Sozialhilfe bei gewöhnlichem Aufenthalt im Ausland
Territorialitätsgrundsatz
Inlandssozialhilfe
Tatbestand:
Der Kläger begehrt Leistungen nach dem Zwölften Buch Sozialgesetzbuch (SGB XII).
Der Kläger ist im Jahr 2006 in H. geboren und besitzt die d. Staatsangehörigkeit. Seine allein sorgeberechtigte Mutter ist
B., sein Vater D ... Nach der Scheidung seiner Eltern im Jahr 2007 kehrte die Mutter des Klägers mit ihm zusammen nach B.
zurück.
Mit Schreiben vom 13. Januar 2010, bei der Beklagten eingegangen am 25. Januar 2010, beantragte der Kläger unter Hinweis auf
seine d. Staatsangehörigkeit die Gewährung von Sozialhilfe für D. im Ausland. Seine Mutter schilderte in diesem Zusammenhang
ausführlich ihre persönliche und wirtschaftliche Situation und eine aus ihrer Sicht fehlende Unterstützung sowohl von b. als
auch von d. Behördenseite. Sie erhalte keinerlei soziale Leistungen in B ... Eine Rückkehr nach D. würde sie - die Mutter
wie auch den Kläger - dem Risiko der Obdachlosigkeit und der Mittellosigkeit aussetzen. Allenfalls sei an eine stufenweise
Rückkehr nach D. zu denken und auch dies nur, wenn dem Kläger Gleichbehandlung mit anderen d. Kindern zugesichert werde. De
facto sei der Kläger aus D. vertrieben und von d. Seite als Rechtloser behandelt worden.
Mit Bescheid vom 16. Februar 2010 lehnte die Beklagte eine Leistungsgewährung unter Hinweis auf § 24 Abs. 1 SGB XII ab, wonach D., die ihren Aufenthalt im Ausland haben, grundsätzlich keine Leistungen der Sozialhilfe erhalten. Eine Ausnahme
von diesem Grundsatz könne nicht gemacht werden.
Hiergegen legte der Kläger Widerspruch ein, welcher mit Widerspruchsbescheid vom 9. Juni 2010 zurückgewiesen wurde. Nach §
24 Abs. 1 Satz 2 SGB XII könnten abweichend von der Regelung, dass D. mit gewöhnlichem Aufenthalt im Ausland keine Leistungen der Sozialhilfe erhalten,
ausnahmsweise Leistungen ins Ausland nur dann gewährt werden, wenn dies wegen einer außergewöhnlichen Notlage unabweisbar
und zugleich nachgewiesen sei, dass eine Rückkehr ins Ausland aus den in den Ziffern 1 bis 3 der gesetzlichen Regelung näher
aufgeführten Gründen nicht möglich erscheine. Einschlägig könne nur die Ziffer 1 sein, wonach ausnahmsweise eine Leistungsgewährung
ins Ausland bei Pflege und Erziehung eines Kindes in Betracht komme, welches aus rechtlichen Gründen im Ausland bleiben müsse.
Dieser Ausnahmetatbestand betreffe aber nur d. Elternteile und erfasse nicht - wie hier geltend gemacht - einen Anspruch des
Kindes selbst.
Hiergegen hat der Kläger am 15. Juli 2010 Klage vor dem Sozialgericht Hamburg erhoben und geltend gemacht, dass der Wortlaut
des § 24 SGB XII keinen Anhaltspunkt dafür enthalte, dass nur Eltern anspruchsberechtigt seien. Der Ausschluss des Kindes aus dem Kreis der
Anspruchsberechtigten stelle eine verbotene Diskriminierung aufgrund Alters da. Ein Kind müsse dem Wohnsitz der sorgeberechtigten
Mutter folgen. Der Mutter des Klägers sei es aber nicht möglich, nach D. zurückzukehren. Der Kläger hat zudem Schadenersatzleistungen
gefordert.
Die Beklagte ist dem entgegengetreten unter Hinweis auf den Widerspruchsbescheid und hat ergänzt, dass der Kläger - wie auch
seine Mutter - ohne weiteres in die Bundesrepublik zurückkehren und gegebenenfalls hier Sozialhilfe beziehen könne.
