Anspruch auf Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes im sozialgerichtlichen Verfahren
Leistungsausschluss für Ausländer mit Aufenthaltsrecht nach der Freizügigkeitsverordnung
Gründe
1. Die nach §
172 Abs.
1 SGG zulässige Beschwerde des Antragsgegners ist in der Sache begründet.
a) Nach §
86 b Abs.
2 Satz 2
SGG sind einstweilige Anordnungen auch zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis
zulässig, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile notwendig erscheint (Reglungsanordnung). Der Erlass
einer einstweiligen Anordnung setzt das Bestehen eines Anordnungsanspruchs, d. h. des materiellen Anspruchs, für den vorläufiger
Rechtsschutz begehrt wird, sowie das Vorliegen eines Anordnungsgrundes, d. h. die Unzumutbarkeit voraus, bei Abwägung aller
betroffenen Interessen die Entscheidung in der Hauptsache abzuwarten.
Ist dem Gericht eine vollständige Aufklärung der Sach- und Rechtslage im Eilverfahren nicht möglich, so ist anhand einer Folgenabwägung
zu entscheiden. In diesem Fall sind die grundrechtlichen Belange des Antragstellers umfassend in die Abwägung einzustellen
(LSG NRW vom 12.07.2017 - L 12 AS 596/17 B ER / L 12 AS 597/17 B, Juris Rn. 21). Stellt sich bei der Rechtsprüfung überdies eine Frage, die im Hauptsacheverfahren voraussichtlich eine
Vorlage des dann letztinstanzlich entscheidenden Gerichts an den EuGH erfordert, so lassen sich weder - ohne weiteres - ernstliche
Zweifel an der Rechtmäßigkeit verneinen noch kann die offensichtliche Rechtmäßigkeit des Verwaltungsakts bejaht werden (vgl.
zu einer ähnlichen Situation: BVerfG, Beschluss vom 27.04.2005, 1 BvR 223/05). In diesen Fällen wird eine Antragsablehnung mit Blick auf Art.
19 Abs.
4 Satz 1
GG nur dann Bestand haben können, wenn dieser Umstand - über die notwendig nur vorläufige rechtliche Einschätzung des Gerichts
hinausgehend - in die Abwägung des Interesses des Antragstellers mit dem öffentlichen Vollzugsinteresse einbezogen wird. Steht
somit (zumindest) eine ungeklärte unionsrechtliche Rechtsfrage im Raum, bei der im Hauptsacheverfahren eine Vorlage an den
EuGH naheliegt, kann sich das Tatsachengericht nicht mit einer summarischen Prüfung der Erfolgsaussichten zufriedengeben,
sondern muss darüber hinaus eine Interessenabwägung unter besonderer Berücksichtigung der Situation der Antragsteller durchführen
(BVerfG, Beschluss vom 17.01.2017 - 2 BvR 2013/16, Rn. 18 und 23; zum Vorstehenden Beschluss des erkennenden Senats vom 14. September 2017 - L 21 AS 1459/17 B ER / L 21 AS 1360/17 B -, Juris Rn. 34).
b) Nach diesem Maßstab kommt der Senat in Abwägung der Interessen der Antragsteller an einer Gewährung existenzsichernder
Leistungen mit dem vom Antragsgegner vertretenen öffentlichen Interesse zu dem Ergebnis, dass die Antragsteller einen Anordnungsanspruch
gemäß §
86 b Abs.
2 Satz 2
SGG nicht glaubhaft gemacht haben.
aa) Zweifel hinsichtlich des Anordnungsanspruches bestehen in formell-rechtlicher Hinsicht schon deshalb, weil die Antragsteller
gegen den Ablehnungsbescheid vom 16.07.2019 keinen Widerspruch erhoben haben, so dass der Ablehnungsbescheid formell bestandskräftig
ist (§
77 SGG). Erst im Beschwerdeverfahren haben die Antragsteller insoweit einen Überprüfungsantrag gemäß § 44 Abs. 1 SGB X gestellt.
bb) Dies konnte indes dahinstehen. Denn die Antragsteller erfüllen zwar materiell-rechtlich die Anspruchsvoraussetzungen für
die Inanspruchnahme von Grundsicherungsleistungen nach dem SGB II, werden jedoch von dem Leistungsausschluss des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 c) SGB II erfasst.
