Festlegung des Grades der Behinderung im Schwerbehindertenrecht; Bildung des Gesamt-GdB bei mehreren leichten Gesundheitsstörungen
Tatbestand:
Die Berufung betrifft eine Angelegenheit aus dem Schwerbehindertenrecht. Die Parteien streiten darüber, ob der Kläger als
Schwerbehinderter einzustufen ist.
Der 65-jährige Kläger leidet vorwiegend an internistischen Erkrankungen. Mit Bescheid vom 29.07.1998 stellte der Beklagte
einen Grad der Behinderung (GdB) von 30 fest. Die festgestellten Behinderungen waren
- Lungenfunktionseinschränkung, Bronchialasthma, chronische Nebenhöhlenentzündung (Einzel-GdB 20)
- Funktionsbehinderung der Wirbelsäule (Einzel-GdB 20).
Mit Bescheid vom 02.07.2003 wurden diese Feststellungen nur unmaßgeblich modifiziert.
Am 16.04.2007 beantragte der Kläger beim Beklagten die Feststellung eines höheren GdB. An neu aufgetretenen Gesundheitsstörungen
machte er beidseitige Kniegelenksbeschwerden geltend. Der Beklagte sah weder bezüglich der festgestellten Behinderungen noch
bezüglich des GdB Änderungsbedarf und lehnte den Antrag mit Bescheid vom 24.09.2007 ab. Am 23.10.2007 legte der Kläger Widerspruch
ein. Auf der Grundlage einer Äußerung des Internisten Dr. H. (Versorgungsmedizinischer Dienst des Beklagten - VMD) wies der
Beklagte den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 29.02.2008 als unbegründet zurück.
Dagegen hat der Kläger am 20.03.2008 Klage zum Sozialgericht München erhoben. Dieses hat zwei medizinische Gutachten jeweils
nach persönlicher Untersuchung eingeholt.
Im Rahmen des Untersuchungstermins beim Internisten W. M. (M) am 15.05.2008 hat der Kläger geäußert, die Gesamtheit seiner
Erkrankungen hätte zu einer erheblichen Leistungsminderung und zu einer allgemeinen Abgeschlagenheit geführt. Häufig würde
er Atemnot empfinden (meist bei Belastung, manchmal auch bei Ruhe), immer wieder käme es zu Infektazerbationen. Die Gesamtsituation
habe ihn psychisch massiv beeinträchtigt, er empfinde sie als kaum noch erträglich. Deswegen müsse er regelmäßige psychotherapeutische
Behandlung in Anspruch nehmen. Aufgrund der vielfältigen Beschwerden hätte er seinen Beruf aufgegeben. M hat im Gutachten
vom 23.05.2008 festgestellt, es habe sich eine Verschlechterung der asthmatischen Situation eingestellt. Die übrigen Erkrankungen
würden die Gesamtsituation nicht beeinflussen, die Wirbelsäulensymptomatik sei mit einem Einzel-GdB von 20 zu wohlwollend
bewertet. Der Gesamt-GdB sei ab Mai 2008 mit 40 zu veranschlagen bei folgenden Behinderungen:
- chronisch obstruktive Atemwegserkrankung Grad III (Einzel-GdB 40)
- degeneratives Wirbelsäulen-Syndrom (Einzel-GdB 20)
- Diabetes mellitus (Einzel-GdB 10)
- psychovegetative Dysregulation (Einzel-GdB 10).
Der VMD (Dr. W.) hat daraufhin in einer Stellungnahme vom 12.06.2008 konzediert, die COPD müsse höher bewertet werden als
bisher. Jedoch sei ein Einzel-GdB von 40 für diese Gesundheitsstörung zu hoch, da keine akute Verschlechterung aufgetreten
sei; vermutlich würde es noch zu einer partiellen Besserung kommen. Die Einzel-GdB würden für die Atemorgane 30, für die Wirbelsäule
20 und für die psychische Störung 20 betragen. Ein entsprechendes Vergleichsangebot des Beklagten hat der Kläger mit der Begründung
abgelehnt, die orthopädischen Probleme würden ein Gutachten auf diesem Fachgebiet erfordern.
