Voraussetzungen der Zugangsfiktion eines Verwaltungsakts - Wiedereinsetzung in den vorigen Stand
Tatbestand
Die Beteiligten streiten um die Rechtmäßigkeit der abschließenden Festsetzung und Erstattung von Leistungen zur Sicherung
des Lebensunterhalts nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) für den Zeitraum vom 1. Mai 2018 bis zum 31. Oktober 2018.
Die 1977 geborene, erwerbsfähige Klägerin war im streitgegenständlichen Zeitraum selbständig tätig und erhielt aufstockend
Leistungen nach dem SGB II vom Beklagten. Mit Bescheid vom 7. Mai 2018 bewilligte der Beklagte ihr vorläufig Leistungen für den Zeitraum vom 1. Mai
2018 bis zum 31. Oktober 2018.
Mit Schreiben vom 22. Oktober 2018 forderte der Beklagte die Klägerin auf, für den streitgegenständlichen Zeitraum abschließende
Angaben zu ihrem Einkommen aus selbständiger Tätigkeit zu machen und Unterlagen vorzulegen. Mit Bescheid vom 14. Oktober 2019
stellte der Beklagte fest, dass ein Leistungsanspruch für den Zeitraum vom 1. Mai 2018 bis zum 31. Oktober 201 nicht bestanden
habe. Gleichzeitig forderte er die Erstattung der vorläufig erbrachten Leistungen in Höhe von 3.908,39 Euro von der Klägerin.
Den hiergegen gerichteten Widerspruch der Klägerin wies der Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 25. Mai 2020 zurück. Der
Widerspruchsbescheid enthielt eine Rechtsbehelfsbelehrung, in der darauf hingewiesen wurde, dass innerhalb eines Monats nach
Bekanntgabe Klage zum Sozialgericht Hamburg erhoben werde könne. In der elektronischen Verwaltungsakte ist von der Sachbearbeiterin,
die den Widerspruchsbescheid verfasst hat, vermerkt, dass der Widerspruchsbescheid am 26. Mai 2020 abgesandt worden sei.
Am 13. Juni 2020 hat die Klägerin Klage zum Sozialgericht Hamburg erhoben und ihr Begehren weiterverfolgt. Zur Begründung
hat sie vorgetragen, sie habe mehrfach um Termine gebeten und sei vom Beklagten ignoriert worden. Sie habe alles Mögliche
eingereicht. Sie bitte um Wiedereinsetzung in den vorigen Stand. Wegen der Coronakrise sei es ihr nicht möglich gewesen, sich
beraten zu lassen. Aus diesem Grund sei sie verhindert gewesen, früher Klage zu erheben. Sie könne sich nicht erinnern, wann
sie den Widerspruchsbescheid erhalten habe. Sie habe sehr viel Schriftverkehr gehabt.
Das Sozialgericht hat die Klage mit Gerichtsbescheid vom 14. Oktober 2021 abgewiesen. Zur Begründung hat es ausgeführt, die
Klage sei bereits unzulässig, da die Klagfrist versäumt worden sei. Gemäß §
87 Sozialgerichtsgesetz (
SGG) sei die Klage binnen eines Monats nach Zustellung bzw. Bekanntgabe des Verwaltungsakts zu erheben. Über diese Frist sei
die Klägerin im Widerspruchsbescheid ordnungsgemäß belehrt worden. Der Widerspruchsbescheid sei nach Angaben des Beklagten
am 26. Mai 2020 zur Post gegeben worden. Zwar sei die Zugangsfiktion des § 37 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X) hier nicht anwendbar, da der Vermerk der Sachbearbeiterin nicht ausreiche, um die Aufgabe zur Post zu belegen. Dennoch sprächen
die überwiegenden Anhaltspunkte dafür, dass der Widerspruchsbescheid der Klägerin zeitnah bekannt gegeben wurde, denn die
Klägerin selbst sei davon ausgegangen, die Klagfrist nicht gewahrt zu haben. Wiedereinsetzung in den vorigen Stand sei nicht
zu gewähren, da nicht ersichtlich sei, dass die Klägerin nicht in der Lage gewesen sei, die Klage rechtzeitig zu erheben.
