Anspruch auf Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes nach dem SGB II
Anforderungen an einen wichtigen Grund für den Ausschluss von Ersatzansprüche bei sozialwidrigem Verhalten
Tatbestand
Die Kläger wenden sich gegen die Feststellung einer Ersatzpflicht nach § 34 SGB II dem Grunde nach.
Die am 00.00.1983 geborene Klägerin zu 1) ist seit dem 29.05.2010 mit dem am 00.00.1979 geborenen Kläger zu 2) verheiratet.
Der Kläger zu 2) besitzt die polnische Staatsangehörigkeit. Das Ehepaar hat zwei gemeinsame Kinder (geboren am 00.00.2009
und am 00.00.2011).
Am 09.12.2013 ging beim Bundesverwaltungsamt ein Antrag der Klägerin zu 1) zur Feststellung ihrer deutschen Staatsangehörigkeit
ein. Mit Bescheid vom 29.04.2015 stellte das Bundesverwaltungsamt die deutsche Staatsangehörigkeit der Klägerin zu 1) und
ihrer beider Kinder fest.
Die Kläger waren bis zum 16.10.2015 in Polen abhängig beschäftigt. Sie kündigten die Arbeitsverhältnisse zum 16.10.2015 wegen
einer geplanten Ausreise in die Bundesrepublik. Am 19.10.2015 reisten die Kläger mit ihren beiden Kindern in die Bundesrepublik
ein.
Seit dem 16.06.2017 übt der Kläger zu 2) eine abhängige Beschäftigung als Kraftfahrer in Vollzeit aus. Die Klägerin zu 1)
übt seit dem 27.10.2017 eine geringfügige Beschäftigung aus.
Am 21.10.2015 beantragte der Kläger zu 2) für sich und seine Familienangehörigen die Gewährung von Grundsicherungsleistungen
nach dem SGB II.
Mit Bescheid vom 01.12.2015 bewilligte der Beklagte den Klägern und ihren beiden Kindern Grundsicherungsleistungen nach dem
SGB II für Oktober 2015 i.H.v. 360,69 EUR, für die Zeit vom 01.11.2015 bis 31.12.2015 i.H.v. 1.221,00 EUR monatlich sowie für die
Zeit vom 01.01.2016 bis zum 31.03.2016 i.H.v. 1.235,00 EUR monatlich. Zum 01.12.2015 mieteten die Kläger eine Wohnung an.
Mit Änderungsbescheid vom 07.12.2015 bewilligte der Beklagte der Bedarfsgemeinschaft Grundsicherungsleistungen für Dezember
2015 i.H.v. 1.794,00 EUR sowie für die Zeit vom 01.01.2016 bis 31.03.2016 i.H.v. 1.808,00 EUR monatlich. Mit Änderungsbescheid
vom 15.02.2016 bewilligte der Beklagte der Bedarfsgemeinschaft Grundsicherungsleistungen für März 2016 i.H.v. 1.428,00 EUR.
Mit zwei Schreiben vom 09.12.2015 hörte der Beklagte die Kläger zur Geltendmachung eines Ersatzanspruches bei sozialwidrigen
Verhalten an. Nach seiner Kenntnis hätten die Kläger ihre und die Hilfebedürftigkeit ihrer Kinder möglicherweise vorsätzlich
oder grobfahrlässig sowie ohne wichtigen Grund herbeigeführt. Sie hätten ihre Arbeitsplätze in Polen gekündigt, um nach Deutschland
einzureisen und Sozialleistungen zu beziehen. Die Einreise sei ohne konkrete Aussicht auf eine neue Arbeitsstelle sowie in
der Absicht erfolgt, in Deutschland einen verbesserten Lebensstandard zu erreichen. Die Klägerin zu 1) sowie die Kinder besäßen
die deutsche Staatsangehörigkeit, so dass lediglich auf den Tatbestand der Eigenkündigung der Arbeitsstelle abgestellt werde.