Sodann hat das Sozialgericht ein orthopädisches Gutachten von Dr. V. F. (F) eingeholt (Untersuchung am 27.10.2008, Gutachten
vom 27.10.2008). Der Kläger hat vor F angegeben, aktuell habe er Schmerzen in der Lendenwirbelsäule (LWS) mit Ausstrahlungen
in das linke Bein. Er habe Kniebeschwerden und Schmerzen in sämtlichen Gelenken beider Hände. F ist zum Ergebnis gekommen,
ein Einzel-GdB von 20 für die Wirbelsäule sei eher großzügig angesetzt. Dennoch sollte man gemäß dem Gutachten des M ab Mai
2009 einen Gesamt-GdB von 40 annehmen. Folgende neue Behinderungen sollten aufgenommen werden:
- beginnende gichtige Veränderungen beider Hände, Dupuytren-Erkrankung beidseits (Einzel-GdB 10)
- ausgeprägte Knorpelschäden der Kniegelenke mit Weichteilverdickung (Einzel-GdB 10).
Da der Kläger das Vergleichsangebot des Beklagten über einen GdB von 40 nach wie vor nicht hat annehmen wollen, hat das Sozialgericht
den Beklagten mit Urteil vom 05.02.2009 verurteilt, ab 16.04.2007 einen GdB von 40 festzustellen; im Übrigen hat es die Klage
abgewiesen. Wegen der Urteilsbegründung wird auf die Akten des Sozialgerichts verwiesen.
Die dagegen am 29.04.2009 eingelegte Berufung hat der Kläger damit begründet, die vom Sozialgericht formulierten Beweisfragen
seien fehlerhaft, weil nach der Gesamtwürdigung der Erwerbsfähigkeit gefragt worden sei. Zudem sei die notwendige Gesamtbetrachtung
unterblieben. Bei einem Einzel-GdB von 20 für die Wirbelsäule und weiteren vier Einzel-GdB von 10 müsste der höchste Einzel-GdB
für die Atemwegserkrankung wenigstens auf 50 erhöht werden. Die Atemwegserkrankung sei gegenüber den anderen Erkrankungen
eigenständig. Besonders zu berücksichtigen seien Einschränkungen an Händen und Knien, da diese beidseits aufträten. Es sei
unlogisch, dass in der Stellungnahme des VMD vom 12.06.2008 der Gesamt-GdB mit 10 über dem höchsten angenommenen Einzel-GdB
von 30 taxiert worden sei, dass diese Anhebung um 10 bei einem von beiden Gerichtsgutachtern angenommenen höchsten Einzel-GdB
von 40 dagegen unterbleiben solle.
Der Senat hat aktuelle Befundberichte vom Orthopäden Dr. E., vom Lungenfacharzt Dr. F., vom Hausarzt des Klägers in Österreich,
Dr. C., sowie vom Hausarzt in Deutschland, Dr. D., beigezogen. Der Beklagte hat darauf mit einer Stellungnahme des VMD vom
01.09.2010 (Dr. W.) reagiert. Darauf hat der Kläger erwidert, er bleibe dabei, dass der Gesamt-GdB nicht korrekt gebildet
worden sei. Die Atemwegserkrankung sei unabhängig von den sonstigen Funktionsbeeinträchtigungen, so dass Letztere sich erhöhend
auswirken müssten. Die Kniegelenksbeweglichkeit sei weitaus schlechter, als es der Beklagte auf der Grundlage des Gutachtens
annehme. Gleiches gelte für die Beweglichkeit der Finger. Die Atemnot trete täglich mehrmals unregelmäßig auf, in deren Folge
der Kläger zu schwitzen beginne, sich hinsetzen und sich in absolute Ruhestellung begeben müsse. Weiter hat er einen chirurgisch-ambulanten
Kurzarztbrief des E.-Krankenhauses in F-Stadt vom 19.10.2010 eingereicht.
Der Kläger beantragt zuletzt,
den Beklagten unter Abänderung des Urteils des Sozialgerichts München vom 05.02.2009 sowie unter Aufhebung des Bescheids vom
24.09.2007 in der Ge-stalt des Widerspruchsbescheids vom 29.02.2008 zu verurteilen, ab Antragstellung einen Gesamt-GdB von
mindestens 50 festzustellen.
Der Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts, insbesondere wegen des Inhalts medizinischer Berichte und Gutachten, wird
auf die Akten des Beklagten, des Sozialgerichts und des Bayerischen Landessozialgerichts verwiesen. Diesen haben allesamt
vorgelegen und sind Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen.
Entscheidungsgründe:
Die Berufung ist zwar zulässig, aber nicht begründet.
Streitgegenstand ist die mit Bescheid vom 24.09.2007 und Widerspruchsbescheid vom 29.02.2008 ausgesprochene Ablehnung, die
bis dahin bestehende Regelung abzuändern und einen GdB von mindestens 50 festzustellen.
