Aufhebung der Vollziehung einer rückwirkenden Verrechnung von Vergütungsansprüchen eines Vertragsarztes im einstweiligen Rechtsschutz
im sozialgerichtlichen Verfahren
Gründe:
Die Beschwerde der Antragstellerin gegen den Beschluss des Sozialgerichts Berlin vom 12. März 2013 hat gemäß §§
172 Abs.1, 173
Sozialgerichtsgesetz (
SGG) in dem aus dem Tenor ersichtlichen Umfang Erfolg; im Übrigen war sie ebenso wie die im Beschwerdeverfahren gestellten Anträge
auf Erlass einer einstweiligen Anordnung zurückzuweisen.
1.) Der Senat hat die aufschiebende Wirkung der im Tenor genannten Rechtsbehelfe der Antragstellerin gemäß §§ 86b Abs.
1 Satz 1 Nr.
2,
86a Abs.
2 Nr.
4 SGG i.V.m. §
85 Abs.
4 Satz 6 Sozialgesetzbuch/Fünftes Buch (
SGB V) angeordnet, nachdem die Antragstellerin im Beschwerdeverfahren (erstmals) durch Vorlage entsprechender Unterlagen glaubhaft
gemacht hat, dass die weitere Vollziehung der angefochtenen, noch nicht endgültig bindenden Bescheide für sie eine unbillige,
nicht durch überwiegende öffentliche Interessen gebotene Härte zur Folge hätte (vgl. §
86a Abs.
3 Satz 2
SGG), weil ihr insbesondere der endgültige Verlust ihrer Zahnarztpraxis und ihrer Wohnung und damit ihrer Lebensgrundlage droht.
Die Antragsgegnerin darf deshalb nach der Zustellung dieses Beschlusses zukünftig keine weiteren Vollziehungsmaßnahmen aus
den angefochtenen Bescheiden mehr vornehmen.
2.) Der Senat hat jedoch davon abgesehen, nach §
86b Abs.
1 Satz 2
SGG anzuordnen, dass die von der Antragsgegnerin bereits durchgeführte Vollziehung der angefochtenen Bescheide aufgehoben wird;
soweit die Antragsgegnerin im Weg sachlich-rechnerischer Richtigstellung ihr zahnärztliches Honorar berichtigt und Rückzahlungsansprüche
gegen die Antragstellerin festgesetzt und diese durch die angefochtenen Bescheide gegen Honoraransprüche verrechnet bzw. mit
den Rückzahlungsansprüchen gegen Zahlungsansprüche der Antragstellerin aus zahnärztlichen Behandlungen aufgerechnet hat, bleiben
die von der Antragsgegnerin einbehaltenen Beträge bei dieser, bis über die Rechtsbehelfe der Antragstellerin über die Rechtmäßigkeit
der angefochtenen Bescheide rechtskräftig entschieden worden ist; die Antragsgegnerin ist vorher nicht zur Auszahlung dieser
Beträge verpflichtet.
Nach §
86b Abs.
1 Satz 2
SGG kann das Gericht die Aufhebung der Vollziehung anordnen, wenn der Verwaltungsakt im Zeitpunkt der Entscheidung schon vollzogen
oder befolgt worden ist. 86b Abs. 1 Satz 2
SGG normiert einen unselbständigen Folgenbeseitigungsanspruch und berechtigt das Gericht, bereits erfolgte Vollziehungshandlungen
rückgängig zu machen. Wenn die aufschiebende Wirkung eines Rechtsbehelfs anzuordnen ist, kann zwar auch die Aussetzung der
Vollziehung angezeigt sein. Ein Automatismus besteht jedoch nicht. Vielmehr steht die Entscheidung nach §
86b Abs.
1 Satz 2
SGG im Ermessen des Gerichts. Im Rahmen dieser Ermessensentscheidung, ob eine bereits erfolgte Vollziehung aufzuheben ist und
Leistungen auszuzahlen sind, ist das öffentliche Interesse an dem Fortbestand des Vollzuges gegen das Interesse der Antragstellerin
an der Aufhebung der Vollziehung abzuwägen; diese Abwägung ist von der Interessenabwägung nach §
86b Abs.
