Tatbestand:
Die 1992 geborene Klägerin stand und steht im Leistungsbezug des Beklagten. Sie meldete sich am 21. Dezember 2018 für einen
Schulabschlusskurs des T und orts für türkische Frauen eV in B an. Am 2. Januar 2019 wurde sie in den laufenden Vollzeitkurs
aufgenommen und nimmt seither daran teil.
Den am 8. Januar 2019 gestellten Antrag auf Übernahme von Fahrtkosten iHv seinerzeit mtl 27,50 EUR sowie den am 14. Februar
2019 gestellten Antrag auf Erstattung der Kosten eines am 14. Januar 2019 zum Preis von 27,99 EUR erworbenen Taschenrechners
lehnte der Beklagte mit der Begründung ab, die Kosten seien durch bedarfsbegründende Ereignisse vor der Antragstellung entstanden
(Bescheid vom 12. März 2019 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 6. Mai 2019).
Das Sozialgericht (SG) Berlin hat den Beklagten unter Aufhebung des angefochtenen Bescheides verpflichtet, die Anträge auf Kostenübernahme unter
Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts neu zu bescheiden, und die im Übrigen auf Kostenerstattung gerichtete Klage abgewiesen
(Gerichtsbescheid vom 28. Oktober 2019). Zur Begründung ist ausgeführt: Die Klage sei hinsichtlich des Bescheidungsausspruches
begründet. Einen entsprechenden Antrag auf Leistungen aus dem Vermittlungsbudget, dessen Behandlung sich nach § 37 Sozialgesetzbuch - Grundsicherung für Arbeitsuchende - (SGB II) richte, habe die Klägerin auch nach Beginn des Kurses stellen können. Dies habe der Beklagte verkannt und deshalb zu Unrecht
keine Ermessensentscheidung über die begehrte Förderung getroffen.
Mit der Berufung wendet sich der Beklagte gegen dieses Urteil. Er trägt vor: Nach § 37 SGB II könnten Leistungen nicht für Zeiträume vor der Antragstellung erbracht werden. Dies habe das SG nicht berücksichtigt. Er beantragt,
den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Berlin vom 28. Oktober 2019 aufzuheben und die Klage in vollem Umfang abzuweisen.
Die Klägerin beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Sie hält die angefochtene Entscheidung für zutreffend. Der am 8. Januar 2019 gestellte Antrag habe schon sämtliche in Betracht
kommenden Leistungen umfasst.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung durch den Berichterstatter ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt
(vgl §§
124 Abs.
2,
155 Abs.
3 und
4 Sozialgerichtsgesetz (
SGG)).
Entscheidungsgründe:
Die Berufung des Beklagten ist in dem aus dem Tenor ersichtlichen Umfang begründet. Der Beklagte hat (nur) über den Antrag
der Klägerin auf Übernahme von Fahrtkosten für den am 2. Januar 2019 begonnenen Kurs unter Beachtung der Rechtsauffassung
des Gerichts eine Ermessensentscheidung für Leistungszeiträume ab dem 8. Januar 2019 zu treffen, weil er zu Unrecht davon
ausgegangen ist, dass die tatbestandlichen Voraussetzungen für eine solche Ermessensentscheidung nicht vorlagen. Soweit das
SG den Beklagten auch zur Neubescheidung des Antrags auf Übernahme der Anschaffungskosten für einen Taschenrechner und der Fahrtkosten
für die Zeit vom 2. Januar 2019 bis 7. Januar 2019 verpflichtet hat, ist die Klage indes nicht begründet und war abzuweisen.
Hinsichtlich der vom SG abgewiesenen, auf Erstattung der geltend gemachten Kosten gerichteten kombinierten Anfechtungs- und Leistungsklage ist das
angefochtene Urteil in Rechtskraft (vgl §
141 Abs.
1 Nr
1 SGG) erwachsen und bindet die Beteiligten, weil die Klägerin insoweit kein Rechtsmittel eingelegt hat.
Die Ablehnung des am 8. Januar 2019 gestellten Antrages der Klägerin auf Übernahme der Fahrtkosten für den am 2. Januar 2019
angetretenen Schulabschlusskurs ist jedenfalls für die Zeit ab Antragstellung mit der in dem angefochtenen Bescheid gegebenen
Begründung rechtswidrig, weil es nach den gesetzlichen Vorschriften insoweit nicht darauf ankommt, ob der Antrag vor dem Beginn
des Kursbesuchs gestellt worden ist. Die tatbestandlichen Voraussetzungen für eine insoweit von dem Beklagten (noch) zu treffende
Ermessensentscheidung sind erfüllt.