Nach dieser Regelung sind von der Leistungsberechtigung nach dem SGB II Ausländerinnen und Ausländer ausgenommen, die ihr Aufenthaltsrecht allein oder neben einem Aufenthaltsrecht nach Buchstabe
b aus Artikel 10 der Verordnung (EU) Nr. 492/2011 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 5. April 2011 über die Freizügigkeit
der Arbeitnehmer innerhalb der Union (Freizügigkeitsverordnung) ableiten.
Dies ist bei den Antragstellern der Fall. Die Antragsteller leiten ihr Aufenthaltsrecht, anknüpfend an den Schulbesuch der
Antragstellerin zu 2), allein aus Art. 10 der Freizügigkeitsverordnung ab; an dem tatsächlichen Schulbesuch der Antragstellerin
zu 2) zweifelt der Senat einstweilen nicht. Insbesondere besteht kein fortwirkendes Aufenthaltsrecht der Antragstellerin zu
1) aus § 2 Abs. 2 Nr. 1 a, Abs. 3 FreizügG/EU, weil ihre letzte Beschäftigung - was zwischen den Beteiligten auch nicht streitig ist - zum 31.12.2018 endete. Damit ergibt
sich das Aufenthaltsrecht der Antragstellerin seit dem 01.07.2019 allein aus dem Zwecke der Arbeitsuche, so dass sie gemäß
§ 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 b) SGB II von Leistungen nach dem SGB II ausgeschlossen ist.
cc) Der Senat konnte sich im Rahmen der im einstweiligen Rechtsschutz nur möglichen summarischen Prüfung nicht davon überzeugen,
dass der Leistungsausschluss des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 c) SGB II wegen des Anwendungsvorrangs europäischen Sozialrechts nicht anwendbar ist.
Die europarechtlichen Bedenken, die gegen diesen Leistungsausschluss vorgebracht werden und einen Verstoß gegen das leistungsrechtliche
Gleichbehandlungsgebot des Art. 4 der Verordnung (EG) 883/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29.04.2004 (Koordinierungsverordnung)
annehmen (hierzu Vorlagebeschluss des LSG NRW vom 14.02.2019 - L 19 AS 1104/18, m.w.N. zum Streitstand), hält der Senat derzeit nicht für derart durchgreifend, dass das nationale Recht unangewendet bleiben
müsste.
Der Senat teilt im Rahmen der im Eilverfahren vorzunehmenden summarischen Prüfung nicht die Auffassung, dass der Leistungsausschluss
des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 c) SGB II eine europarechtlich nicht gerechtfertigte (bzw. sogar nicht zu rechtfertigende) Ungleichbehandlung im Sinne des Art. 4 der
Koordinierungsverordnung darstellt. Denn diese Auffassung fußt auf der aus Sicht des Senates nicht zutreffenden Annahme, die
Schranken- bzw. Ausnahmeregelung des Art. 24 Abs. 2 der Richtlinie 2004/38/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29.04.2004 über das Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen, sich
im Hoheitsgebiet der Mitgliedsstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten (Freizügigkeitsrichtlinie), könne Ungleichbehandlungen
hinsichtlich des Bezugs von Sozialleistungen bei einem Freizügigkeitsrecht aus Art. 10 Abs. 1 der Freizügigkeitsverordnung
nicht rechtfertigen. Der Senat konnte sich damit einstweilen nicht davon überzeugen, dass ein Aufenthaltsrecht aus der Freizügigkeitsverordnung
europarechtlich zwingend zu einem leistungsrechtlichen Anspruch auf Sicherung des Lebensunterhaltes (Sozialhilfe iSd. Art.
24 Abs. 2 Freizügigkeitsrichtlinie bzw. besondere beitragsunabhängige Geldleistung iSd. Art. 70 Abs. 2 Koordinierungsverordnung)
führen soll, ohne denselben Schranken zu unterfallen, die leistungsrechtlich für Aufenthaltsrechte aus der Freizügigkeitsrichtlinie
gelten. Der Senat nimmt insoweit zur Begründung im Einzelnen auf seinen Beschluss vom 14.09.2017 (L 21 AS 1459/17 B ER / L 21 AS 1360/18 B, Juris Rn. 43 ff.) Bezug, auf den er die Beteiligten vor seiner Entscheidung ausdrücklich hingewiesen hat.
dd) Die hier vorzunehmende Interessenabwägung unter besonderer Berücksichtigung der Situation der Antragsteller (dazu oben
bei a) rechtfertigt es nicht, den nationalen Leistungsausschluss des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 c) SGB II einstweilen nicht anzuwenden.