Gegen den ihr am 21. Oktober 2021 zugestellten Gerichtsbescheid hat die Klägerin am 17. November 2021 Berufung zum Landessozialgericht
Hamburg erhoben. Sie hat ihr erstinstanzliches Vorbringen wiederholt und vertieft. Sie habe alleine nicht gewusst, welche
Schritte sie gegen den Widerspruchsbescheid unternehmen sollte und sei aus diesem Grund auf fremde Hilfe angewiesen gewesen,
alle Beratungsstellen sowie Rechtsanwälte seien wegen der Pandemie jedoch geschlossen gewesen. Sie habe Probleme, die Bescheide
des Beklagten zu verstehen und sich deshalb immer von einer Dame beim R. beraten lassen. In der hier maßgeblichen Zeit sei
diese Dame erkrankt gewesen, sodass sie dort keine Beratung habe erhalten können.
Die Klägerin beantragt,
den Gerichtsbescheid vom 14. Oktober 2021 sowie die Bescheide vom 14. Oktober 2019 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids
vom 25. Mai 2020 aufzuheben und den Beklagten zu verpflichten, ihr für den Zeitraum vom 1. Mai 2018 bis zum 31. Oktober 2018
Leistungen nach dem SGB II gemäß den gesetzlichen Vorgaben zu gewähren.
Der Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Er hält die Ausführungen im angefochtenen Gerichtsbescheid für überzeugend.
Mit Beschluss vom 18. Februar 2022 hat der Senat die Berufung nach §
153 Abs.
5 SGG der Berichterstatterin zur Entscheidung mit den ehrenamtlichen Richtern übertragen. Wegen der weiteren Einzelheiten des Vorbringens
der Beteiligten und des Sachverhalts wird auf den Inhalt der Prozessakte sowie der Verwaltungsakte des Beklagten verwiesen,
die Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen sind.
Entscheidungsgründe
Der Senat entscheidet nach §
153 Abs.
5 SGG durch die Berichterstatterin und die ehrenamtlichen Richterinnen.
Die Berufung ist statthaft (§§
143,
144 SGG) und auch im Übrigen zulässig. Die Berufung ist aber nicht begründet, denn das Sozialgericht hat die Klage zu Recht als unzulässig
abgewiesen. Die Klage wurde nämlich nicht innerhalb der Klagfrist von einem Monat ab Bekanntgabe des Widerspruchsbescheids
(§
87 Abs.
1 SGG) erhoben.
Die am 13. Juli 2020, einem Montag, beim Sozialgericht eingegangene Klage richtet sich gegen den Widerspruchsbescheid vom
25. Mai 2020. Der Widerspruchsbescheid enthielt eine zutreffende und vollständige Belehrung über den Rechtsbehelf der Klage,
sodass eine Verlängerung der Klagfrist auf ein Jahr gemäß §
66 SGG ausscheidet. Die Rechtsbehelfsbelehrung muss den statthaften Rechtsbehelf, das zuständige Gericht und die Klagefrist zutreffend
bezeichnen. Das ist hier der Fall, die dem Widerspruchsbescheid beigefügte Rechtsbehelfsbelehrung verwies darauf, dass Klage
beim Sozialgericht Hamburg (mit Anschrift) erhoben werden kann und gab als Klagfrist zutreffend „innerhalb eines Monats nach
Bekanntgabe“ an.