Die Voraussetzungen für eine solche Abänderung sind nicht erfüllt. Nach § 48 Abs. 1 Satz 1 des Sozialgesetzbuchs Zehntes Buch (SGB X) ist ein Verwaltungsakt mit Wirkung für die Zukunft aufzuheben, soweit in den rechtlichen oder tatsächlichen Verhältnissen,
die beim Erlass eines Verwaltungsakts mit Dauerwirkung vorgelegen haben, eine wesentliche Änderung eintritt; er soll mit Wirkung
vom Zeitpunkt der Änderung der Verhältnisse aufgehoben werden, soweit die Änderung zu Gunsten des Betroffenen erfolgt (§ 48 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 SGB X). Eine relevante Änderung ist nur in dem Maß eingetreten, wie es das Sozialgericht im angefochtenen Urteil entschieden hat;
sie begründet einen GdB von 40 anstatt 30. Das darüber hinausgehende Berufungsbegehren des Klägers bleibt dagegen ohne Erfolg.
Nach §
69 Abs.
1 Satz 1 des Sozialgesetzbuchs Neuntes Buch (
SGB IX) stellen die für die Durchführung des Bundesversorgungsgesetzes zuständigen Behörden auf Antrag eines behinderten Menschen
das Vorliegen einer Behinderung und den Grad der Behinderung fest. Die Auswirkungen auf die Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft
werden als Grad der Behinderung nach Zehnergraden abgestuft festgestellt (§
69 Abs.
1 Satz 4
SGB IX). Die materiell-rechtlichen Maßstäbe des § 30 Abs. 1 des Bundesversorgungsgesetzes (BVG) und der aufgrund von § 30 Abs. 17 BVG erlassenen Rechtsverordnung gelten entsprechend (§
69 Abs.
1 Satz 5
SGB IX). Bei Letzteren handelt es sich um die zum 01.01.2009 in Kraft getretenen Versorgungsmedizinischen Grundsätze (VG), die als
Anlage zu § 2 der Versorgungsmedizin-Verordnung vom 10. Dezember 2008 (BGBl I S. 2412) Rechtsnormcharakter haben (vgl. BSG, Urteil vom 23.04.2009 - B 9 SB 3/08 R, RdNr. 27, 29; Giese, Bedeutung von Begutachtungsempfehlungen, antizipierten Sachverständigengutachten und Leitlinien - aus
Sicht des sozialen Entschädigungsrechts, MedSach 2010, S. 85). Sie haben die bis dahin der Rechtsanwendung zugrunde liegenden
Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit (AHP) ersetzt (BSG, aaO., RdNr. 27). Das Bundessozialgericht vertritt augenscheinlich
die Auffassung, die VG würden erst für die Zeit ab 2009 Wirksamkeit entfalten (keine unechte Rückwirkung), während für die
streitgegenständliche Phase davor, hier vom 16.04.2007 bis 31.12.2008, noch die AHP maßgebend sind (so wohl BSG, Urteil vom
30.09.2009 - B 9 SB 4/08 R, RdNr. 19). Da für den vorliegenden Fall die AHP und die VG gleich lauten, erübrigt sich eine Erörterung dieses Problems.
Der Beklagte hat den GdB zutreffend mit 40 festgestellt. Entgegen der Auffassung des Klägers ist dieser nicht schwerbehindert
im Sinn von §
2 Abs.
2 SGB IX. Die bei ihm vorliegenden Behinderungen sind vollständig erfasst und insgesamt zutreffend bewertet. Der Kläger leidet zwar
an zahlreichen, mit Ausnahme der Lungenfunktionsstörung jedoch nicht wirklich gravierenden gesundheitlichen Beeinträchtigungen.
Der GdB soll die Auswirkungen von Behinderungen auf die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft quantifizieren. Von daher ist,
wie der Kläger zutreffend bemerkt hat, die vierte Beweisfrage, die das Sozialgericht den Sachverständigen gestellt hat, nicht
präzise formuliert. Denn dort wird gefragt, wie hoch der GdB "im Erwerbsleben" einzuschätzen sei. Aus den beiden Gutachten
geht jedoch hervor, dass sich die Sachverständigen eng an den AHP bzw. VG orientiert haben, welche in konkretisierter Form
die Auswirkungen gerade auf die Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft bzw. "in allen Lebensbereichen" (vgl. § 30 Abs. 1 Satz 1 BVG) ausweisen. Die Ärzte haben sich somit nicht in die Irre führen lassen, sondern die zutreffenden Kriterien für die Bemessung
des GdB herangezogen.