Denn es sind keine besonderen Gründe erkennbar oder von den Antragstellern vorgetragen worden, die eine solche Nichtanwendung
geltenden nationalen Rechts rechtfertigen könnten. Ein solcher besonderer Grund könnte insbesondere angesichts der grundrechtlichen
Schutzpflicht aus Art.
2 Abs.
2 Satz 1
GG eine Schwangerschaft mit unmittelbar bevorstehender bzw. zu erwartender Entbindung sein (dazu Beschluss des erkennenden Senates
vom 14.09.2017 - L 21 AS 1459/17 B ER / L 21 AS 1360/18 B, Juris Rn. 36).
Der Senat verkennt nicht, dass die Nichtgewährung von existenzsichernden Leistungen nach dem SGB II für die Antragsteller wirtschaftlich weitreichende Folgen hat. Sofern sie dadurch mittelbar veranlasst werden sollten, nach
Italien als Herkunftsland zurückzukehren, werden gemäß § 23 Abs. 3 Satz 3 SGB XII hilfebedürftigen Ausländern bis zur Ausreise, längstens jedoch für einen Zeitraum von einem Monat, einmalig innerhalb von
zwei Jahren eingeschränkte Hilfen gewährt, um den Zeitraum bis zur Ausreise zu überbrücken (Überbrückungsleistungen); die
Zweijahresfrist beginnt mit dem Erhalt der Überbrückungsleistungen nach Satz 3. Die Überbrückungsleistungen umfassen gemäß
§ 23 Abs. 3 Satz 5 SGB XII Leistungen zur Deckung der Bedarfe für Ernährung sowie Körper- und Gesundheitspflege, Leistungen zur Deckung der Bedarfe
für Unterkunft und Heizung in angemessener Höhe, einschließlich der Bedarfe nach § 35 Abs. 4 und § 30 Abs. 7 SGB XII, die zur Behandlung akuter Erkrankungen und Schmerzzustände erforderliche ärztliche und zahnärztliche Behandlung einschließlich
der Versorgung mit Arznei- und Verbandmitteln sowie sonstiger zur Genesung, zur Besserung oder zur Linderung von Krankheiten
oder Krankheitsfolgen erforderlichen Leistungen und ferner Leistungen nach § 50 Nr. 1 bis 3 SGB XII. Soweit dies im Einzelfall besondere Umstände erfordern, werden Leistungsberechtigten zur Überwindung einer besonderen Härte
gemäß § 23 Abs. 3 Satz 6 SGB XII andere Leistungen im Sinne von Absatz 1 gewährt; ebenso sind Leistungen über einen Zeitraum von einem Monat hinaus zu erbringen,
soweit dies im Einzelfall auf Grund besonderer Umstände zur Überwindung einer besonderen Härte und zur Deckung einer zeitlich
befristeten Bedarfslage geboten ist.
Die Antragsteller haben nach dem unwidersprochenen Vortrag der Beigeladenen bei ihm einen Antrag auf solche Überbrückungsleistungen
nach dem SGB XII bislang nicht gestellt.
ee) Auch das Gleichbehandlungsgebot des Art. 1 des Europäischen Fürsorgeabkommens (EFA vom 11.12.1953, BGBl. II 1956, S. 564) steht dem Leistungsausschluss nach § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 c) SGB II nicht entgegen. Bezogen auf SGB II-Leistungen kann sich ein Unionsbürger nach Erklärung des Vorbehalts durch die Bundesregierung am 19.12.2011 nicht mehr auf
das Gleichbehandlungsgebot des EFA berufen (BSG, Urteil vom 17.03.2016, B 4 AS 32/15 R, Juris Rn. 18). Der von der Bundesregierung erklärte Vorbehalt ist wirksam (BSG, Urteil vom 03.12.2015, B 4 AS 43/15 R, Juris Rn. 18 ff).
2. Die Kostenentscheidung beruht auf der entsprechenden Anwendung des §
193 SGG.
3. Den bedürftigen Antragstellern war für ihre Rechtsverteidigung im Beschwerdeverfahren Prozesskostenhilfe zu bewilligen
(§
73a Abs.
1 Satz 1
SGG i.V.m. §
119 Abs.
1 Satz 2
ZPO).
4. Dieser Beschluss kann nicht mit der Beschwerde an das Bundessozialgericht angefochten werden (§
177 SGG).