Schwerbehindertenrecht
Merkzeichen RF
Harninkontinenz
Tatbestand:
Die Beteiligten streiten über die Gewährung des Merkzeichens RF (Befreiung von der Rundfunkgebührenpflicht bzw. ab 1.1.2013
Ermäßigung von der Rundfunkbeitragspflicht) als Nachteilsausgleich an die Klägerin.
Die am xxxxx 1932 geborene Klägerin beantragte zuletzt am 21. August 2012 im Rahmen der Neufeststellung ihres Grades der Behinderung
(GdB) nach mehrmaligem Scheitern dieses Antrages erneut u.a. die Zuerkennung des Merkzeichens RF. Zu diesem Zeitpunkt war
ein Grad der Behinderung (GdB) von 80 ohne Merkzeichen festgestellt.
Diesen Antrag lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 23. Januar 2013 ab. Auch die Voraussetzungen für die beantragten Merkzeichen
seien nicht erfüllt. Ihren dagegen gerichteten Widerspruch (Schreiben vom 29. Januar 2013; Eingang bei der Beklagten am 4.
Februar 2013) beschränkte die Klägerin auf die Ablehnung des Merkzeichens RF. Wegen ihrer seit über 10 Jahren bestehenden
Harninkontinenz und der jetzt hinzugetretenen Stuhlinkontinenz könne sie keine öffentlichen Veranstaltungen besuchen. Zur
Unterstützung ihres Vorbringens reichte sie das ärztliche Attest des Urologen Dr. K. vom 5. Februar 2013 ein, welches das
Vorliegen einer Urininkontinenz bestätigte. Mit Widerspruchsbescheid vom 20. Februar 2013 wies die Beklagte den Widerspruch
zurück.
Am 6. März 2013 ist die hiergegen erhobene Klage der Klägerin bei Gericht eingegangen. Neben ihrer sonstigen körperlichen
Einschränkungen könne sie aufgrund der Inkontinenz nicht mehr am Leben in der Öffentlichkeit teilnehmen. Daran hindere sie
auch der Scham und die Belästigung anderer Menschen durch störende Gerüche. Außerdem liege eine starke Hörbehinderung vor.
Nach Einholung eines Entlassungsberichtes über einen Klinikaufenthalt der Klägerin vom 10. September bis 8. Oktober 2013 in
B. und von Befundberichten der behandelnden Ärzte der Klägerin (Dr. S., Arzt für Orthopädie, Dr. P., Arzt für Allgemein Medizin,
Dr. K., Arzt für Urologie, Dres. H. und R., Ärzte für Hals-, Nasen- und Ohrenheilkunde sowie aus der Pulmologisch-Allergologischen
Gemeinschaftpraxis W., dem Diabeteszentrum H. und dem Zentrum für Gefäßmedizin) sowie richterlichem Hinweis des erstinstanzlichen
Gerichts, dass wegen der fehlenden Erfolgsaussicht der Klage kein Gutachten eingeholt werde, hat die Klägerin ein Gutachten
nach §
109 Sozialgerichtsgesetz (
SGG) durch den Arzt für Urologie Dr. K1 in S1 beantragt. Nach Untersuchung der Klägerin am 21. April 2015 in H1 hat der Sachverständige
Dr. K1 in seinem Gutachten vom 8. Juni 2015 als Ergebnis seiner Begutachtung formuliert, es liege eine starke Harninkontinenz
mit ausgeprägten sozialen Folgen vor. Allein wegen der Harnblase sei ein GdB von 70 gerechtfertigt.
Mit Neufeststellungsbescheid vom 1. Oktober 2015 hat daraufhin die Beklagte einen Gesamt-GdB von 100 ab 21. April 2015 und
das Vorliegen des Merkzeichens G (erhebliche Gehbehinderung) festgestellt. Sie legte dabei folgende Teil-GdB zu Grunde:
- Harninkontinenz 70,
- Schlaf-Apnoe-Syndrom, Lungenfunktionseinschränkung 40,
- Kniegelenksverschleiß beidseits, chronisch venöse Insuffizienz beider Beine 40,
- Funktionsstörung beider Hände 20,
- Diabetes mellitus 20,
- Bluthochdruck 20,
- Schwerhörigkeit 20,
- Psychische Minderbelastbarkeit 20,
- Magen-Darmstörung 10.
Die Klägerin hat weiter die Auffassung vertreten, die Voraussetzungen für das Merkzeichen RF seien wegen der ausgeprägten
Harninkontinenz erfüllt. Im Termin zur mündlichen Verhandlung am 25. Mai 2016 hat der Bevollmächtige der Klägerin ein Schreiben
der Tochter der Klägerin überreicht, in dem diese die aktuelle Situation der Klägerin schildert.