1. Die einzelnen Behinderungen
Hinsichtlich der Erkrankung der Atmungsorgane hat M einen Einzel-GdB von 40 angenommen, während der Beklagte von 30 ausgeht.
Letztlich zieht der Senat in Übereinstimmung mit M einen Einzel-GdB von 40 als Einsatzgröße für die Bemessung des Gesamt-GdB
heran. Nach den Vorbemerkungen bei Teil B Nr. 8 VG, Nr. 26.8 AHP richtet sich der GdB bei chronischen Krankheiten der Bronchien
und des Lungenparenchyms vor allem nach der klinischen Symptomatik mit ihren Auswirkungen auf den Allgemeinzustand. Zu berücksichtigen
sind auch die Einschränkung der Lungenfunktion sowie die Folgeerscheinungen an anderen Organsystemen. Für die Atemwegserkrankung
des Klägers ist Teil B Nr. 8.3 VG, Nr. 26.8 AHP einschlägig ("Krankheiten der Atmungsorgane mit dauernder Einschränkung der
Lungenfunktion"). Dieser Abschnitt differenziert nach geringem, mittlerem und schwerem Grad der Erkrankung. Kennzeichnend
für den leichten Grad sind eine über das normale Maß hinausgehende Atemnot bei mittelschwerer Belastung, statische und dynamische
Messwerte der Lungenfunktionsprüfung bis zu 1/3 niedriger als die Sollwerte, Blutgaswerte im Normbereich. Der Einzel-GdB liegt
dabei zwischen 20 und 40. Der mittlere Grad (Einzel-GdB 50 bis 70) zeichnet sich aus durch eine über das normale Maß hinausgehende
Atemnot bei alltäglicher leichter Belastung, statische und dynamische Messwerte der Lungenfunktionsprüfung bis zu zwei Dritteln
niedriger als die Sollwerte, respiratorische Partialinsuffizienz.
Nach den Feststellungen des M (statische und dynamische Messwerte ein Drittel niedriger als Sollwert, keine Veränderung der
Blutgaswerte) liegt die Erkrankung des Klägers im leichtgradigen Bereich. Dem schließt sich der Senat an. Dieses Ergebnis
harmoniert mit den von M genannten Befunden: Anamnestisch hat der Kläger angegeben, Atemnot trete meist bei Belastung, gelegentlich
auch in Ruhe auf. M hat festgestellt, beim Kläger habe sich am Tag der Untersuchung über den Lungen kein pathologischer Befund
gezeigt, das vesikuläre Atemgeräusch sei über allen Partien normal gewesen. Es habe eine gute respiratorische Leistungsbreite
bestanden, dagegen kein Anhalt für bronchitische oder spastische Veränderungen. Die Lungenfunktionsprüfung habe einen Hinweis
auf eine mittelgradige Restriktion bei leichter Obstruktion erbracht. M hat empfohlen, den höchsten Einzel-GdB innerhalb des
Rahmens heranzuziehen (40), weil auch die behandelnden Ärzte eine ständige Verschlechterung bestätigt hätten. Der VMD hat
entgegnet, angebracht sei nur ein Einzel-GdB von 30, weil es sich lediglich um eine Exazerbation gehandelt habe. Dieser Einwand
ist nicht von der Hand zu weisen. Denn aus den aktuellen Befundberichten des behandelnden Lungenfacharztes und der beiden
Hausärzte geht hervor, dass sich der Gesundheitszustand des Klägers in Bezug auf die Lungen stabilisiert hat; so spricht der
Lungenfacharzt Dr. F. von einem in den letzten Monaten stabilen Zustand, diagnostisch von COPD II. Gleichwohl folgt der Senat
M. Denn der VMD geht allem Anschein nach so vor, dass er COPD Grad II mit 30 bewertet, COPD Grad III mit 40. Eine entsprechende
Gesetzmäßigkeit findet sich in den VG jedoch nicht. M hat dagegen seine Prüfung unmittelbar in Anlehnung an die durch die
VG vorgegebenen Kriterien durchgeführt, so dass seine Einschätzung überzeugender erscheint.