Nach Anhörung hat das Sozialgericht die Klage durch Gerichtsbescheid vom 11. April 2013 abgewiesen und zur Begründung auf
den angefochtenen Widerspruchsbescheid verwiesen. Das Gericht teile die Auffassung der Beklagten, dass ausgehend von dem in
§ 24 Abs. 1 Satz 1 SGB XII normierten Grundsatz, dass D., die ihren gewöhnlichen Aufenthalt im Ausland haben, keine Sozialhilfe nach dem SGB XII erhalten, eine ausnahmsweise Leistungsgewährung im Einzelfall zur Abwendung einer außergewöhnlichen Notlage zwar möglich
sei, wenn Pflege und Erziehung eines Kindes, das aus rechtlichen Gründen im Ausland bleiben müsse, eine Rückkehr unmöglich
machten, dieser in § 24 Abs. 1 Ziffer 1 SGB XII normierte Ausnahmetatbestand aber nur Fallgestaltungen erfasse, in denen ein d. Elternteil nicht zurückkehren könne. Ein
d. Kind, das wie der Kläger bei einem nichtdeutschen Elternteil im Ausland lebe, werde von dem Wortlaut der Regelung nicht
erfasst. Selbst wenn man eine analoge Anwendung erwägen würde, wenn eine Rückkehr des nichtdeutschen Elternteils nach D. nicht
in Betracht komme und eine Rückkehr allein des Kindes dem Sorgerecht des Elternteils widerspräche, komme man hier zu keinem
anderen Ergebnis. Es seien nämlich keine rechtlichen Gründe erkennbar, warum die Mutter des Klägers nicht nach D. wiedereinreisen
könnte. Sie sei ebenso wie der Kläger jederzeit zur Einreise nach D. befugt und könne gegebenenfalls hier staatliche Unterstützung
beantragen. Die Schadenersatzforderung sei unbegründet geblieben und damit mangels Bestimmtheit bereits unzulässig. Anhaltspunkte,
dass es sich um einen Amtshaftungsanspruch handeln könne und damit eine Verweisung an die Zivilgerichtsbarkeit in Betracht
komme, fehlten.
Gegen den am 3. Dezember 2013 zugestellten Gerichtsbescheid hat der Kläger am 26. Februar 2014 Berufung eingelegt. Er wiederholt
sein bisheriges Vorbringen und macht zudem geltend, dass er einer unzulässigen Diskriminierung wegen seines Alters, seiner
Nationalität und seines Wohnorts ausgesetzt sei. Eine Rückkehr nach D. scheide für ihn auch deswegen aus, weil er an der b.
Nationalmusikschule ausgebildet werde und es eine vergleichbare Einrichtung in D. nicht gebe. Seine Mutter sei aufgrund des
Schulbesuchs und seiner Betreuung an der Aufnahme einer qualifizierten Erwerbstätigkeit gehindert. Die Kosten seiner Lebenshaltung
und Unterkunft seien durch Unterhaltszahlungen des Vaters sowie das Kindergeld gerade gedeckt; Mehrbedarfe würden die Großeltern
übernehmen bzw. seine Mutter über Kreditaufnahme.
Der Kläger beantragt nach seinem schriftlichen Vorbringen,
den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Hamburg vom 11. April 2013 sowie den Bescheid vom 16. Februar 2010 in Gestalt des
Widerspruchsbescheids vom 9. Juni 2010 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, dem Kläger Leistungen nach dem SGB XII ab Januar 2010 nebst Zinsen zu gewähren sowie Schadenersatzleistungen in einer noch zu bestimmenden Höhe zu zahlen.
Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Sie stützt sich auf die erstinstanzliche Entscheidung.
Mit Beschlüssen vom 30. Juni 2014 und 12. Dezember 2014 hat der Senat die Gewährung von Prozesskostenhilfe für das Berufungsverfahren
abgelehnt.
Zur mündlichen Verhandlung vor dem Senat am 28. Januar 2015 ist der Kläger nicht erschienen. Mit als Fax versandtem Schriftsatz
vom 17. Januar 2015 hat er zuvor erklärt, dass er die finanziellen Mittel zur Wahrnehmung des Termins nicht aufbringen könne.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Prozessakte und die Verwaltungsakte der Beklagten
verwiesen, die Gegenstand der mündlichen Verhandlung und Beratung des Senats gewesen sind.