Gemäß § 16 Abs. 1 Satz 1 SGB II erbringt der Beklagte zur Eingliederung in Arbeit Leistungen nach §
35 Sozialgesetzbuch - Arbeitsförderung - (
SGB III). Er "kann" folgende Leistungen des dritten Kapitels des
SGB III erbringen: 1. die übrigen Leistungen der Beratung und Vermittlung nach dem ersten Abschnitt, 2. Leistungen zur Aktivierung
und beruflichen Eingliederung nach dem zweiten Abschnitt, 3. Leistungen zur Berufsausbildung nach dem vierten Unterabschnitt
des dritten Abschnitts und Leistungen nach den §§ 54a und 130, 4. Leistungen zur beruflichen Weiterbildung nach dem vierten
Abschnitt und Leistungen nach den §§ 131a und 131b, 5. Leistungen zur Aufnahme einer sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung
nach dem ersten Unterabschnitt des fünften Abschnitts. Soweit das SGB II nichts Abweichendes regelt, gelten für die Leistungen nach § 16 Abs. 1 SGB II die Voraussetzungen und Rechtsfolgen des
SGB III mit Ausnahme der Verordnungsermächtigung nach §
47 SGB III sowie der Anordnungsermächtigungen für die Bundesagentur und mit der Maßgabe, dass an die Stelle des Arbeitslosengeldes das
Arbeitslosengeld (Alg) II tritt (§ 16 Abs. 2 Satz 1 SGB II). §
44 Absatz
3 Satz 3
SGB III gilt mit der Maßgabe, dass die Förderung aus dem Vermittlungsbudget auch die anderen Leistungen nach dem SGB II nicht aufstocken, ersetzen oder umgehen darf (§ 16 Abs. 2 Satz 2 SGB II).
Bei den von der Klägerin begehrten Leistungen handelt es sich um solche aus dem Vermittlungsbudget gemäß §
44 SGB III, die die Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nicht aufstocken, ersetzen oder umgehen. Denn sie dienen der Eingliederung
der Arbeit suchenden Klägerin durch die Heranführung an einen Schulabschluss. Die Klägerin hat entsprechende Leistungsanträge
am 8. Januar 2019 (Fahrtkosten) bzw 14. Februar 2019 (Taschenrechner als Arbeitsmittel) gestellt.
Auf die Vorschriften des ersten Abschnitts des neunten Kapitels des
SGB III (§§
323 ff) und damit auf die Regelung des §
324 Abs.
1 Satz 1
SGB III, wonach Leistungen nur erbracht werden, wenn sie vor Eintritt des leistungsbegründenden Ereignisses beantragt worden sind,
wird in § 16 Abs. 1 SGB II nicht ausdrücklich verwiesen. Nach § 16 Absatz 2 Satz 1 SGB II steht die Anwendbarkeit der Vorschriften des
SGB III jedoch unter dem Vorbehalt, dass im SGB II insoweit keine abweichenden Regelungen enthalten sind. Eine solche abweichende Sonderregelung findet sich in § 37 Abs. 1 SGB II; und zwar auch bezogen auf Eingliederungsleistungen (vgl etwa Eicher/Stölting in: Eicher/Spellbrink, SGB II, 3. Aufl § 16 Rn 58,59 - mwN). Dies ergibt sich bereits aus dem Gesetzeswortlaut, der sich uneingeschränkt auf Leistungen der Grundsicherung
für Arbeitsuchende bezieht (§ 37 Abs. 1 Satz 1 SGB II).