Der Widerspruchsbescheid ist nach den Angaben des Beklagten am 26. Mai 2020 in die Post gegeben worden. Wie das Sozialgericht
zutreffend dargelegt hat, reicht der entsprechende Vermerk über die Absendung zwar nicht aus, um die Bekanntgabefiktion des
§ 37 Abs. 2 SGB X auszulösen. Dennoch hat auch der Senat keinen Zweifel daran, dass der Widerspruchsbescheid der Klägerin jedenfalls binnen
einiger Tage nach dem 26. Mai 2020 zugegangen ist. Anhaltspunkte dafür, dass der Beklagte den Bescheid nicht wie in der Akte
vermerkt am 26. Mai 2020 auf den Postweg gebracht oder dass die Post ungewöhnlich lange gedauert hat, sind nicht erkennbar.
Die Klägerin selbst hat auf die Nachfrage des Sozialgerichts angegeben, sie erinnere nicht mehr genau, wann ihr der Widerspruchsbescheid
zugegangen sei. Bereits in der am 10. Juli 2020 verfassten Klagschrift ging die Klägerin aber selbst davon aus, dass die Klage
verfristet sei, denn sie bat um Wiedereinsetzung. Nach alldem ist von einem Zugang des Widerspruchsbescheids jedenfalls deutlich
vor dem 11. Juni 2020 auszugehen, sodass die Klage verfristet war.
Wiedereinsetzung in den vorigen Stand war nicht zu gewähren. Eine Wiedereinsetzung setzt gem. §
67 Abs.
1 SGG voraus, dass der Betroffene ohne Verschulden verhindert war, die Frist einzuhalten. Das ist hier nicht erkennbar und ergibt
sich insbesondere nicht aus dem Vortrag der Klägerin, es sei ihr allein nicht möglich gewesen, die Klage früher einzureichen
und sie habe wegen der Pandemie keine Beratung erhalten können. Aus der Rechtsbehelfsbelehrung des Widerspruchs ergab sich
eindeutig, wie hiergegen vorgegangen werden konnte. Die Klägerin hat gegenüber dem Beklagten und in einem weiteren Klageverfahren
vor dem Sozialgericht durchaus kompetent ihre Belange vertreten. Sofern sie hierbei Hilfe benötigte, war sie gehalten – und
nach Überzeugung des Senats auch durchaus in der Lage – sich diese rechtzeitig zu beschaffen. Zwar ist Deutsch nicht die Muttersprache
der Klägerin, sie war aber in der mündlichen Verhandlung durchaus in der Lage, sich hinreichend zu verständigen. Nach der
Rechtsprechung des Bundessozialgerichts ist im Übrigen auch bei unzureichenden Sprachkenntnissen Wiedereinsetzung zu versagen,
wenn der Beteiligte nicht alles unternommen hat, was ihm möglich und zumutbar ist, um seine Interessen zureichend zu verfolgen
(BSG, Beschluss vom 14.6.1988 – 7 Bar 58/88). Hier lässt sich dem Vorbringen der Klägerin aber gerade nicht entnehmen, dass sie
alles ihr Mögliche und Zumutbare unternommen hat, um die Klagfrist zu wahren. Wenn – wie die Klägerin vorträgt – die Person,
die ihr üblicherweise beratend zur Seite stand, im entscheidenden Zeitraum wegen Krankheit nicht zur Verfügung stand, dann
hätte sie sich ggf. anderweitig Hilfe suchen müssen und können. Dies hat sie offensichtlich nicht getan. Ihr Vortrag, sämtliche
Beratungsstellen und Anwaltskanzleien seien im Mai/Juni 2020 geschlossen gewesen, ist nicht nachvollziehbar. Ein „Lockdown“
galt in diesem Zeitraum nicht, zudem hätte die Klägerin auch auf telefonische bzw. Online/Email-Beratungsangebote zurückgreifen
können.
Die Kostenentscheidung beruht auf §
193 SGG.
Die Revision war nicht zuzulassen, weil die Voraussetzungen des §
160 Abs.
2 Nr.
1 oder 2
SGG nicht vorliegen.