Mit Schreiben vom 16.12.2015 teilte der damalige Bevollmächtigte der Kläger mit, diese seien nach Deutschland in dem Bewusstsein
ausgereist, dass sie nicht umgehend einen Arbeitsplatz finden und somit auf die Inanspruchnahme von Sozialleistungen angewiesen
sein würden. Inwieweit es ihnen verwehrt sein solle, nach Deutschland einzureisen, einen Wohnsitz zu nehmen und zu versuchen,
in ein Arbeitsverhältnis zu gelangen, erschließe sich den Klägern nicht. Deutsche Staatsangehörige seien nicht verpflichtet,
ihren Lebensunterhalt durch Beibehaltung eines Arbeitsplatzes im Ausland sicherzustellen. Gerade weil die deutsche Staatsangehörigkeit
für die Klägerin zu 1) und die gemeinsamen Kinder gegeben sei, sei es selbstverständlich, dass die Familie vollständig nach
Deutschland übersiedele, hier ihren Lebensmittelpunkt nehme und in absehbarer Zeit versuche, durch Aufnahme einer Tätigkeit
von staatlicher Unterstützung unabhängig zu werden. Der Kläger zu 2) sei in Besitz seiner Unterlagen bezüglich seiner zuletzt
in Polen ausgeübten Tätigkeit als Automechaniker sowie in Besitz sämtlicher Fahrererlaubnisklassen, so dass er auch als Lkw-Fahrer,
Busfahrer etc. eine Tätigkeit aufnehmen könne. Aktuell verhinderten die Sprachschwierigkeiten eine kurzfristige Aufnahme einer
Berufstätigkeit.
Mit zwei Bescheiden vom 27.01.2016 stellte der Beklagte fest, die Klägerin zu 1) und der Kläger zu 2) seien zum Ersatz gezahlter
Leistungen nach § 34 Abs. 1 S. 1 SGB II verpflichtet. Umfang und Höhe der zu ersetzenden Leistungen würden in gesonderten Bescheiden mitgeteilt. Für das Verhalten
der Kläger und ihrer Familienangehörigen liege kein wichtiger Grund vor. Die Kläger hätten ihre Arbeitsstellen in Polen lediglich
gekündigt, um nach Deutschland einzureisen. Es gehe bei der Kostenersatzpflicht nach § 34 SGB II nicht darum, dass die Klägerin zu 1) nach Deutschland eingereist sei, um hier ihren Lebensmittelpunkt zu finden. Die Wohnsitznahme
in Deutschland sei ihr als deutsche Staatsangehörige sehr wohl möglich. Hier werde jedoch auf die Kündigung ihres Arbeitsverhältnisses
und die damit verbundene Inanspruchnahme von Sozialleistungen abgestellt. Der Umstand, dass die Klägerin zu 1) den Lebensmittelpunkt
in die Bundesrepublik habe verlagern wollen und deshalb sie ihre Arbeitsstelle in Polen habe kündigen müssen, stelle keinen
wichtigen Grund dar. Es sei nicht erkennbar, wieso die Kläger nicht in Polen zunächst die benötigten Qualifikationen zum Erwerb
eines Arbeitsplatzes in der Bundesrepublik erworben hätten, um die Inanspruchnahme von Sozialleistungen in der Bundesrepublik
zu ersparen und sofort zu arbeiten. Die Voraussetzung für die Gewährung von Leistungen nach dem SGB II seien zumindest grob fahrlässig herbeigeführt worden. Es sei erkennbar gewesen, dass wegen der Kündigung der Arbeitsstellen
Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts in Anspruch genommen werden müssten. Es sei kein Grund erkennbar, wieso eine
Einreise und Wohnsitznahme ohne die Inanspruchnahme von Sozialleistungen nicht möglich gewesen sein sollte.
Die Kläger legten gegen die Bescheide vom 27.01.2016 Widerspruch ein und wiesen darauf hin, dass die Klägerin zu 1) mehr als
6 Jahre um die deutsche Staatsangehörigkeit nebst Erteilung der entsprechenden Ausweispapiere gekämpft habe. Nach Erhalt der
deutschen Ausweispapiere hätten sie dann die Ausreise nach Deutschland durchgeführt. Sie seien bemüht, so schnell wie möglich
einen Arbeitsplatz zu erhalten, müssten aktuell noch entsprechende Deutschkurse besuchen. Erstmalig am 25.02.2016 würden diese
Kurse besucht. Sie hätten in Polen über ein geringes Einkommen verfügt und keine Rücklagen bilden können.