Mit Urteil vom 25. Mai 2016 hat das Sozialgericht die Klage abgewiesen. Die Klägerin erfülle nicht die Voraussetzungen für
die Feststellung des Merkzeichens RF. Es liege keine so starke Einschränkung der Mobilität der Klägerin vor, dass sie faktisch
ans Haus "gebunden" wäre. Auch sei sie nicht aus sonstigen Gründen von der Teilnahme an öffentlichen Veranstaltungen dauerhaft
ausgeschlossen, weil eine Blasenentleerungsstörung mit unkontrolliertem Harnabgang kein für die Umgebung unzumutbar abstoßender
oder störend wirkender Umstand sei. Dies habe die höchstrichterliche Rechtsprechung entschieden (Urteil des Bundessozialgerichts
vom 9. August 1995, 9 RVs 3/95, Juris) und dem sei zu folgen, weil die Klägerin Vorlagen benutzen und diese auch selbst wechseln könne. Sollten Vorlagen
nicht ausreichen, gebe es die Möglichkeit des Gebrauchs von Windelhosen.
Gegen das am 6. Juni 2016 zugestellte Urteil hat die Klägerin am 27.Juni 2016 Berufung eingelegt. Sie habe unter zwei Aspekte
Anspruch auf Feststellung des Merkzeichens RF. Zum einen sei ihre Möglichkeit sich fortzubewegen so eingeschränkt, dass sie
auf Dauer selbst mit Hilfe von Begleitpersonen oder mit technischen Hilfsmitteln öffentliche Veranstaltung nicht mehr zumutbar
besuchen könne, denn sie sei bereits nach 200 Metern atemlos und müsse eine lange Pause einlegen. Im Übrigen könne sie die
3 Etagen in ihre Wohnung nicht mehr ohne fremde Hilfe bewältigen. Zum anderen führe die ausgeprägte Harninkontinenz im Sinne
einer Stresssymptomatik dazu, dass ein Vorlagenbedarf von 14 Vorlagen innerhalb von 24 Stunden bestehe und dennoch ein komplettes
Einnässen immer wieder vorkomme. Dies wirke auf die Umwelt unzumutbar abstoßend und störend.
Die Klägerin beantragt sinngemäß,
das Urteil des Sozialgerichts Hamburg vom 25. Mai 2016 und den Bescheid der Beklagten vom 23. Januar 2013 in der Fassung des
Widerspruchsbescheides vom 20. Februar 2013 aufzuheben sowie den Neufeststellungsbescheid vom 1. Oktober 2015 abzuändern und
die Beklagte zu verurteilen, bei der Klägerin die Voraussetzungen für das Merkzeichen RF festzustellen.
Die Beklagte beantragt,
die Berufung der Klägerin zurückzuweisen.
Sie hält die erstinstanzliche Entscheidung für zutreffend und überzeugend.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten im Übrigen wird auf die Prozessakten
sowie die Verwaltungsakten der Beklagten und die Prozessakte des Verfahrens S 29 SB 351/14 verwiesen. Sie sind Gegenstand der Entscheidung gewesen.
Entscheidungsgründe:
Über die Berufung konnte die Berichterstatterin an Stelle des Senats und im schriftlichen Verfahren entscheiden, weil sich
die Beteiligten damit einverstanden erklärt haben (§
124 Abs.
2 und §
155 Abs.
4 in Verbindung mit Abs.
3 Sozialgerichtsgesetz (
SGG)).
Die statthafte, form- und fristgerecht eingelegte und auch im Übrigen zulässige Berufung der Klägerin (vgl. §§
143,
144,
151 SGG) ist nicht begründet.
Zu Recht und mit zutreffender Begründung hat das Sozialgericht die auf Feststellung des Merkzeichens RF gerichtete Klage abgewiesen.
Zur Vermeidung von Wiederholungen nimmt das Gericht insoweit Bezug auf die Begründung des sozialgerichtlichen Urteils (§
