Anspruch auf Anerkennung von Beschäftigungszeiten in einem Ghetto nach dem ZRBG in der gesetzlichen Rentenversicherung
Anforderungen an den Begriff des Ghettos
Tatbestand
Die Beteiligten streiten über einen Anspruch des Klägers auf Altersrente unter Berücksichtigung von Versicherungszeiten in
einem Ghetto nach dem Gesetz zur Zahlbarmachung von Renten aus Beschäftigungen in einem Ghetto (ZRBG). Dabei geht es maßgeblich
darum, ob der Kläger sich in einem Ghetto aufgehalten hat.
Der Kläger ist 1929 in S_________________________________ in der Nähe von M_____________________ in P____ geboren. Der Ort
hatte damals etwa einhundert Einwohner. Der Kläger ist jüdischen Glaubens. Bis 1942 lebte er in S_____. Von April 1942 bis
Anfang 1943 wurde er im Zwangsarbeitslager B_______ inhaftiert, 1943 im Zwangsarbeitslager H______________. 1943/1944 kam
er in das Konzentrationslager M_____, 1944/1945 in das Konzentrationslager F__________. 1945 wanderte der Kläger nach E______
aus; seit 1949 lebt er in den U__, deren Staatsbürger er ist. Er ist als Verfolgter gemäß § 1 Bundesentschädigungsgesetzes
(BEG) anerkannt und er erhielt eine Entschädigung von der Claims Conference aus dem Artikel 2 - Fonds.
Am 16. März 2010 beantragte er bei der Beklagten die Gewährung einer Altersrente unter Berücksichtigung von Beschäftigungszeiten
in einem Ghetto. Hierzu trug er vor, er habe ungefähr von 1941 bis 1942 in R_________ im Ghetto gelebt und von Januar 1942
bis Dezember 1942 außerhalb des Ghettos zehn bis zwölf Stunden täglich LKWs gereinigt, Küchenarbeiten verrichtet und die Unterkünfte
der Offiziere gereinigt. Das Ghetto in R_________ sei ohne Mauern oder Umzäunung offen gewesen. Trotzdem habe die jüdische
Bevölkerung sich nicht frei bewegen können, sondern sei auf den Raum des Ghettos beschränkt gewesen, auch wenn sie außerhalb
des Ghettos gearbeitet habe. In dem Fall hätten die Juden das Ghetto morgens verlassen und seien abends zurückgekehrt.
Mit Bescheid vom 1. Juli 2011 lehnte die Beklagte den Rentenantrag des Klägers ab. Zur Begründung führte sie aus, die erforderliche
Versicherungszeit von 60 Kalender-monaten für eine Regelaltersrente sei nicht erfüllt. Der Kläger sei von Januar 1941 bis
Dezember 1942 nicht während eines zwangsweisen Aufenthalts in einem Ghetto beschäftigt gewesen. Es lägen keine Erkenntnisse
vor, nach denen in R_________ (Ha___________) ein Ghetto bestanden habe.
Dagegen legte der Kläger am 27. Juli 2011 Widerspruch ein. Die Beklagte sei fehlerhaft davon ausgegangen, dass es in R_________
kein Ghetto gegeben habe. R_________ sei ein kleines Dorf gewesen, in dem ungefähr 8 jüdische Familien gelebt hätten. Im Januar
1941 sei der Ort abgesperrt worden und den Juden sei es nicht mehr erlaubt gewesen, ihn zu verlassen. Seit dem Zeitpunkt habe
er im Alter von 12 Jahren mit seiner Mutter, seinem Bruder und seiner Schwester in dem Dorf gewohnt. Er habe begriffen, dass
sein Überleben und das seiner Familie davon abhinge, dass er sich selbst bei den Deutschen nützlich machte. Daher habe er
beschlossen, für sie zu arbeiten und habe ihre LKWs gereinigt, in der Küche gearbeitet und die Offizierswohnungen gesäubert.