Mit Widerspruchsbescheiden vom 22.02.2016 wies der Beklagte die Widersprüche als unbegründet zurück. Die Kläger hätten sozialwidrig
gehandelt und ihre Beschäftigungen in Polen aufgegeben, um in Deutschland staatliche Leistungen in Anspruch zu nehmen. Ihnen
sei bewusst gewesen, dass sie aufgrund ihrer Sprachprobleme in Deutschland nicht direkt einer Beschäftigung würden nachgehen
können. Dieses sozialwidrige Verhalten sei ursächlich für den Leistungsbezug nach dem SGB II. Die Kläger hätten zumindest grobfahrlässig gehandelt. Für das sozialwidrige Verhalten stehe kein objektiv wichtiger Grund
zur Seite. Ein wichtiger Grund liege vor, wenn dem Verursacher ein anderes Verhalten nicht zumutbar gewesen wäre sei. Hierbei
sei zwischen den Belangen der Solidargemeinschaft der Steuerzahler und den Interessen der Verursacherin oder des Verursachers
abzuwägen. Den Klägern sei ein anderes Verhalten durchaus zumutbar gewesen. Nach dem Vortrag ihres Bevollmächtigten habe sich
die Klägerin zu 1) bereits seit mehr als 6 Jahren darum bemüht, die deutsche Staatsangehörigkeit zu erhalten. Damit habe für
die Familie seit längerer Zeit festgestanden, dass sie in die Bundesrepublik einreisen würden. Die Familie habe also Gelegenheit
zu Ansparungen und Vorbereitung einer Arbeitsaufnahme in Deutschland gehabt. Auch hätte die Klägerin zu 1) zunächst versuchen
müssen, ihre Deutschkenntnisse derart zu verbessern, dass sie eine Chance auf dem deutschen Arbeitsmarkt habe. Insofern hätte
es nahegelegen, das in Polen bestehende Arbeitsverhältnis und den dortigen Lebensmittelpunkt erst aufzugeben, wenn in Deutschland
eine Grundlage für ein dortiges Leben geschaffen wäre. All dies habe die Klägerin zu 1) unterlassen. Vielmehr habe sie sich
auf ihre deutsche Staatsbürgerschaft und auf die Sozialleistungen in Deutschland verlassen.
Mit Bescheid vom 01.03.2016 stellte der Beklagte fest, dass der Kläger zu 2) zum Ersatz der ihm und den Personen in der Bedarfsgemeinschaft
in der Zeit vom 19.10.2015 bis 31.03.2016 gezahlten Grundsicherungsleistungen nach dem SGB II i.H.v. 8.636,41 EUR verpflichtet sei. Mit weiterem Bescheid vom 01.03.2016 stellte der Beklagte fest die Klägerin zu 1) sei
zum Ersatz der ihr für die Zeit vom 19.10.2015 bis zum 31.03.2016 gezahlten Grundsicherungsleistungen nach dem SGB II i.H.v. 3.220,22 EUR verpflichtet. Gegen die beiden Bescheide vom 01.03.2016 legten die Kläger Widerspruch ein. Mit Bescheid
vom 27.04.2016 hob der Beklagte den Bescheid vom 01.03.2016, gerichtet an den Kläger zu 2) auf.
Mit Bescheid vom 07.06.2017 stellte der Beklagte fest, die Klägerin zu 1) sei zum Ersatz der in der Zeit vom 19.10.2015 bis
zum 31.03.2017 erbrachten Grundsicherungsleistungen nach dem SGB II i.H.v. 10.637,39 EUR verpflichtet. Der Ersatzanspruch werde in voller Höhe geltend gemacht. In der Begründung wird ausgeführt,
dass die Kostenersatzpflicht dem Grunde nach bereits mit Bescheid vom 27.01.2016 festgestellt worden sei. Die dagegen erhobene
Klage sei mit Urteil vom 27.04.2017 abgewiesen. Die Ersatzpflicht nach § 34 SGB II sei somit festgestellt worden. Zur Begründung werde auf den Feststellungsbescheid vom 27.01.2016 verwiesen.
Mit Bescheid vom 07.06.2017 stellte der Beklagte fest, der Kläger zu 2) sei zum Ersatz der ihm und den Personen in seiner
Bedarfsgemeinschaft für die Zeit vom 19.10.2015 bis zum 31.03.2017 erbrachten Grundsicherungsleistungen nach dem SGB II i.H.v. 21.308,30 EUR verpflichtet. Der Ersatzanspruch werde in voller Höhe geltend gemacht. In der Begründung wurde ausgeführt,
die Kostenersatzpflicht sei dem Grunde nach bereits mit Bescheid vom 27.01.2016 festgestellt worden. Die Klage hiergegen sei
mit Urteil vom 27.04.2017 abgewiesen worden. Die Ersatzpflicht nach § 34 SGB II sei somit festgestellt worden. Zur Begründung werde auf den Feststellungsbescheid vom 27.01.2016 verwiesen. Den hiergegen
eingelegten Widerspruch wies der Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 14.09.2017 als unbegründet zurück.