153 Abs.
2 SGG).
Da es sich vorliegend um eine Anfechtungs- und Verpflichtungs- (bzw. Feststellungs-) Klage handelt, gilt die Sach- und Rechtslage
im Zeitpunkt der Entscheidung. Der bei Antragstellung gültige Rundfunkgebührenstaatsvertrag Hamburg, der in seinem § 6 die
Voraussetzungen für eine Gebührenbefreiung natürlicher Personen regelte, war nur bis 31.12.2012 in Kraft. Er wurde abgelöst
vom Rundfunkbeitragsstaatsvertrag Hamburg (mit einer in allen Bundesländern identischen Regelung), der für den Personenkreis
mit dem Merkzeichen RF lediglich noch eine Ermäßigung auf ein Drittel in seinem § 4 Abs. 2 vorsieht. Die von der Klägerin
in der Berufungsbegründung zitierten Voraussetzungen für das Merkzeichen RF geben den Wortlaut der Nr. 33 der Anhaltspunkte
für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertengesetz 2007 (AHP 2007) wieder. Die Anhaltspunkte wurden abgelöst von der Anlage Versorgungsmedizinische Grundsätze (VG) zur Verordnung
zur Durchführung des § 1 Abs. 1 und 3, des 30 Abs. 1 und des § 35 Abs. 1 des Bundesversorgungsgesetzes (Versorgungsmedizinverordnung (VersMedV)) vom 10. Dezember 2008 (BGBl. I, 2412) in der Fassung der Änderung durch Artikel 18 Absatz 4 des Gesetzes vom 23. Dezember
2016 (BGBl. I S. 3234). Der Wortlaut der aufgehobenen AHP 2007 kann dieser Entscheidung nicht zugrunde gelegt werden.
Nach § 4 Abs. 2 Rundfunkbeitragsstaatsvertrag Hamburg (inzwischen in der Fassung der Änderung ab 1. Januar 2017) wird der
Rundfunkbeitrag auf Antrag für folgende natürliche Personen auf ein Drittel ermäßigt: 1. blinde oder nicht nur vorübergehend
wesentlich sehbehinderte Menschen mit einem Grad der Behinderung von wenigstens 60 allein wegen der Sehbehinderung, 2. hörgeschädigte
Menschen, die gehörlos sind oder denen eine ausreichende Verständigung über das Gehör auch mit Hörhilfen nicht möglich ist,
und 3. behinderte Menschen, deren Grad der Behinderung nicht nur vorübergehend wenigstens 80 beträgt und die wegen ihres Leidens
an öffentlichen Veranstaltungen ständig nicht teilnehmen können.
Zu Recht hat das Sozialgericht die Voraussetzungen nur der Nr. 3 dieser Regelung geprüft, denn die anderen Varianten treffen
von vornherein nicht zu. Die Nr. 2 scheidet schon deswegen aus, weil es keine ärztliche Bestätigung oder einen Hinweis in
den Unterlagen der behandelnden Ärzte dafür gibt, dass bei der Klägerin ein Hörschaden vorliegt, der durch ein Hörgerät nicht
ausgleichbar ist. So etwas wird im Berufungsverfahren auch nicht mehr vorgetragen.
Das Sozialgericht hat den Anspruch zutreffend verneint. Auf die Ausführungen unter Hinweis auf entsprechende Rechtsprechung
wird verwiesen. Ebenfalls nach Einschätzung des Berufungsgerichts ist die Klägerin nicht aufgrund ihrer Harninkontinenz ständig
an dem Besuch öffentlicher Veranstaltungen gehindert. Zwar benötigt sie über den Tag ausweislich des Sachverständigengutachtens
bis zu 14 Vorlagen, also durchaus 2-3 während einer über mehrere Stunden dauernden öffentlichen Veranstaltung, jedoch ist
nicht ersichtlich, warum sie diese benötigten Hilfsmittel nicht mit sich führen und bei Bedarf erneuern kann. Im Gegensatz
zu einer bloßen Vorlage bietet eine Windelhose darüber hinaus einen Auslaufschutz, so dass sowohl ein Einnässen von Kleidung
oder Umgebung als auch eine relevante Geruchsbelästigung vermieden werden. Die Verwendung passender Hilfsmittel ist zumutbar.
Es ist weder vorgetragen noch sonst ersichtlich, dass dies nicht möglich wäre.
Soweit die Klägerin die Einschränkung ihrer Mobilität als Grund für die Erfüllung der Voraussetzungen des Merkzeichens RF
anführt, ist dem nicht zuzustimmen, denn die Klägerin trägt selbst vor, dass sie mit Hilfe einer Begleitperson und der Einhaltung
von Erholungspausen in der Lage ist, öffentliche Veranstaltungen aufzusuchen. Ebenso führt sie selbst aus, mit Hilfe einer
Begleitperson die 3 Etagen zu ihrer Wohnung überwinden zu können.
Die Kostenentscheidung beruht auf §
193 SGG und entspricht dem Ausgang des Rechtsstreits in der Hauptsache.
Ein Grund für die Zulassung der Revision gemäß §
160 Abs.
2 Nr.
1 oder Nr.
2 SGG ist nicht gegeben.