Er und andere Juden seien hierzu in die drei Ortschaften der Umgebung von M_____ gefahren worden. Für die Arbeit habe er Extraportionen
zu essen erhalten, die in der Zeit, als es nicht genug zu essen gegeben habe, sehr wertvoll gewesen seien. Das Ghetto in R_________
sei sehr klein gewesen, sodass es kaum in den Büchern Erwähnung gefunden habe, und es sei möglich, dass er der einzige Überlebende
sei.
Die Beklagte wies den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 7. Dezember 2011 zurück. Zur Begründung führte sie aus, nach
dem Wortlaut des ZRBG setze ein Rentenanspruch voraus, dass die Beschäftigung in einem Ghetto ausgeübt worden sei. Eine Beschäftigung
außerhalb des Ghettos stehe dem gleich, wenn die Verfolgten täglich von der Arbeitsstätte in das Ghetto zurückgekehrt seien.
Beschäftigungen außerhalb des Ghettos, bei denen die Verfolgten am Beschäftigungsort untergebracht gewesen seien, fielen nicht
unter das Gesetz. Ein zwangsweiser Ghettoaufenthalt liege erst ab dem Zeitpunkt vor, von dem an die Juden auf deutsche Veranlassung
Beschränkungen in ihrer Bewegungsfreiheit unterworfen gewesen seien und über die Wahl von Wohnsitz oder Aufenthalt nicht mehr
hätten frei entscheiden können. Dabei sei nicht zwischen offenen und geschlossenen Ghettos zu unterscheiden. Für die Beurteilung
der Frage, ob ein zwangsweiser Ghettoaufenthalt vorgelegen habe, greife die Rentenversicherung ausschließlich auf eine vom
Bundesministerium für Finanzen im Zusammenhang mit der Ghetto-Richtlinie zusammengestellte Ghettoliste zurück, die von einer
Untergruppe der ZRBG-Lenkungsgruppe weiter gepflegt werde. Grundlage für die Entscheidung sei jedoch nicht die Liste, sondern
die jeweilige Quelle für deren Eintrag. Die aktuelle Ghettoliste enthalte keinen Eintrag über ein Ghetto in R_________. Auch
weitere Ermittlungen bei der Claims-Conference hätten zu keinem anderen Ergebnis geführt.
Gegen die Entscheidung hat der Kläger am 7. März 2012 beim Sozialgericht Lübeck Klage erhoben. Zur Begründung hat er Unterlagen
darüber vorgelegt, dass R_________ von den deutschen Truppen besetzt gewesen sei und dass er für die Deutschen gearbeitet
habe. Hierzu hat er vorgetragen, er habe von Januar bis Dezember 1940 Reinigungsarbeiten in deutschen Häusern verrichtet und
von Januar 1941 bis März 1942 für die Wehrmacht (Motor Pool) gearbeitet. Ferner hat er Berichte über die benachbarten Städte
Pa____ und M_____ vorgelegt, in denen die Verhältnisse denen in R_________ vergleichbar gewesen seien. M_____ sei allerdings
eine größere Stadt gewesen. Ein Überlebender von dort habe berichtet, dass die Juden vom Judenrat und von den deutschen Besatzern
Arbeit bekommen hätten. Es sei zwar schwierig, eine so kleine Ortschaft wie R_________ als Ghetto zu definieren, jedoch seien
die Verhältnisse mit denen eines Ghettos vergleichbar gewesen. In R_________ hätten ungefähr 21 jüdische Einwohner in drei
Familien gelebt, des Weiteren drei polnische Familien. Die übrigen Bewohner seien Volksdeutsche gewesen, die sich mit den
deutschen Besatzern schnell verbrüdert hätten und den Juden gegenüber nicht wohlgesonnen gewesen seien, sondern sie verfolgt
hätten. Nach § 2 der Verordnung über die Einsetzung von Judenräten vom 28. November 1939 hätten 12 Personen einen Judenrat
bilden müssen. Dies wäre etwa die gesamte erwachsene jüdische Bevölkerung von R_________ gewesen. Daher seien die Juden in