Großzügig, aber noch vertretbar erscheint es, dem Kläger hinsichtlich der Funktionsbehinderungen der Wirbelsäule einen Einzel-GdB
von 20 zuzubilligen. Unter Teil B Nr. 18.9 VG, Allgemeines zu Nr. 26.18 AHP wird ausgeführt, der GdB bei Wirbelsäulenschäden
ergebe sich primär aus dem Ausmaß der Bewegungseinschränkung, der Wirbelsäulenverformung und -instabilität sowie aus der Anzahl
der betroffenen Wirbelsäulenabschnitte. Wirbelsäulenschäden mit geringen funktionellen Auswirkungen - egal in wie vielen Wirbelsäulenabschnitten
- sind mit einem Einzel-GdB von 10 zu bewerten. 20 können nur bei mittelgradigen Auswirkungen in einem Wirbelsäulenabschnitt
angesetzt werden. F hat in seinem Gutachten angegeben, der Kläger habe die Halswirbelsäule nahezu frei bewegt, die Rumpfwirbelsäule
nur unvollständig. Der Bildbefund der LWS zeige altersentsprechende Erscheinungen. Deren Funktionsverlust bei der Vorbeugung
sei mit 25 % gering. Die vom Kläger gezeigte aufgehobene Entfaltung der Brustwirbelsäule (BWS) sei radiomorphologisch nicht
zu erklären, da die Bandscheiben gut weit seien und auch verklammernde Randspornbildungen fehlten. F hat darauf hingewiesen,
dass die für 20 erforderlichen mittelgradigen Funktionsstörungen nur mit Mühe gefunden werden können. Allein die BWS käme
dafür in Frage; die LWS hat nur leichte Funktionsdefizite aufgewiesen. Angesichts der radiomorphologisch einwandfreien Beschaffenheit
der BWS hat sich F sehr schwer getan - wie vorher schon M -, dafür Funktionsstörungen mittleren Grades zu bejahen. Gleichwohl
hat er vorgeschlagen, 20 für die Wirbelsäule beizubehalten. Auch diese gutachterliche Einschätzung macht sich der Senat zu
eigen, wobei dieser Einzel-GdB sicher an der obersten Grenze des Vertretbaren liegt. Letzteres gilt umso mehr, als die aktuellen
Befunde der behandelnden Ärzte keinerlei Hinweise auf eine Verschlechterung ergeben.
Der Senat teilt auch die Einschätzung von F zu den oberen Gliedmaßen des Klägers. Der Sachverständige hat mitgeteilt, die
passive Funktionsprüfung der Arme sei durch einen relativ hohen muskulären Widerstand gekennzeichnet gewesen. Passiv ist für
ihn kein nennenswerter Funktionsverlust erkennbar gewesen. Ellenbogengelenke, Unterarme und Handgelenke haben frei funktioniert.
Lediglich bei der Fingerstreckung haben sich aktiv leichte Streckdefizite in den Grundgelenken des zweiten und dritten Fingers
rechts, verstärkt im zweiten und dritten Finger links gezeigt. Passiv hat auch das Mittelgelenk des rechten fünften Fingers
um zehn Grad nicht gestreckt werden können. Die Fingerendgelenke sind teilweise initial verdickt gewesen. Beidseits hat eine
deutliche Dupuytren-Erkrankung bestanden, passiv haben sich die Kontrakturen bislang ausgleichen lassen; die Faust ist weitgehend
geschlossen worden. Zusammenfassend ist damit allein die Funktion der Finger gestört. Der Vergleich des F mit einer vollständigen
Handgelenksversteifung in günstiger Stellung, die mit 20 bewertet ist (vgl. Teil B Nr. 18.13 VG, Nr. 26.18 AHP), überzeugt;
der Sachverständige hat ausdrücklich festgestellt, dass die beim Kläger vorhandenen funktionalen Einschränkungen darunter
liegen, so dass 10 angemessen erscheinen. Plausibel erscheint diese Taxierung auch vor dem Hintergrund, dass der vollständige
Verlust eines anderen Fingers als des Daumens - auch mit dazu gehörenden Mittelhandknochen - nur zu einem Einzel-GdB von 10
führt (Teil B Nr. 18.13 VG, Nr. 26.18 AHP). Immerhin kann der Kläger annähernd die Faust schließen; Probleme bei der Fingerstreckung
bestehen nur partiell. Der aktuelle Befundbericht des behandelnden Orthopäden Dr. E. zwingt nicht zu weiteren medizinischen
Ermittlungen, geschweige denn zu einer höheren Einstufung. Denn der von ihm mitgeteilte Verdacht auf eine rheumatoide Polyarthritis
dokumentiert keine Veränderungen der Fingerfunktionen.
