse einer möglichst verwaltungspraktikablen gleichmäßigen Anwendung ohne
Rücksicht auf die Gründe für den Minderverdienst allein auf das Auseinanderklaffen des Regelbemessungsentgelts und des ihm
gegenüberzustellenden Vergleichsentgelts abzustellen. Ob besonders gelagerte atypische Einzelfälle denkbar sind, in denen
zur Beurteilung einer unbilligen Härte nicht ausschließlich auf das Missverhältnis der miteinander zu vergleichenden Bemessungsentgelte
abgestellt werden darf, bedarf hier keiner Entscheidung. Die freiwillige Gehaltseinbuße in einem Umfang von bis zu 10 % des
Bruttoeinkommens stellt keinen solchen Sonderfall dar. Dies erschließt sich schon aus den in §
130 Abs
2 SGB III aufgeführten Sonderfällen von Zeiten eines Minderverdienstes, die bei der Ermittlung des Bemessungszeitraums außer Betracht
bleiben.
Zu Recht hat der 11. Senat in seiner Entscheidung vom 24.11.2010 (aaO) auch ausgeführt, der gegen einen generellen unteren
Schwellenwert von mindestens 10 % erhobene Einwand, dass die Härtefallregelung auf der Rechtsfolgenseite im Gegensatz zum
früheren Rechtszustand nicht mehr zu einer fiktiven Bemessung führe, sondern zu einer Bemessung, in die auch die vergleichsweise
niedrigen Bemessungsentgelte des Regelbemessungsrahmens einflössen, sei nicht überzeugend. Es sei schon systematisch fragwürdig,
die Voraussetzungen für die Anwendung einer Norm von der Rechtsfolgenseite her zu definieren. Zum anderen laufe diese Auffassung
auf eine Missachtung des erkennbaren Willens des Gesetzgebers hinaus, dass sich eine unbillige Härte gerade oder allein aus
dem Missverhältnis der miteinander zu vergleichenden Bemessungsentgelte ergeben müsse.
Ausgehend von einem so ermittelten Bemessungsentgelt ergibt sich ein tägliches Leistungsentgelt von 60,03 Euro. Das Leistungsentgelt
ist nach §
133 Abs
1 SGB III das um pauschalierte Abzüge verminderte Bemessungsentgelt. Abzüge sind nach §
133 Abs
1 SGB III eine Sozialversicherungspauschale in Höhe von 21 % des Bemessungsentgelts (§
133 Abs
1 Satz 2 Nr
1 SGB III: 21,37 Euro), die Lohnsteuer nach der Lohnsteuertabelle (§
133 Abs
1 Satz 2 Nr
2 SGB III: 19,28 Euro; vgl zur Begrenzung der Prüfungspflicht der Höhe der Lohnsteuer beim Grundurteil im Höhenstreit in Bagatellfällen
BSG SozR 4-4300 §
132 Nr
3) und der Solidaritätszuschlag (§
133 Abs
1 Satz 2 Nr
3 SGB III: 5,5 % der nach §
133 Abs
1 Nr
2 SGB III errechneten Lohnsteuer: 1,06 Euro). 60 % (allgemeiner Leistungssatz) des Leistungsentgelts betragen danach 36,02 Euro.
Die Kostenentscheidung beruht auf §
193 SGG.