1 Satz 1
SGG zu unterscheiden. Nur in Ausnahmefällen, in denen es zur Gewährung effektiven Rechtsschutzes unumgänglich ist, kann im Wege
der Aufhebung der Vollziehung ein Wiederherstellungsanspruch bestehen und eine Maßnahme angeordnet werden, die die Hauptsache
vorwegnimmt (vgl. zum Vorstehenden LSG Berlin-Brandenburg, L 20 AS 1061/09 B ER, zitiert nach juris). Im Rahmen der Interessenabwägung kommt dem öffentlichen Interesse am Fortbestand des Vollzuges
desto mehr Gewicht zu, je weniger die Verwaltungsbehörde damit rechnen kann, nach dem rechtskräftigen Abschluss des Verfahrens
im Falle des Obsiegens von ihr zunächst einbehaltene Geldbeträge von der Antragstellerin erneut erhalten zu können. Daraus
kann zugleich geschlossen werden, dass eine nach §
86a Abs.
3 Satz 2
SGG durch eine Vollziehung entstehende unbillige Härte für sich allein nicht ausreicht, einen Anspruch auf Rückgängigmachung
zu begründen. Vielmehr muss für das Bestehen eines Folgenbeseitigungsanspruchs hinzukommen, dass die Antragstellerin mit ganz
überwiegender Wahrscheinlichkeit den Rechtsstreit in der Hauptsache gewinnen wird. Dies gilt erst recht, wenn es um die Auszahlung
von Leistungen für die Vergangenheit geht und eine laufende Leistungsbeziehung zwischen den Beteiligten besteht, weil grundsätzlich
erwartet werden kann, dass die Antragstellerin die für sie notwendigen Ausgaben aus gegenwärtigen Leistungen wird decken können.
Unter Berücksichtigung dieser Grundsätze besteht hier kein Anspruch auf Rückgängigmachung der Vollzugsfolgen. Die Antragsgegnerin
würde nach Auszahlung der einbehaltenen Beträge angesichts der im Beschwerdeverfahren nachgewiesenen desolaten finanziellen
Lage der Antragstellerin keine realistische Chance mehr besitzen, im Falle des Obsiegens in der Hauptsache auch nur einen
Euro von der Antragstellerin zu erhalten. Die Antragstellerin, die selbst das Bestehen eines Vollzugsfolgenbeseitigungsanspruchs
weder behauptet noch einen Antrag nach §
86b Abs.
1 Satz 2
SGG gestellt hat, wird nach dem derzeitigen Verfahrensstand das Hauptsacheverfahren auch nicht gewinnen können. Zu Recht hat
das Sozialgericht in diesem Zusammenhang schon darauf hingewiesen, dass unklar ist, ob und in welchem Umfang die Antragstellerin
gegen die Berichtigungsbescheide, die der Verrechnung/Aufrechnung zugrunde liegen, Widerspruch eingelegt hat; damit bleibt
derzeit ungeklärt, in welchem Umfang die Berichtigungsbescheide bestandskräftig geworden sind und selbst im Falle der Rechtswidrigkeit
der Verrechnungsbescheide ggf. erneut zur Verrechnung/Aufrechnung berechtigen würden. Im vorliegenden Verfahren hat sie mit
Ausnahme eines Hinweises auf die (nachträgliche) Anerkennung einiger Härtefälle durch die betroffenen Krankenkassen bei der
Bewilligung von Zahnersatz für ihre Versicherten überhaupt keine Einwendungen gegen die Berichtigungs- und Verrechnungsbescheide
erhoben und insoweit auf den Ausgang der von der Antragsgegnerin eingeleiteten Strafverfahren verwiesen. Bei dieser Sach-
und Rechtslage kommt deshalb eine Rückgängigmachung der Vollzugsfolgen durch den Senat nicht in Betracht.
3.) Soweit die Antragstellerin in der Beschwerde beantragt, festzustellen, dass das Sicherungsbedürfnis der Antragsgegnerin
mit einem maximalen Einbehalt von 25% der sich aus den Bescheiden vom 07. November 2012 und 12. Februar 2013 zu zahlenden
Honorare angemessen berücksichtigt sei, fehlt ihr hierfür schon ein schutzwürdiges rechtliches Interesse bzw. jedenfalls das
für einen Anordnungsgrund nach §
86 Abs.
2 Satz 2
SGG erforderliche eilige Regelungsbedürfnis. Denn mit einer Feststellung über den Umfang, in dem das Sicherungsbedürfnis der
Antragsgegnerin angemessen berücksichtigt wäre, würde die Antragstellerin gegen die Antragsgegnerin keinen durchsetzbaren
Anspruch zur Auszahlung einbehaltener Beträge erwerben; damit könnte sie die Antragsgegnerin bei Verweigerung der Auszahlung
dazu nicht zwingen. "Feststellungsanordnungen" im vorläufigen Rechtsschutzverfahren nach §
86b Abs.