Mit Bescheid vom 07.06.2017 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 14.09.2017 stellte der Beklagte fest, der Kläger
zu 2) sei zum Ersatz der für die Zeit vom 19.10.2015 bis zum 31.03.2017 an ihn und seine Kindern gezahlten Grundsicherungsleistungen
in Höhe von 21.308,30 EUR verpflichtet. Gegen diese Bescheide erhoben die Kläger Klage in dem Verfahren S 8 AS 2970/17.
Am 09.03.2016 hat der Kläger zu 2) in dem Verfahren S 40 AS 663/16 Klage gegen den Bescheid vom 27.01.2016 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 22.02.2016 erhoben.
Am 08.03.2016 hat die Klägerin zu 1) in dem Verfahren S 40 AS 644/16 Klage gegen den Bescheid vom 27.01.2016 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 22.02.2016 erhoben.
Durch Beschluss vom 11.04.2016 hat das Sozialgericht Gelsenkirchen die Verfahren S 40 AS 644/16 und S 40 AS 663/16 unter dem Aktenzeichen S 40 AS 644/16 verbunden. Die Kläger haben angegeben, das Familieneinkommen in Polen habe gerade so eben ausgereicht, um die Lebenshaltungskosten
zu bestreiten. Daher hätten sie in Deutschland neu starten wollen. Sie hätten bei der Mutter der Klägerin zu 1) gewohnt. Es
habe sich hierbei um eine 48 qm große Wohnung gehandelt, die von 5 Personen bewohnt worden sei. Sie hätten wenig verdient
und auch keine Perspektive gehabt. Ihnen sei es nicht möglich gewesen, Ersparnisse zu erwirtschaften. Sie hätten auch nicht
über die finanziellen Mittel verfügt, in Polen privat Deutsch zu lernen. Die Auffassung des Beklagten, dass sie ihre Erwerbstätigkeit
in Polen solange hätten beibehalten müssen, bis sie in Deutschland ihren Lebensunterhalt durch eigene Berufstätigkeit hätten
sicherstellen können, sei nicht nachvollziehbar. Deutsche Staatsangehörige, die jahrelang ihren Lebensunterhalt in ausländischen
Staaten verdient hätten, dort erwerbslos geworden seien, über keinerlei Ersparnisse und Vermögen etc. verfügten und in die
Bundesrepublik zurückkämen, hätten Anspruch auf Bewilligung von Sozialleistungen. Nicht anders stelle sich ihr Fall dar. Ihnen
sei es in Polen nicht möglich gewesen, die erforderlichen Deutschkurse zu besuchen, um die deutsche Sprache in Wort und Schrift
zu beherrschen. Es gebe keine gesetzliche Grundlage, nach der sie verpflichtet wären, auch weiterhin im Ausland ihren Wohnsitz
beizubehalten, bis sie ihren Lebensunterhalt durch eigene Tätigkeit in der Bundesrepublik sicherstellen könnten.
In der mündlichen Verhandlung vom 27.04.2017 hat das Sozialgericht die Zeugen Q, Q1, L und T vernommen. Hinsichtlich des Ergebnisses
der Beweisaufnahme wird auf die Sitzungsniederschrift Bezug genommen.
Mit Urteil vom 24.05.2017 hat das Sozialgericht Gelsenkirchen die Klage abgewiesen und die Voraussetzungen des Erstattungsanspruches
nach § 34 SGB II als erfüllt angesehen. Die Aufgabe eines Arbeitsplatzes ohne wichtigen Grund könne grundsätzlich als sozialwidrig gewertet
werden. Ein wichtiger Grund zur Ausreise unter Inkaufnahme absehbarer Bedürftigkeit wegen Arbeitslosigkeit in der Bundesrepublik
habe nicht vorgelegen, weil nicht einmal versucht worden sei, vor der Ausreise ausreichende Sprachkenntnisse zu erwerben und
Arbeitsstellen in der Bundesrepublik zu finden. Auf die Urteilsgründe im Übrigen wird Bezug genommen.
Gegen das ihrer Bevollmächtigten am 02.06.2017 zugestellte Urteil haben die Kläger am 13.06.2017 Berufung eingelegt und vorgetragen,
die Klägerin zu 1) habe sich jahrelang um die Zuerkennung der deutschen Staatsangehörigkeit an sich und ihre Kinder bemüht.