R_________ und in Pa____ dem Judenrat in M_____ unterstellt worden. Der Ghettobegriff des § 1 ZRBG sei gesetzlich nicht definiert
und weit auszulegen. Zweck des ZRBG sei es, die ghettotypischen Beschäftigungsformen von Juden in den vom Deutschen Reich
besetzten oder annektierten Gebieten sozialversicherungsrechtlich zu berücksichtigen. Die Anwendung des ZRBG habe nach entschädigungsrechtlichen
Grundsätzen zu erfolgen. Danach müsse das Prinzip der Wiedergutmachung gegenüber der Bewahrung des sozialversicherungsrechtlichen
Systems Vorrang haben. Die Entschädigung des tatsächlich erlittenen Schadens sei der oberste Grundsatz. Für die Einschätzung
ghettoähnlicher Lebensverhältnisse seien die ganzen damaligen Lebensumstände zu berücksichtigen. Diese stellten sich nicht
anders als in einem geschlossenen Ghetto dar. Durch den Davidstern sei er als Jude gekennzeichnet und von jedem Kontakt mit
Volksdeutschen ausgeschlossen gewesen. Die Rentenversicherung selbst habe bereits den Aufenthalt in sogenannten Judenhäusern
vor allem in Ba_______ als Aufenthalt in einem Ghetto anerkannt. Auch das Haus seiner Eltern sei als solches zwar nicht gekennzeichnet,
aber bekannt gewesen, weil sich wegen der geringen Größe des Ortes alle Einwohner gekannt hätten. Die jüdischen Familien hätten
unter ständiger Kontrolle der Nachbarn gelebt, die das Ausgehverbot überwacht hätten. Die drei typischen Merkmale eines Ghettos,
nämlich die Absonderung und Konzentrierung der jüdischen Bevölkerung und ihre internierungsähnliche Unterbringung, seien erfüllt,
wobei allerdings infolge der geringen Bevölkerung am Ort von einer Konzentrierung nicht die Rede sein könne. Angesichts dieser
Umstände habe er auch nicht unverändert im elterlichen Haus weiter gelebt, er habe das Haus nicht oder nur zur Arbeit verlassen
dürfen. Faktisch habe er auch mit den Nachbarn, die Volksdeutsche gewesen seien, nicht mehr in Kontakt treten können, denn
diese hätten davor zurückgescheut, als sogenannte Judenfreunde zu gelten.
Der Kläger hat schriftlich beantragt,
die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 1. Juli 2011 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 7. Dezember 2011
zu verurteilen, ihm unter Berücksichtigung von Ghetto-Beitragszeiten von Januar 1940 bis März 1942 eine Altersrente zu gewähren.
Die Beklagte hat schriftlich beantragt,
die Klage abzuweisen.
Ergänzend zum Inhalt der angefochtenen Bescheide hat sie ausgeführt, es sei bereits deshalb nicht von einem Ghetto auszugehen,
weil die jüdische und die volksdeutsche Bevölkerung in R_________ in unmittelbarer Nachbarschaft gelebt habe. Die jüdische
Bevölkerung habe unverändert in ihren bisherigen Häusern in R_________ gelebt. Der Begriff des Ghettos verlange eine Absonderung,
Konzentrierung und internierungsähnliche Unterbringung der jüdischen Bevölkerung, die dort nicht gegeben gewesen sei. Die
sogenannten Judenhäuser in Ba_______ unterschieden sich von dieser Situation insofern, als dort spezielle Häuser als Judenhäuser
benannt und gekennzeichnet worden seien, in denen die jüdischen Familien zwangsweise untergebracht worden seien.
Das Sozialgericht hat von dem Professor für osteuropäische Geschichte an der Universität Hamburg Prof. Dr. _____________G__
ein Gutachten zur Situation in R_________ und M_____ vom 14. März 2016 eingeholt.
Nach vorheriger Mitteilung der beabsichtigten Verfahrensweise hat es die Klage mit Gerichtsbescheid vom 20. Oktober 2016 abgewiesen.