2 SGG sind deshalb nur dann zu erlassen, wenn ein Rechtssuchender aus prozessualen Gründen keine Möglichkeit hat, gegen eine Behörde
mit einem Leistungsbegehren vorzugehen. Das ist hier jedoch nicht der Fall, wie schon der vor dem Sozialgericht gestellte
dortige Antrag zu 5) zeigt, der in der Sache auf einen (allerdings noch geringeren) Einbehalt durch die Antragsgegnerin gerichtet
war. Selbst wenn die Antragstellerin aber einen bezifferten Leistungsantrag gestellt hätte, besäße sie dafür angesichts der
derzeit nicht zu erkennenden Chancen auf eine obsiegende Entscheidung im Hauptsacheverfahren gegen die Verrechnung/Aufrechnung
von ihr erzielter Honorare keinen Anordnungsanspruch.
4.) Soweit die Antragstellerin erstmals beantragt hat, die Antragsgegnerin zu verpflichten, ihr im Wege einer einstweiligen
Anordnung von Oktober 2012 bis einschließlich März 2014 einen Betrag von monatlich 10.000 € zu zahlen, hat sie für den Zeitraum
von Oktober 2012 bis zum Tage der Entscheidung durch den Senat schon keinen Anordnungsgrund und für den gesamten Zeitraum
in Übrigen keine Anordnungsanspruch glaubhaft gemacht.
a) In einem Verfahren auf Erlass einer einstweiligen Anordnung beurteilt sich das Vorliegen eines Anordnungsgrundes nach dem
Zeitpunkt, in dem das Gericht über den Eilantrag entscheidet; im Beschwerdeverfahren ist dies der Zeitpunkt der Beschwerdeentscheidung.
Dies folgt daraus, dass in dem Erfordernis eines Anordnungsgrundes ein spezifisches Dringlichkeitselement enthalten ist, welches
im Grundsatz nur Wirkungen für die Zukunft entfalten kann. Die rückwirkende Feststellung einer - einen zurückliegenden Zeitraum
betreffenden - besonderen Dringlichkeit ist zwar rechtlich möglich, sie kann jedoch in aller Regel nicht mehr zur Bejahung
eines Anordnungsgrundes führen. Denn die prozessuale Funktion des einstweiligen Rechtsschutzes besteht vor dem Hintergrund
des Artikels 19 Absatz 4
Grundgesetz (
GG) darin, in dringenden Fällen effektiven Rechtsschutz zu gewährleisten, in denen eine Entscheidung im - grundsätzlich vorrangigen
- Verfahren der Hauptsache zu spät käme, weil ohne sie schwere und unzumutbare, anders nicht abwendbare Nachteile entstünden,
zu deren nachträglicher Beseitigung die Entscheidung in der Hauptsache nicht mehr in der Lage wäre (Bundesverfassungsgericht,
Beschlüsse vom 22. November 2002 - 1 BvR 1586/02 - und vom 12. Mai 2005 - 1 BvR 569/05; zitiert nach juris). Dies bedeutet aber zugleich, dass die Annahme einer besonderen Dringlichkeit und dementsprechend die
Bejahung eines Anordnungsgrundes in aller Regel ausscheidet, soweit diese Dringlichkeit vor dem Zeitpunkt der gerichtlichen
Entscheidung vorgelegen hat, denn insoweit ist die besondere Dringlichkeit durch den Zeitablauf überholt, das Abwarten einer
Entscheidung im Verfahren der Hauptsache über den zurückliegenden Zeitraum ist der Rechtsschutzsuchenden in aller Regel zumutbar.