Nach Erhalt der deutschen Staatsangehörigkeit im August 2015 sei sie im Oktober 2015 zusammen mit ihrem Ehemann und den Kindern
in die Bundesrepublik ausgesiedelt. Eine derartige Aussiedlung gehe mit der Aufgabe des bisherigen Lebens einher und damit
auch mit der Kündigung der Arbeitsverträge in Polen. Bei der Klägerin zu 1) und ihren Kindern handele es sich um Deutsche.
Art.
11 GG messe allen Deutschen die Freizügigkeit im ganzen Bundesgebiet zu, Sozialleistungen seien davon nicht ausgenommen.
Die Kläger beantragen,
das Urteil des Sozialgerichts Gelsenkirchen vom 27.04.2017 aufzuheben und die Bescheide vom 27.01.2016 in Gestalt der Widerspruchsbescheide
vom 22.02.2016 aufzuheben.
Der Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Der Beklagte hält das erstinstanzliche Urteil für zutreffend. Der Eintritt der Ersatzpflicht nach § 34 SGB II werde unabhängig von der Nationalität geprüft. Auch ein inländischer Umzug deutscher Staatsangehöriger, die am vorigen Wohnort
unbefristete Arbeitsverträge gekündigt und am neuen Wohnort SGB II-Leistungen beantragt hätten, falle unter § 34 SGB II. Dies bei den Klägern anders zu sehen, verstoße gegen Art
3 GG. Auch seien Auswanderungen nicht grundsätzlich damit verbunden, dem Sozialsystem des neuen Landes zur Last zu fallen.
Zu weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichts- und der Verwaltungsakten des Beklagten
Bezug genommen, deren wesentlicher Inhalt Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen ist.
Entscheidungsgründe
Die zulässige Berufung der Kläger ist begründet.
Den Gegenstand des Verfahrens bilden die Bescheide vom 27.01.2016 in der Gestalt der Widerspruchsbescheide 22.02.2016, mit
denen der Beklagte die Erstattungspflicht der Kläger nach § 34 SGB II "dem Grunde nach" festgestellt hat. Es handelt sich um sogenannte Grundlagenbescheide, in denen die Feststellung getroffen
wird, dass die beiden Kläger dem Grunde nach zum Ersatz der ab dem 19.10.2015 gezahlten Grundsicherungsleistungen nach § 34 Abs. 1 S. 1 SGB II verpflichtet sind. Sie treffen keine Regelung betreffend den Umfang und die Höhe der Ersatzansprüche.
Die Leistungsbescheide vom 01.03.2016 und vom 07.06.2017 in der Gestalt der Widerspruchsbescheide vom 14.09.2017 betreffend
die Ersatzansprüche gegenüber der Klägerin zu 1) für die Zeit vom 19.10.2015 bis zum 31.03.2016 bzw. die Ersatzansprüche gegenüber
beiden Klägern für die Zeit vom 19.10.2015 bis zum 31.03.2017 sind nicht nach §
96 SGG Gegenstand des Verfahrens geworden. Denn sie ändern die angefochtenen Grundlagenbescheide weder ab noch ersetzen sie diese
sondern bauen auf ihnen auf. Eine Änderung liegt vor, wenn ein Verwaltungsakt teilweise aufgehoben und durch eine Neuregelung
ersetzt wird; Ersetzung liegt vor, wenn ein neuer Verwaltungsakt ganz an die Stelle des alten tritt. Der neue Verwaltungsakt
muss zur Regelung desselben Rechtsverhältnisses ergangen sein. Der Regelungsgengestand des neu einzubeziehenden Verwaltungsaktes
muss mit dem früheren identisch sein (Schmidt in Meyer-Ladewig,
SGG, 12. Aufl. 2017, §
96 Rn. 4ff m.w.N.). Dies ist nicht der Fall. Der Beklagte hat in den drei Bescheiden über die Höhe der von ihm gegenüber den
Klägern geltend gemachten Ersatzansprüche nach § 34 SGB II a.F. bzw. § 34 SGB II für die Zeit vom 19.10.2015 bis zum 31.03.2017 entscheiden, wobei er keine Feststellungen hinsichtlich des Grundes der Ersatzansprüche
getroffen, sich vielmehr auf die Bindungswirkung der angefochtenen Grundlagenbescheide vom 27.01.2016 in der Gestalt der Widerspruchsbescheide
vom 22.02.2016 berufen hat.