Zur Begründung hat es im Wesentlichen ausgeführt, der Begriff des Ghettos sei ein unbestimmter Rechtsbegriff. Seine Auslegung
müsse sich am Sinn und Zweck des ZRBG orientieren. Es komme nicht entscheidend darauf an, was historisch unter einem Ghetto
zu verstehen oder von der Besatzungsmacht als Ghetto bezeichnet worden sei. Das ZRBG solle den Verfolgten für deren Beschäftigung
wegen eines Zwangsaufenthalts in einem vom Deutschen Reich zu verantwortenden Ghetto eine Rente aus der Deutschen Rentenversicherung
ermöglichen. Da die unter normalen Lebens- und Arbeitsbedingungen sinnvollen Merkmale des rentenversicherungsrechtlichen Entgeltbegriffs
unter den im Ghetto herrschenden Bedingungen weitgehend ihren Sinn verloren hätten, komme es für die Definition eines Ghettos
entscheidend darauf an, ab wann für NS-Verfolgte Lebens- und Arbeitsbedingungen vorgelegen hätten, unter denen eine Beurteilung
von Beschäftigungen nach rentenversicherungsrechtlichen Maßstäben keinen Sinn mehr gemacht habe. Die Einrichtung von Ghettos
habe verschiedene Stadien durchlaufen und die Zusammenfassung der jüdischen Bevölkerung in Wohnbezirken, die mit Zäunen und
Mauern von ihrer Umgebung abgetrennt worden seien, sei nur der Abschluss dieser Entwicklung. Der Ghettobegriff sei weit zu
fassen. Es handele sich dabei um ein abgegrenztes Wohnviertel in einer Stadt oder einem städtischen Gefüge. Anstelle einer
zentralen fremdbestimmten Leitung habe es die formale Selbstverwaltung durch Judenräte oder Judenälteste gegeben. In gewissem
Rahmen sei der Schein eines selbstbestimmten Lebens aufrechterhalten worden. Ghettos seien Orte gewesen, an denen sich ihre
Bewohner auch hätten bilden und kulturell betätigen können und die somit einen Lebensraum dargestellt hätten, in dem Arbeit
aus eigenem Willensentschluss noch möglich gewesen sei. Ein Zwangsaufenthalt sei anzunehmen, wenn die Kriterien der Konzentration,
der Absonderung und der internierungsähnlichen Unterbringung erfüllt seien. Die Maßnahmen zur Absonderung und Einschränkung
der Freizügigkeit hätten eine Intensität erreichen müssen, die in vergleichbarer Weise wie Mauern oder Zäune den Aufenthalt
hätten beschränken müssen. Es sei dagegen nicht notwendig, dass der Aufenthalt in dem Wohnbezirk auf einer behördlichen Zuweisung
beruhte und dass in dem Bezirk ausschließlich oder überwiegend Juden gewohnt hätten. Es sei nicht überwiegend wahrscheinlich,
dass der Kläger in einem Ghetto in diesem Sinne gelebt habe. Die Verhältnisse seien auch nicht einem Ghetto ähnlich gewesen.
Die Bewohner von R_________ seien nicht konzentriert worden und nicht internierungsähnlich untergebracht gewesen. Es sei auch
nicht bekannt, dass der Kläger in einem bestimmten, besonders gekennzeichneten Haus habe wohnen müssen. Allerdings sei aufgrund
der geringen Einwohnerzahl eine entsprechende Kennzeichnung nicht erforderlich gewesen. Die Juden seien in R_________ auch
nicht stark bewacht worden. Dies folge aus dem Gutachten von Prof. Dr. G_________, das überzeugend sei. Würde man die Einschränkungen,
die der Kläger erfahren habe, unter den Begriff eines Ghettos fassen, wäre der Tatbestand des ZRBG gegenstandslos; auch unter
Berücksichtigung einer weiten Auslegung des Begriffs widerspräche dies dem Zweck des ZRBG. Trotz mehrerer Änderungen des ZRBG
habe der Gesetzgeber an dem Begriff eines Ghettos jedoch festgehalten. Auch aus der sogenannten Ghettoliste der Beklagten
folge nichts Anderes. Zwar sei dort der Ort M_____ eingetragen, jedoch habe Prof. Dr. G_________ ausgeführt, dass sich dort
kein Ghetto befunden habe.