Auch die gutachterliche Würdigung des F betreffend die Knie ist richtig und wird vom Senat übernommen. Der Sachverständige
hat ausgeprägte Knorpelschäden ohne Bewegungseinschränkung, ohne Erguss und bei stabilen Bändern festgestellt. Gerade wegen
dieser positiven Umstände hat er aus dem zur Verfügung stehenden Rahmen von 10 bis 30 den niedrigsten Wert 10 gewählt (Teil
B Nr. 18.14 VG, Nr. 26.18 AHP). Der sehr erfahrene Gutachter hat sich also in Kenntnis aller für die Kniefunktion relevanten
Umstände bewusst gegen einen höheren Einzel-GdB entschieden. Nicht zuletzt deswegen ist der Senat davon überzeugt, dass seine
Einschätzung zutrifft. Relevante aktuelle Befundänderungen, die weitere medizinische Ermittlungen nahe legen könnten, sind
nicht gegeben.
Für die psychische Erkrankung des Klägers kann kein höherer Einzel-GdB als 10 in Betracht kommen. Dieser befindet sich nicht
in psychiatrischer Behandlung. Auch in den aktuellen Befundberichten der beiden Allgemeinärzte findet sich keinerlei Hinweis
auf psychische Probleme. Hinzu kommt, dass sich der Kläger selbst in seinen Schriftsätzen nie für eine höhere Bewertung psychischer
Probleme eingesetzt hat.
Der zuletzt eingereichte Kurzarztbrief des E.-Krankenhauses F-Stadt führt weder zur Feststellung eines höheren GdB noch indiziert
er weiteren Ermittlungsbedarf. Die darin mitgeteilte Diagnose GERD IV deutet zwar auf eine relativ schwere Refluxkrankheit
hin. Andererseits aber spricht alles dafür, dass es sich dabei nur um eine vorübergehende Exazerbation handelt, die nicht
relevant für die Taxierung des GdB ist. Einschlägige Diagnosen hat es schon vor Oktober 2010 gegeben, so im Bericht des D.-Spitals
F. vom 06.10.2008. Dort sind die Ergebnisse einer Gastroskopie vom 02.10.2008 genannt; eine Hiatushernie mit Refluxösophagitis
ist bereits damals erwähnt worden. Die Therapieempfehlung hat seinerzeit so wie jetzt auch Pantoloc 40 mg 1-0-0 gelautet.
Ähnliches ergibt sich aus einem Bericht des gleichen Krankenhauses vom 22.01.2009; dort ist die Gabe von Pantoloc 40 mg empfohlen
worden. Zeitlich danach haben allerdings beide Hausärzte in aktuellen Befundberichten aus dem Jahr 2010 die Speiseröhrenprobleme
überhaupt nicht erwähnt. Auch in der Berufungsbegründung vom 23.03.2010 hat der Kläger mit keinem Wort zu der Refluxkrankheit
Stellung bezogen. Weiter hatte der Kläger schon vor M ein Sodbrennen benannt, das aber in der Beurteilung des Sachverständigen
keinen Niederschlag gefunden hat. Aus all dem ergibt sich, dass es sich bei den Refluxbeschwerden nicht um ein neues Krankheitsgeschehen
handelt. Vielmehr hatte der Kläger schon in der Vergangenheit wiederholt unter entsprechenden Symptomen zu leiden. Es sind
auch medikamentöse Behandlungen erfolgt, die genauso ausgesehen haben, wie die jetzt aktuell mitgeteilte Medikation, und die
ganz offensichtlich immer zum Rückgang der Symptome geführt haben.
Die nunmehrigen Befunde des E.-Krankenhauses sind für den Senat kein Anlass, das Urteil des Sozialgerichts zu korrigieren.