Entscheidungsgründe:
Der Senat konnte trotz Ausbleibens des Klägers in der mündlichen Verhandlung entscheiden, weil er ordnungsgemäß geladen und
nach §
110 Abs.
1 Satz 2
Sozialgerichtsgesetz (
SGG) auf diese Möglichkeit hingewiesen worden war.
Die Berufung hat keinen Erfolg.
I. Gegenstand des vorliegenden Verfahrens ist ein Anspruch des Klägers auf Leistungen nach dem SGB XII und die Rechtmäßigkeit der ablehnenden Bescheide vom 16. Februar 2010 und 9. Juni 2010.
II. Die Berufung ist statthaft (§§
143,
144 SGG) und auch im Übrigen zulässig, insbesondere form- und fristgerecht (§
151 SGG) erhoben.
Die Berufung ist aber unbegründet. Der Kläger hat keinen Anspruch auf Leistungen nach dem SGB XII; die angefochtenen Bescheide sind rechtmäßig. Denn nach § 24 Abs. 1 Satz 1 SGB XII werden keine Leistungen an D. erbracht, die ihren gewöhnlichen Aufenthalt im Ausland haben. Damit ist der Kläger, der als
minderjähriger D. mit seiner b. Mutter in B. lebt, von Leistungen nach dem SGB XII ausgeschlossen.
Die Regelung begegnet auch keinen grundsätzlichen Bedenken, denn sie bringt den Territorialitätsgrundsatz (vgl. §
30 Abs.
1 Erstes Buch Sozialgesetzbuch -
SGB I) zum Ausdruck, nach dem die staatliche Hoheitsgewalt auf den jeweiligen Hoheitsbereich beschränkt ist (vgl. dazu Bieback,
in Grube/Wahrendorf, SGB XII, 5. Auflage 2014, § 24 Rn. 1; BayLSG, Urteil vom 28.1.2014 - L 8 SO 146/12; LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 16.10.2013 - L 2 SO 3798/12; SächsLSG,
Beschluss vom 29.11.2010 - L 7 SO 80/10 B ER; LSG Hamburg, Beschluss vom 15.6.2005 - L 4 B 154/05 ER SO). Der Gesetzgeber ist grundsätzlich frei in seiner Gestaltungsentscheidung, ob und unter welchen Umständen er Sozialhilfe
an D. im Ausland erbringen will (Coseriu, in: jurisPK-SGB XII, 2. Auflage 2014, § 24 Rn. 30; vgl. auch LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 25.2.2010 - L 7 SO 5106/07). Verfassungsrechtlich ist die gefundene Lösung
nicht zu beanstanden, weil grundsätzlich die Möglichkeit der Inanspruchnahme von Inlandssozialhilfe besteht, der Gesetzgeber
grundsätzlich von der Möglichkeit der Inanspruchnahme ähnlicher Leistungen im Ausland ausgehen durfte und schließlich die
Schwierigkeit der Feststellung einer Hilfebedürftigkeit im Ausland einen sachgerechten Gemeinwohlbelang darstellt (LSG Baden-Württemberg,
Urteil vom 25.2.2010, aaO.; zustimmend SächsLSG, aaO., und BayLSG, aaO.). Im Übrigen besteht die Möglichkeit befristeter Nothilfe
für d. Staatsangehörige im Ausland nach § 5 Konsulargesetz (vgl. Bieback, aaO., Rn. 1, 33). Europarechtlich bestehen ebenfalls keine Bedenken; es geht hier nicht um Familienleistungen
wie in der vom Kläger angeführten Entscheidung des EuGH (Urteil vom 5.2.2002 - C-255/99 "Humer"), sondern um steuerfinanzierte Fürsorgeleistungen.
Nach § 24 Abs. 1 Satz 2 SGB XII kann von diesem Grundsatz im Einzelfall nur abgewichen werden, wenn dies wegen einer außergewöhnlichen Notlage unabweisbar
ist und zugleich nachgewiesen wird, dass eine Rückkehr in das Inland nicht möglich ist wegen der Pflege und Erziehung eines
Kindes, das aus rechtlichen Gründen im Ausland bleiben muss (Nr. 1), wegen längerfristiger stationärer Betreuung in einer
Einrichtung oder wegen der Schwere der Pflegebedürftigkeit (Nr. 2) oder wegen hoheitlicher Gewalt (Nr. 3). Der Gesetzgeber
erwartet danach eine Rückkehr in das Inland und sieht lediglich bei Vorliegen eines objektiven Hindernisses - nicht jedoch
bei bloßer Unzumutbarkeit der Rückkehr - von dieser Erwartung ab (vgl. Berlit, in: LPK-SGB XII, 9. Aufl. 2012, § 24 Rn. 8; Coseriu, aaO., Rn. 11).