Gegen den seinem Prozessbevollmächtigten am 1. November 2016 zugestellten Gerichtsbescheid richtet sich die Berufung des Klägers,
die am 14. November 2016 beim Schleswig-Holsteinischen Landessozialgericht eingegangen ist. Die Beteiligten vertiefen ihren
erstinstanzlichen Vortrag.
Der Kläger beantragt schriftlich sinngemäß,
den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Lübeck vom 20. Oktober 2016 sowie den Bescheid vom 1. Juli 2011 in der Fassung des
Widerspruchsbescheides vom 7. Dezember 2012 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, ihm unter Berücksichtigung einer Zeit
der Beschäftigung in einem Ghetto vom Januar 1940 bis März 1942 eine Altersrente zu gewähren.
Die Beklagte beantragt schriftlich,
die Berufung zurückzuweisen.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung des Senats ohne Durchführung einer mündlichen Verhandlung einverstanden
erklärt.
Die Verwaltungsakten der Beklagten, die Verwaltungsakten des Amtes für Wiedergutmachung in Saarburg und die Verfahrensakte
haben dem Senat in der Beratung vorgelegen. Zur Ergänzung der Einzelheiten wird darauf Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
Der Senat konnte über den Rechtsstreit gemäß §
124 Abs.
2 Sozialgerichtsgesetz (
SGG) ohne Durchführung einer mündlichen Verhandlung entscheiden, weil die Beteiligten hierzu ihr Einverständnis erteilt haben.
Die Berufung des Klägers gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Lübeck vom 20. Oktober 2016 ist zulässig. Insbesondere
ist sie statthaft (§§
143,
144 SGG) und form- und fristgerecht (§
151 Abs.
1 SGG) eingegangen.
Sie ist auch begründet. Der Kläger hat gegenüber der Beklagten einen Anspruch auf Gewährung einer Altersrente unter Berücksichtigung
der Zeit von Januar 1940 bis März 1942 als Beschäftigungszeit in einem Ghetto. Die entgegenstehenden Entscheidungen der Beklagten
und des Sozialgerichts waren aufzuheben, weil sie den Kläger in seinem Recht verletzen, und die Beklagte war zur Rentengewährung
zu verpflichten.
Nach §
35 Abs.
1 Sechstes Buch Sozialgesetzbuch (
SGB VI) in der bis zum 31. Dezember 2007 und damit auch am 1. Juli 1997 gültigen Fassung (dazu s. u.) haben Versicherte Anspruch
auf Regelaltersrente, wenn sie das 65. Lebensjahr erreicht und die allgemeine Wartezeit von fünf Jahren erfüllt haben. Auf
die allgemeine Wartezeit werden gemäß §
51 Abs.
1, Abs.
4 SGB VI Kalendermonate mit Beitragszeiten und mit Ersatzzeiten angerechnet. Beitragszeiten sind gemäß §
55 Abs.
1 SGB VI Zeiten, für die nach Bundesrecht Pflichtbeiträge (Pflichtbeitragszeiten) oder freiwillige Beiträge geleistet worden sind.
Gemäß §
55 Abs.
1 Satz 2
SGB VI sind Pflichtbeitragszeiten auch Zeiten, für die Pflichtbeiträge nach den besonderen Vorschriften als gezahlt gelten.
§ 2 Abs. 1 ZRBG in der Fassung des Gesetzes vom 15. Juli 2014 (BGBl I, S. 952) bestimmt, dass für Zeiten der Beschäftigung von Verfolgten in einem Ghetto Beiträge als gezahlt gelten. Gemäß § 1 Abs. 1
ZRBG gilt dieses Gesetz für Zeiten der Beschäftigung von Verfolgten in einem Ghetto, die sich dort zwangsweise aufgehalten
haben, wenn die Beschäftigung aus eigenem Willensschluss zu Stande gekommen ist, gegen Entgelt ausgeübt wurde und das Ghetto
in einem Gebiet des nationalsozialistischen Einflussbereichs lag.