Denn eine relevante Behinderung kann nach §
2 Abs.
1 SGB IX nur dann vorliegen, wenn eine Gesundheitsstörung länger als sechs Monate vorliegt (vgl. auch §
69 Abs.
1 Satz 5
SGB IX in Verbindung mit § 30 Abs. 1 Satz 3 BVG). Zudem wird gemäß Teil B Nr. 10.1 VG, Nr. 26.10 AHP eine Refluxkrankheit der Speiseröhre mit anhaltenden Refluxbeschwerden mit einem Einzel-GdB von 10 bis
30 bewertet. Der Senat sieht weder Anhaltspunkte für ein Anhalten der Refluxbeschwerden in diesem Sinn noch dafür, dass sich
die Gesundheitsstörung über mehr als sechs Monate erstrecken wird. Nach den vorgelegten Befunden muss zum Zeitpunkt der mündlichen
Verhandlung am 03.11.2010 vielmehr von einer unbeachtlichen vorübergehenden Gesundheitsstörung ausgegangen werden: Die Pantoloc-Therapie
ist nur für 12 Wochen empfohlen und bei einem Wiederauftreten der Beschwerden auf die Möglichkeit einer erneuten Vorstellung
hingewiesen worden. Diese Medikation lässt - nachdem vorher gemäß den aktuellen Befunden der Hausärzte offenbar keine nennenswerten
Beschwerden bestanden hatten - nur den Schluss zu, dass sich der Kläger zum Zeitpunkt der Behandlung durch das E.-Krankenhaus
in einer akuten Krankheitsphase befunden hat. Entsprechende dauerhafte Beschwerden, die den Ansatz eines Einzel-GdB rechtfertigen
könnten, sind dagegen nicht belegt. Erst wenn die erneute Akutbehandlung abgelaufen ist, wird die weitere Entwicklung zeigen,
ob es sich tatsächlich nur um eine akute, oder aber mittlerweile um eine chronische Erkrankung handelt.
Der Senat ist nicht gehalten, das E.-Krankenhaus ergänzend zu befragen oder gar einen medizinischen Sachverständigen beizuziehen.
Der erforderliche medizinische Sachverstand lässt sich allein aus der einschlägigen, auch für Nichtmediziner verständlichen
und daher verwertbaren Literatur gewinnen. Unter der Internetadresse www.sodbrennen.net wird ausgeführt, dass dann, wenn sich
die Beschwerden nicht durch eine Umstellung bestimmter Lebensgewohnheiten beheben lassen, säurebindende oder säureproduktions-reduzierende
Medikamente eine Linderung der Beschwerden bis hin zur vollständigen Beschwerdefreiheit herbeiführen können. Diese Medikamente,
so die Quelle, sollten konsequent je nach Schwere der Erkrankung einen bis drei Monate eingenommen werden. Würden die Beschwerden
nach Absetzten der Medikamente in kurzer Zeit wieder aufleben, könne von einem chronischen Krankheitsgeschehen ausgegangen
werden. Zwar lässt sich für diese Quelle keine wissenschaftliche Herkunft verifizieren. Sie findet jedoch - unbestreitbar
wissenschaftliche - Bestätigung durch Pschyrembel, Therapeutisches Wörterbuch, 1999, S. 633: Komme es nach einer medikamentösen
Therapie - wie der vom E.-Krankenhaus vorgeschlagenen - zu einem Rezidiv nach mehr als drei Monaten, sei eine erneute medikamentöse
Schubtherapie indiziert. Bei einem Rezidiv innerhalb der ersten drei Monate sei von einem chronisch-rezidivierenden Verlauf
auszugehen. Der Kläger befindet sich ohne Zweifel in der Phase einer ersten Schubtherapie, so dass zum Zeitpunkt der mündlichen
Verhandlung noch ein lediglich akutes Geschehen angenommen werden muss; der Schluss auf ein relevantes chronisches Geschehen
verbietet sich momentan. Diese Einschätzung lässt sich aus einem Abgleich der genannten Fundstelle bei Pschyrembel mit dem
aktuellen Arztbericht des E.-Krankenhauses treffen. Beide Textpassagen sind für den Senat klar interpretierbar und damit vergleichbar;
eine "Übersetzung" durch einen Mediziner erübrigt sich. Erwähnenswert ist in diesem Zusammenhang auch, dass sich die Prozessbevollmächtigte
des Klägers in der mündlichen Verhandlung nicht gegen diese Einschätzung gewandt hat, obwohl der Senat seine Ansicht diesbezüglich
ausführlich und unmissverständlich dargestellt hatte.
2. Die Bildung des Gesamt-GdB
Der Gesamt-GdB ist mit 40 zutreffend bemessen. Die Argumentation des Klägers, mit der er die Schwerbehinderteneigenschaft
zu begründen versucht, ist nicht tragfähig.