Die Kläger sind beschwert i.S.v. §
54 Abs.
2 SGG. Die beiden angefochtenen Grundlagenbescheide vom 27.01.2016 in der Gestalt der Widerspruchsbescheide vom 22.02.2016 sind
rechtswidrig.
Dahinstehen kann, ob der Beklagte berechtigt war, Grundlagenbescheide betreffend Ersatzansprüche nach § 34 SGB II zu erlassen. Dies ist in Rechtsprechung und Literatur umstritten (bejahend LSG NRW, Urteil vom 22.04.2013 - L 19 AS 1303/12; SG Braunschweig, Urteil vom 23.02. 2010 - S 25 AS 1128/08; Schwitzky in: LPK-SGB II, 5. Aufl. § 34 Rn. 26; Stolz in Gagel, SGB II, Stand Juni 2018, § 34 Rn. 80; Durchführungsanweisungen der Bundesagentur für Arbeit § 34, 34.36; verneinend SG Augsburg, Urteil vom 20.11.2017
- S 8 AS 1095/17, SG Oldenburg, Urteil vom 14.09.2016 - S 47 AS 422/14; Grote-Seifert in juris-PK, 4.Aufl. 2015, § 34 Rn. 57.1; siehe auch BVerwG, Urteil vom 05.05.1983 - 5 C 112/81; offengelassen LSG Baden-Württemberg, Beschluss vom 05.06.2018 - L 7 AS 178/16; Fügemann in Hauck/Noftz, SGB II, Stand Juni 2018, § 34 Rn. 95).
Denn die Voraussetzungen für einen Ersatzanspruch nach § 34 SGB II liegen bei beiden Kläger nicht vor. Als Rechtsgrundlage für die Feststellung der Ersatzansprüche dem Grunde nach kommt allein
§ 34 SGB II (in der Fassung der Bekanntmachung vom 13.05.2011, BGBl. I 850; vgl. zu Anwendbarkeit des § 34 SGB II a.F. auf vor dem 01.08.2016 liegende Sachverhalte: BSG, Urteil vom 08.02.2017 - B 14 AS 3/16 R) in Betracht.
Die tatbestandlichen Voraussetzungen von § 34 SGB II a.F. sind nicht erfüllt, Danach ist derjenige, der nach Vollendung des 18. Lebensjahres vorsätzlich oder grob fahrlässig
die Voraussetzungen für die Gewährung von Leistungen nach diesem Buch an sich oder an Personen, die mit ihr oder ihm in einer
Bedarfsgemeinschaft leben ohne wichtigen Grund herbeigeführt hat, zum Ersatz der deswegen gezahlten Leistungen verpflichtet.
Der Ersatzanspruch aus § 34 Abs. 1 S. 1 SGB II a.F. setzt - neben der Kausalität des vorgeworfenen Verhaltens für eine an sich rechtmäßige Leistungserbringung - als (ungeschriebenes)
objektives Tatbestandsmerkmal ein sozialwidriges Verhalten des Ersatzpflichtigen voraus, das seine Hilfsbedürftigkeit bzw.
die der übrigen Mitglieder der Bedarfsgemeinschaft herbeigeführt hat.
Dahinstehen kann, ob die Wertung des Sozialgerichts zutrifft, dass die Aufgabe der Arbeitsverhältnisse durch Eigenkündigung
zwecks Einreise in die Bundesrepublik ohne konkrete Aussicht auf einen Anschlussarbeitsplatz in der Bundesrepublik sozialwidriges
Verhalten darstellt.