Eine Beschäftigung von Verfolgten in einem Ghetto im Sinne von § 1 Abs. 1 Satz 1 ZRBG ist jegliche Beschäftigung innerhalb
und außerhalb des räumlichen Bereichs eines Ghettos, die von Verfolgten ausgeübt wurde, während sie sich zwangsweise in einem
Ghetto aufgehalten haben. Beschäftigung in diesem Sinne meint jede nichtselbstständige Arbeit. Anhaltspunkte für das Bestehen
einer solchen Arbeit sind eine von Weisungen eines anderen hinsichtlich Zeit, Ort, Dauer, Inhalt oder Gestaltung abhängige
Beschäftigung sowie eine gewisse funktionale Eingliederung in die Arbeitsorganisation des Unternehmens oder Weisungsgebers,
wobei die tatsächlichen Umstände des Einzelfalls und das sich daraus ergebende Gesamtbild der ausgeübten Tätigkeit maßgeblich
sind. Eine Beschäftigung ist nach der Rechtsprechung des BSG bereits entgeltlich im Sinne von § 1 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1b ZRBG, wenn für die geleistete Arbeit irgendeine Art der Entlohnung gezahlt wurde, ob in Geld, Naturalien oder in Gutscheinen,
unabhängig von der Quantität, Qualität und dem Transferweg. Die Beschäftigung ist aus eigenem Willensentschluss im Sinne des
§ 1 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1a ZRBG zu Stande gekommen, wenn der Ghettobewohner hinsichtlich des Zustandekommens oder der Durchführung
der Arbeit noch eine Dispositionsbefugnis zumindest dergestalt hatte, dass er die Annahme oder Ausführung der Arbeit auch
ohne Gefahr für Leib, Leben oder seine Restfreiheit ablehnen konnte (vgl. zu alldem BSG, Urteile vom 2. Juni 2009 - B 13 R 139/08 R - SozR 4-5075 § 1 Nr. 5 sowie B 13 R 81/08 R - juris; Urteile vom 3. Juni 2009 - B 5 R 26/08 R - SozR 4-5075 § 1 Nr. 8 und B 5 R 66/08 R - juris).
Kann nach diesen Maßstäben eine Beschäftigung im Sinne von § 1 Abs. 1 Satz 1 ZRBG nicht mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit
nachgewiesen werden, reicht es zur Feststellung der erheblichen Tatsachen gemäß § 1 Abs. 2 ZRBG i. V. m. § 3 Abs. 1 des Gesetzes zur Wiedergutmachung nationalsozialistischen Unrechts in der Sozialversicherung (WGSVG) aus, wenn die Tatsachen glaubhaft gemacht sind. Eine Tatsache ist glaubhaft gemacht, wenn ihr Vorliegen nach dem Ergebnis
der Ermittlungen, die sich auf sämtliche erreichbaren Beweismittel erstrecken sollen, überwiegend wahrscheinlich ist. Gefordert
ist insoweit mehr als die bloße Möglichkeit einer Tatsache, aber auch weniger als die an Gewissheit grenzende Wahrscheinlichkeit.
Es muss aber die "gute Möglichkeit" bestehen, dass sich die entscheidungserheblichen Tatsachen so zugetragen haben, wie sie
von dem Betroffenen vorgetragen werden. Allein die bloße Möglichkeit eines solchen Geschehensablaufs, wie er vorgetragen wurde,
reicht für eine Anerkennung nicht aus, sondern es muss mehr für als gegen den behaupteten Sachverhalt sprechen. Von verschiedenen
möglichen Geschehensabläufen muss der vorgetragene relativ gesehen am wahrscheinlichsten erscheinen (vgl. BSG, Urteil vom 14. Dezember 2006 - B 4 R 29/06 R - SozR 4-5075 § 1 Nr. 3; Urteil vom 8. August 2001 - B 9 V 23/01 B - SozR 3-3900 § 15 Nr. 4).