Hier kommt von vornherein allein das Vorliegen eines Hindernisses nach § 24 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 SGB XII in Betracht. Allerdings passt die Vorschrift ihrem Wortlaut nach nicht auf den Kläger, da sie zugeschnitten ist auf den Fall,
dass ein d. Elternteil sich um die Pflege und Erziehung des im Ausland lebenden Kindes kümmern will bzw. muss. Ob hier eine
analoge Anwendung gerechtfertigt ist, weil die Interessenlage in Bezug auf ein d. Kind, das seine Pflege und Erziehung durch
ein im Ausland lebendes Elternteil geltend macht, vergleichbar ist (so Berlit, aaO., Rn. 9; Coseriu, aaO., Rn. 30; Baur, in:
Mergler/Zink, SGB XII, Stand September 2011, § 24 Rn. 22; offen: Schlette, in: Hauck/Noftz, SGB XII, Stand Dezember 2011, § 24 Rn. 29; Bieback, aaO., Rn. 22; ablehnend Jahn/Jung, SGB XII, Stand 2011, § 24 Rn. 23), kann offen bleiben. Denn jedenfalls ist nach dem Wortlaut und Zweck der Norm zu fordern, dass der ernsthafte Wille
des Kindes bzw. seines Elternteils vorliegt, zur Beseitigung der Hilfebedürftigkeit nach D. zurückzukehren, und dies allein
infolge objektiver Hindernisse scheitert (LSG Baden-Württ., Beschluss vom 27.6.2011 - L 2 SO 2138/11 ER-B; Schlette, aaO.,
Rn. 29). Daran fehlt es aber; nach dem Vorbringen in Klage und Berufung sind offenbar weder der Kläger noch seine Mutter gewillt,
ihren Wohnsitz nach D. zu verlegen. Vielmehr tragen sie auch in der Berufung im Einzelnen vor, warum eine Übersiedelung nach
D. nicht zumutbar sei. Das Gesetz sieht aber eine Hilfeleistung im Ausland - wie bereits ausgeführt - nur bei Unmöglichkeit,
nicht bei Unzumutbarkeit der Rückkehr nach D. vor.
Vor allem aber fehlt es an dem Merkmal der außergewöhnlichen Notlage. Dieses ist gesetzlich nicht definiert, nach Überzeugung
des Senats aber strenger als eine bloße Hilfebedürftigkeit zu verstehen und dahingehend zu umschreiben, dass eine erhebliche
Gefährdung existenzieller Rechtsgüter, insbesondere Leben, Gesundheit oder anderer Grundvoraussetzungen einer menschenwürdigen
Existenz, vorliegt (vgl. Bieback, aaO., Rn. 17; Coseriu, aaO., Rn. 24; Schlette, aaO., Rn. 25; LSG Baden-Württemberg, Urteil
vom 16.10.2013, aaO.; SächsLSG, aaO.). Nach den Darlegungen des Klägers in der Berufung ist sein Lebensunterhalt einschließlich
der Wohnung allerdings aus den Mitteln gedeckt, die ihm aus Unterhaltszahlungen und Kindergeld zufließen. Es geht also von
vornherein lediglich um darüber hinausgehende Bedarfe; ob das eine außergewöhnliche Notlage überhaupt begründen könnte, erscheint
zweifelhaft. Hier kommt entscheidend hinzu, dass insoweit offenbar die Großeltern einspringen bzw. die Mutter des Klägers
den Bedarf deckt, wenn auch mit geliehenem Geld. Dass substantieller ungedeckter Bedarf verbleibe, ist nicht dargelegt oder
ersichtlich.
Die Schadenersatzforderung ist weder beziffert noch begründet worden; insoweit wird auf die angefochtene Entscheidung des
Sozialgerichts verwiesen.
III. Die Kostenentscheidung beruht auf §
193 SGG.
Die Revision war nicht zuzulassen, da ein Zulassungsgrund nach §
160 Abs.
2 SGG nicht vorliegt.