Jedenfalls haben beide Kläger zur Überzeugung des Senats einen "wichtigen Grund" für das Ihnen vorgeworfene Verhalten, dessen
Existenz bereits ihre Heranziehung zum Ersatz nach § 34 SGB II ausschließt. Ein wichtiger Grund ist anzunehmen, wenn unter Berücksichtigung aller Besonderheiten des Einzelfalles Umstände
vorliegen, unter denen nach verständiger Abwägung der Interessen des Einzelnen mit den Interessen der Allgemeinheit - also
des Steuerzahlers - den Interessen des Individuums Vorrang einzuräumen ist (vgl. Urteil des Senats vom 22.04. 2013 - L 19 AS 1303/12; Grote-Seifert in jurisPK-SGB II,?4 Aufl. 2015, § 34 Rn 24 m.w.N.). Der wichtige Grund muss objektiv vorliegen. Ein wichtiger Grund liegt stets vor, wenn das Verhalten durch
andere Vorschriften der Rechtsordnung gebilligt wird (Silbermann in Eicher/Luik, SGB II, 4. Aufl. 2017, § 34 Rn. 29; siehe auch Dienstanweisung der Bundesagentur für Arbeit zu § 34 SGB II 34.10, Absatz 17 und 18, wonach ein wichtiger Grund im Sinne des § 34 Abs. 1 SGB II zu bejahen ist, wenn die Verursacherin oder den Verursacher vernünftige und aus der Sicht eines objektiven Dritten nachvollziehbare
Erwägungen zu dem konkreten Verhalten bewogen haben). Ein wichtiger Grund liegt regelmäßig vor, wenn das Verhalten durch andere
gesetzliche Vorschriften gebilligt oder gefördert wird.
Unter Zugrundelegung dieser Maßstäbe können sich beide Kläger auf wichtige Gründe für das vorgeworfene Verhalten stützen.
Als deutsche Staatsangehörige hat die Klägerin zu 1) mit der Einreise ihr Grundrecht auf Freizügigkeit aus Art.
11 Abs.
1 GG ausgeübt. Freizügigkeit im Sinne des Art.
11 Abs.
1 GG meint das Recht, an jedem Ort innerhalb des Bundesgebiets Aufenthalt und Wohnsitz zu nehmen. Hierzu zählt insbesondere die
Einreise nach Deutschland zum Zwecke der Wohnsitznahme (BVerfG, Urteil vom 17.12.2013 - 1 BvR 3139/08 m.w.N.). Art.
11 Abs.
1 GG garantiert, dass deutsche Staatsangehörige - wie die Klägerin zu 1) und ihre beiden Kinder - ungehindert durch die deutsche
Staatsgewalt an jedem Ort innerhalb des Bundesgebiets Aufenthalt und Wohnsitz nehmen dürfen, auch zu dem Zweck, in das Bundesgebiet
einzureisen (BVerfG, Beschlüsse vom 25.01.1977 - 1 BvR 210/74 -, BVerfGE 43, 203 und vom 07.05.1953 - 1 BvL 104/52 -, BVerfGE 2, 266). Die Ausübung dieses Grundrechts in Form der Einreise in das deutsche Staatsgebiet ist zwangsläufig mit der Aufgabe einer
Arbeitsstelle im Ausland verbunden. Das Grundrecht aus Art.
11 Abs.
1 GG kann zwar durch Gesetz unter bestimmten Voraussetzungen sowie unter Wahrung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes eingeschränkt
werden (Art.
11 Abs.
2 GG). Ein Gesetz, das die Ausübung des Grundrechts auf Freizügigkeit in Form der Einreise an die Bedingung des Vorhandenseins
ausreichender deutscher Sprachkenntnisse oder des Vorhandenseins finanzieller Mittel zur Bestreitung des Lebensunterhalts
bzw. der konkreten Aussicht auf einen Anschlussarbeitsplatz knüpft, existiert jedoch nicht. Insbesondere sind keine Vorschriften
ersichtlich, die einen Leistungssauschluss von existenzsichernden Leistungen betreffend deutsche Staatsangehörige regeln,
wenn diese (auch) zum Zwecke des Bezuges von existenzsichernden Leistungen in die Bundesrepublik einreisen. Ein solcher Leistungsausschluss
existiert weder im SGB II noch im SGB XII. § 23 Abs. 3 S. 1 Nr. 4 SGB XII (früher: § 23 Abs. 3 S. 1 SGB XII) bezieht sich nur auf Ausländer und deren Familienangehörige.
Der Kläger zu 2) als Unionsbürger hat mit seiner Einreise sein Freizügigkeitsrecht aus Art. 21 AEUV ausgeübt. Es existiert kein Gesetz, das den Zuzug eines Unionsbürgers zu seinem deutschen Ehegatten an die Bedingung des
Vorhandenseins ausreichender deutscher Sprachkenntnisse, des Vorhandenseins finanzieller Mittel zum Bestreiten des Lebensunterhaltes
oder der konkreten Aussicht auf einen Arbeitsplatz knüpft. Als Ehegatte einer deutschen Staatsangehörigen - der Klägerin zu
1) - unterfällt der Kläger zu 2) auch keinem Leistungsausschluss nach dem SGB II. Der Leistungsausschluss nach § 7 Abs. 1 S. 2 SGB II in der Fassung der Bekanntmachung vom 13.05.2011, BGBl. I 850 - a.F. bzw. in der Fassung vom 22.12.2016 (BGBl. I 3155 in
Kraft ab dem 29.12.2016) findet auf den Kläger zu 2) keine Anwendung (BT-Drucks 16/688 S.13; BSG, Urteil vom 30.01.2013 - B 4 AS 37/12 R).