Liegen mehrere Beeinträchtigungen der Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft vor, so wird der Grad der Behinderung nach den
Auswirkungen der Beeinträchtigungen in ihrer Gesamtheit unter Berücksichtigung ihrer wechselseitigen Beziehungen festgestellt
(§
69 Abs.
3 Satz 1
SGB IX). In einem ersten Schritt sind dabei die einzelnen nicht nur vorübergehenden Gesundheitsstörungen im Sinn von regelwidrigen
(von der Norm abweichenden) Zuständen und die sich daraus ergebenden Teilhabebeeinträchtigungen festzustellen. In einem zweiten
Schritt sind diese den in den VG bzw. AHP genannten Funktionssystemen zuzuordnen und mit einem Einzel-GdB zu bewerten. In
einem dritten Schritt ist dann - in der Regel ausgehend von der Beeinträchtigung mit dem höchsten Einzel-GdB (Teil A Nr. 3
lit. c VG, Nr. 19 Abs. 3 AHP) - in einer Gesamtschau unter Berücksichtigung der wechselseitigen Beziehungen der einzelnen
Beeinträchtigungen der (Gesamt-)GdB zu bilden. Dabei können die Auswirkungen der einzelnen Beeinträchtigungen ineinander aufgehen
(sich decken), sich überschneiden, sich verstärken oder beziehungslos nebeneinander stehen. Außerdem sind bei der Gesamtwürdigung
die Auswirkungen mit denjenigen zu vergleichen, für die in der Tabelle der VG bzw. AHP feste GdS/GdB-Werte angegeben sind
(Teil A Nr. 3 lit. b VG, Nr. 19 Abs. 2 AHP; vgl. dazu BSG, Urteil vom 24.04.2008 - B 9/9a SB 10/06 R, RdNr. 23).
Bei der Bildung des Gesamt-GdB ist zu beachten, dass eine Addition oder andere rechnerische Modelle unzulässig sind. Maßgebend
sind vielmehr die Auswirkungen der einzelnen Funktionsstörungen in ihrer Gesamtheit unter Berücksichtigung ihrer wechselseitigen
Beziehungen zueinander (Teil A Nr. 3 lit. a VG, Nr. 19 Abs. 1 AHP). Auch wenn die Prozessbevollmächtigte des Klägers sich
in der mündlichen Verhandlung dagegen verwahrt hat, so begeht der Kläger doch genau diesen Fehler, indem er eine unzulässige
arithmetische Logik anwendet. So hat er in der Berufungsbegründung geschrieben, es sei unlogisch, dass in der Stellungnahme
des VMD vom 12.06.2008 der Gesamt-GdB mit 10 über dem höchsten angenommenen Einzel-GdB taxiert worden sei, dass diese Anhebung
um 10 nunmehr bei einem höchsten Einzel-GdB von 40 aber unterlassen werden solle. Maßgebend sind nicht Rechenoperationen,
sondern die medizinische Gesamtbetrachtung. Die vom Kläger gesehene Gesetzmäßigkeit - stets Erhöhung des höchsten Einzel-GdB
um 10 - existiert schlichtweg nicht. Die gebotene Gesamtbetrachtung haben M und F mit überzeugender Methodik und überzeugendem
Ergebnis vorgenommen; daraus folgt ein Gesamt-GdB von 40.
Grundsätzlich führen zusätzliche Gesundheitsstörungen, die nur mit einem Einzel-GdB von 10 zu bewerten sind, nicht zu einer
Zunahme des Gesamt-GdB (vgl. Teil A Nr. 3 lit. d ee VG, Nr. 19 Abs. 4 AHP). Diese Regel findet auch hier voll Anwendung; der
Ausnahmefall, dass sich eine für sich gesehen leichte Beeinträchtigung in der Teilhabe am Leben in der Gesellschaft überproportional
auswirkt, liegt nicht vor. Weiter ist bestimmt, dass vielfach auch bei leichten Funktionseinschränkungen mit einem Einzel-GdB
von 20 keine Auswirkungen auf den Gesamt-GdB festgestellt werden können (aaO.). Sowohl der internistische als auch der orthopädische
Sachverständige haben, jeweils ausgehend von einem höchsten Einzel-GdB 40, keinen Anlass gesehen, den Gesamt-GdB auf 50 anzuheben,
obwohl ein wirbelsäulenbedingter Einzel-GdB von 20 zu Buche steht; M hat explizit geschrieben, die übrigen Erkrankungen würden
die Gesamtsituation nicht beeinflussen. Nicht zuletzt steht der vom Kläger gewünschten Anhebung entgegen, dass der Einzel-GdB
von 20 für die Wirbelsäule sehr großzügig und auch ein Einzel-GdB von 40 für die Erkrankung der Atmungsorgane keineswegs kleinlich
erscheint.
Die Kostenentscheidung beruht auf §
193 SGG.
Die Revision wurde nicht zugelassen, weil die Voraussetzungen des §
160 Abs.
2 SGG nicht vorliegen.