Der gemäß § 37 SGB II zu stellende Antrag ist nicht bereits vom (allgemeinen) Antrag auf Gewährung von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts
nach dem SGB II umfasst (vgl auch die Klarstellung des Gesetzgebers in BR-Drucks 661/10 S 184 zu 37), obwohl in § 37 Abs. 1 Satz 2 SGB II in der seit 1. Januar 2011 geltenden Fassung nur für gesonderte, hier nicht einschlägige Leistungen eine gesonderte Antragstellung
geregelt ist. Auch der Antrag auf Eingliederungsleistungen ist indes gesondert zu stellen (vgl Link in Eicher/Spellbrink aaO
§ 37 Rn 35). Insoweit hat das Bundessozialgericht (BSG) zu der bis 31. Dezember 2010 geltenden Rechtslage, dh zu § 37 SGB II in der bis dahin geltenden Fassung, entschieden, dass als beantragt alle Leistungen anzusehen sind, die nach Lage des Falls
ernsthaft in Betracht kommen. Das sind bei einem (allgemeinen) Antrag auf Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts regelmäßig
alle im ersten und zweiten Unterabschnitt des zweiten Abschnitts des dritten Kapitels des SGB II genannten Leistungen. Mit dem Antrag wird mithin ein Hilfebedarf geltend gemacht, der alle Leistungen umfasst, die der Sicherung
des Lebensunterhalts in Form des Alg II dienen (vgl Urteil vom 6. Mai 2010 - B 14 AS 3/09 R = SozR 4-4200 § 28 Nr 3 - Rn 14). Wie oben dargelegt, stellen Eingliederungsleistungen aber gerade keine Leistungen zur
Sicherung des Lebensunterhalts in Form des Alg II dar.
Der am 8. Januar 2019 gestellte Leistungsantrag (Fahrtkosten) wirkt mithin gemäß § 37 Abs. 2 Satz 2 SGB II nicht auf den Ersten des Monats, dh auf den 1. Januar 2019, zurück. Leistungen zur Eingliederung werden von der Rückwirkungsfiktion
nach dem klaren Wortlaut der Vorschrift (vgl demgegenüber § 37 Abs. 1 Satz 1 SGB II) nicht erfasst (vgl Link in Eicher/Spellbrink aaO § 37 Rn 41,42 mwN) so dass eine Leistungsgewährung für Zeiten vor der Antragstellung nicht in Betracht kommt (§ 37 Abs. 2 Satz 1 SGB II). Die Klägerin besucht den Schulabschlusskurs seit 2. Januar 2019 und entsprechende Fahrtkosten und damit ein entsprechender
Bedarf können daher frühestens von diesem Zeitpunkt an angefallen sein. Erst die ab 8. Januar 2019 angefallenen Fahrtkosten
können jedoch vom Antrag der Klägerin umfasst sein. Der Beklagte durfte den Antrag daher insoweit nicht mangels rechtzeitiger
Antragstellung ablehnen. Da die tatbestandlichen Voraussetzungen für eine Leistung aus dem Vermittlungsbudget insoweit im
Übrigen vorliegen, wird der Beklagte für die Zeit ab 8. Januar 2019 eine entsprechende Ermessensentscheidung nachzuholen haben,
die er bislang nicht getroffen hat (Ermessensausfall).
Etwas anderes gilt für den am 14. Februar 2019 gestellten Antrag auf Übernahme der Kosten des am 14. Januar 2019 angeschafften
Taschenrechners im Wert von 27,99 EUR. Denn der entsprechende Bedarf ist bereits mit dem Kauf, dh zu einem Zeitpunkt vor der
Antragstellung (vgl § 37 Abs. 2 Satz 1 SGB II), angefallen und war auch unter Berücksichtigung des "Meistbegünstigungsprinzips" nicht von dem am 8. Januar 2019 gestellten,
ausdrücklich auf "Fahrkosten" beschränkten Antrag umfasst. Aus der von der Klägerin in Bezug genommenen BSG-Entscheidung vom 26. August 2008 (- B 8/9b SO 18/07 R = SozR 43500 § 18 Nr 1) folgt keine andere Beurteilung. Denn dort stand
lediglich in Streit, ob ein beim Grundsicherungsträger gestellter Antrag auf bestimmte Hilfen (Haushaltshilfe) auch beim Sozialhilfeträger
als gestellt gilt. Der Antrag auf Fahrtkosten stellt jedoch keinen inhaltlich bestimmten Antrag auf Deckung eines zum Zeitpunkt
der Antragstellung (8. Januar 2019, Kauf des Taschenrechners am 14. Januar 2019) noch gar nicht bestimmbaren anderen Bedarfs
(Arbeitsmittel) dar. Eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand wegen verspäteter Antragstellung kommt nicht in Betracht,
weil es sich bei der Regelung in § 37 Abs. 2 Satz 1 SGB II nicht um eine gesetzliche Frist handelt (vgl BSG SozR 4-4200 § 37 Nr 5 Rn 23). Die Ablehnungsentscheidung des Beklagten ist daher insoweit nicht zu beanstanden.
Die Kostenentscheidung beruht auf §
193 SGG.
Gründe für eine Zulassung der Revision gemäß §
160 Abs.
2 SGG liegen nicht vor.