Ein Leistungsausschluss entsprechend § 23 Abs. 3 S. 1 Nr. 4 SGB XII (früher: § 23 Abs. 3 S. 1 SGB XII) ist im SGB II nicht enthalten. Auch griffe der Leistungsausschluss nach § 23 Abs. 3 S. 1 Nr. 4 SGB XII überhaupt nicht, wenn der Einreise eines Ausländers in das Bundesgebiet als Motiv jedenfalls auch der Nachzug zu einem deutschen
Ehegatten bzw. die Fortsetzung der ehelichen Lebensgemeinschaft zugrunde gelegen hat. Dies gilt selbst dann, wenn bereits
bei der Einreise Bedürftigkeit bestand und auch der Ehegatte nicht über ausreichendes Einkommen und Vermögen zum Bestreiten
des Lebensunterhalts verfügt (vgl. Siefert in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB XII, 2. Aufl. 2014, § 23 SGB XII 1. Überarbeitung, Rn. 93; vgl. OVG Schleswig-Holstein, Beschluss vom 05.02.1993 - 5 M 6/93; VG Ansbach, Beschluss vom 06.04.2004 - AN 14 E 04.00395; siehe auch BVerwG, Urteil vom 04.09.2012 - 10 C 12/12, wonach einem deutschen Staatsangehörigen nur bei gewichtigen öffentlichen Belangen zugemutet werden kann, die Ehe für einige
Zeit gar nicht oder nur im Ausland führen zu können. Sie dauerhaft im Ausland führen zu müssen, ist für ihn in jedem Fall
unangemessen und unzumutbar).
Entgegen der Berufungsbegründung stellt die Annahme eines wichtigen Grundes für die Ausreise der Kläger unter Inkaufnahme
in der Bundesrepublik wegen Arbeitslosigkeit eintretender Bedürftigkeit auch keinen Verstoß gegen den allgemeinen Gleichheitssatz
aus Art.
3 Abs.
1 GG dar, weil ein inländischer Umzug deutscher Staatsangehöriger unter im Übrigen vergleichbaren Umständen und mit Bezug von
Grundsicherungsleistungen nach dem SGB II am neuen Wohnort eine Ersatzpflicht nach § 34 SGB II zur Folge hätte.
Der allgemeine Gleichheitssatz wäre dann verletzt, wenn eine Gruppe von Normbetroffenen im Vergleich zu einer anderen anders
behandelt würde, obwohl zwischen beiden Gruppen keine Unterschiede von solcher Art und solchem Gewicht bestehen, dass sie
die unterschiedliche Behandlung rechtfertigen können (vgl. BVerfG, Beschluss 03.06.2013 m.w. N.). Dies ist hier evident nicht
der Fall, weil die Klägerin zu 1) bei ihrer Einreise ihr Grundrecht aus Art.
11 GG in seinem Kernbereich - siehe soeben - zwecks erstmaliger Begründung eines inländischen Wohnsitzes in Anspruch genommen hat,
was bei einer Arbeitsaufgabe zwecks Umzuges innerhalb des Bundesgebietes naturgemäß ohne Belang ist.
Hinsichtlich des Klägers zu 2) fehlt es bereits an einer Ungleichbehandlung, weil er seine Arbeitsaufgabe zwecks Fortsetzung
der ehelichen Lebensgemeinschaft mit einer deutschen Staatsangehörigen in der Bundesrepublik ebenso auf Art.
6 GG stützen kann wie jeder Angehörige der vom Beklagten gesehenen Vergleichsgruppe, der eine im Inland gehaltene Arbeitsstelle
aufgibt, um seinen Wohnsitz bei seiner bereits in der Bundesrepublik ansässigen Familie zu nehmen (BSG, Urteil vom 27.05.2003 - B 7 AL 4/02 R zum Sperrzeitrecht nach dem
SGB III).
Die Kostenentscheidung beruht auf §
193 SGG.
Der Senat hat die Revision nach §
160 Abs.
2 Nr.1
SGG zugelassen.