Der Antragstellerin können durch die Versagung einer Auszahlung von monatlich 10.000 € für die Vergangenheit deshalb grundsätzlich
keine wesentlichen Nachteile mehr entstehen, die sich durch den Erlass der auf eine zukünftige Regelung gerichteten einstweiligen
Anordnung noch abwenden ließen. Denn die Antragstellerin hat in der Zeit, für die sie im Wege des Erlasses einer einstweiligen
Anordnung Zahlung begehrt, ihren Lebensunterhalt bereits aus eigenen oder fremden Mitteln gedeckt, so dass sie hierfür auf
die begehrte Zahlung nicht mehr angewiesen ist. Für die Erstattung dazu möglicherweise aufgewandter eigener finanzieller Mittel
oder zur Tilgung hierfür eventuell eingegangener Verbindlichkeiten kann die begehrte einstweilige Anordnung nicht ergehen,
weil die damit verbundenen Nachteile bereits eingetreten sind und deshalb nicht mehr abgewendet werden können.
Das Gebot des effektiven Rechtsschutzes nach Artikel
19 Abs.
4 GG kann zwar in besonderen Fällen ausnahmsweise auch die Annahme eines Anordnungsgrundes für zurückliegende Zeiträume verlangen,
so insbesondere dann, wenn andernfalls effektiver Rechtsschutz im Hauptsacheverfahren nicht erlangt werden kann, weil bis
zur Entscheidung im Verfahren der Hauptsache Fakten zum Nachteil der Rechtsschutzsuchenden geschaffen worden sind, die sich
durch eine - stattgebende - Entscheidung im Verfahren der Hauptsache nicht oder nicht hinreichend rückgängig machen lassen.
Derartige Umstände sind hier nicht ersichtlich. Insbesondere ist es nicht Aufgabe des vorläufigen Rechtsschutzes in Verfahren
wie dem vorliegenden, Rechtsschutzsuchenden die Mittel zur Rückzahlung von in der Vergangenheit entstandenen privaten Schulden
zu beschaffen (ständige Rechtsprechung LSG Berlin-Brandenburg, vgl. u.a. Beschluss vom 30. Januar 2008, - L 9 B 600/07 KR ER -, zitiert nach juris).
b) Erst recht ist nicht zu erkennen, dass der Antragstellerin gegen die Antragsgegnerin in dem geltend gemachten Umfang ein
Anordnungsanspruch zusteht. Dieser könnte sich der Sache nach nur aus einem Anspruch auf bisher noch nicht ausgezahlte zahnärztliche
Honorare ergeben. Denn Vertragszahnärzte sind freiberuflich tätig; es gehört nicht zu den Aufgaben der Antragsgegnerin, in
Not geratenen Zahnärzte zu alimentieren und ihnen über Subventionen, die Fortsetzung ihrer vertragszahnärztlichen Tätigkeit
zu ermöglichen. Die wirtschaftlichen Risiken tragen die Vertragszahnärzte vielmehr selbst, einschließlich des Insolvenzrisikos.
Wie der Senat bereits dargelegt hat, darf die Antragsgegnerin die bisher schon verrechneten/aufgerechneten Honorare bis zur
rechtskräftigen Entscheidung in der Hauptsache einbehalten. Dass die Antragstellerin darüber hinaus gegen die Antragsgegnerin
einen Honoraranspruch erworben hat, hat sie bisher weder substantiiert behauptet, glaubhaft gemacht noch einen entsprechenden
Anspruch nachvollziehbar beziffert. Es ist nicht einmal ersichtlich, ob und in welchem Umfang die Antragstellerin über die
den einbehaltenen Honoraren zugrunde liegenden Leistungen hinaus weitere zahnärztliche Leistungen erbracht und gegenüber der
Antragstellerin abgerechnet hat. Bei dieser Sachlage ist nicht zu erkennen, woraus sich der geltend gemachte Zahlungsanspruch
ergeben soll.
5.) Der Senat hat der Antragstellerin im Hinblick auf ihre finanzielle Lage, den unübersichtlichen entscheidungserheblichen
Sachverhalt und die komplizierten Rechtsfragen, die zu klären waren, sowie wegen ihres teilweisen Obsiegens in dem aus dem
Tenor ersichtlichen Umfang Prozesskostenhilfe gemäß §
73a SGG i.V.m. §
114 Zivilprozessordnung gewährt.
Die Kostenentscheidung beruht auf §
197a SGG,
155 Abs.
1 VwGO und entspricht dem Ausgang in der Sache. Die Wertfestsetzung beruht auf §§ 52, 53 GKG.
Dieser Beschluss kann nicht mit der Beschwerde zum Bundessozialgericht angefochten werden (vgl. §
177 SGG).