Unter Anwendung dieser Maßstäbe hält der Senat es für glaubhaft, dass der Kläger in der Zeit von Januar 1940 bis zum März
1942 während seines Aufenthaltes in einem Ghetto gegen Entgelt freiwillig gearbeitet hat. Denn es spricht mehr für diesen
Geschehensablauf als für einen jeden möglichen anderen. Allerdings hat der Kläger in seinem Rentenantrag angegeben, er habe
von Januar 1941 bis Dezember 1942 in einem Ghetto gearbeitet. Dementsprechend hat die Beklagte auch diesen Zeitraum in ihren
Bescheiden zugrunde gelegt. Die Aussage muss der Kläger jedoch offensichtlich irrtümlich gemacht haben. Denn nach seinem gesamten
Vortrag kam er bereits im April 1942 in das Arbeitslager B_______. Dies hat er schon im Antrag auf Entschädigung vom 21. Juli
1953 angegeben. Auch in M_____ wurde das Ghetto nach den Angaben der Liste der ZRBG-Lenkungsgruppe im März 1942 aufgelöst.
Prof. Dr. G_________ hat es in seinem Gutachten vom 14. März 2016 als unstreitig bezeichnet, dass die jüdische Bevölkerung
von R_________ zwischen dem 9. und 13. März 1942 zur Vernichtung deportiert, erschossen oder in Zwangsarbeitslager verbracht
worden sei. Aus demselben Grund muss die Angabe in dem im Rahmen des Entschädigungsverfahrens eingeholten medizinischen Gutachten
(Az. 38438), nach dem der Kläger bereits 1941 in das Zwangsarbeitslager B_______ gekommen sein soll, fehlerhaft sein. Bereits
im Schreiben vom 27. Februar 2012 an die Beklagte hat der Kläger den Zeitraum präzisiert und angegeben, von 1940 bis 1942
im Ghetto tätig gewesen zu sein. Den von ihm im Gerichtsverfahren benannten Zeitraum Januar 1940 bis März 1942 hält der Senat
für glaubhaft im vorgenannten Sinne, denn auch der Anfangszeitpunkt ist nachvollziehbar: Prof. Dr. G__________ hat in seinem
Gutachten ausgeführt, dass der Ort M_____ (für die umliegenden Dörfer kann das gleiche gelten) am 13. September 1939 von den
deutschen Truppen besetzt worden sei. Im Oktober/November 1939 sei die Kennzeichnungspflicht für die jüdische Bevölkerung
eingeführt worden, die ab 1. Januar 1942 nicht mehr ungenehmigt einen anderen Wohnsitz habe nehmen dürfen. Da der Kläger keine
andere Überlebensmöglichkeit gehabt haben dürfte, ist naheliegend, dass er sich spätestens dann nach einer Beschäftigung umgesehen
haben wird. Der Senat geht daher vom 1. Januar 1940 bis März 1942 als Zeitraum der Beschäftigung aus.
Der Kläger unterfällt dem persönlichen Anwendungsbereich des ZRBG. Er ist als Verfolgter im Sinne des § 1 BEG anerkannt. Insbesondere
lebte er 1940 und bis März 1942 in R_________ in einem Ghetto. R_________ lag - wie unstreitig ist - im nationalsozialistischen
Einflussbereich. Dort existierte nach der Rechtsauffassung des Senats in der betreffenden Zeit auch ein Ghetto. Dies entnimmt
der Senat den Angaben des Klägers, die dieser im Entschädigung- und Verwaltungsverfahren sowie im Gerichtsverfahren gemacht
hat und dem Gutachten von Prof. Dr. G_________ vom 14. März 2016.
Der Kläger hat ausgeführt, in R_________ hätten bei Einmarsch der deutschen Truppen lediglich drei jüdische Familien mit insgesamt
21 Personen gelebt. Gleich nach Ausbruch des Krieges sei die Stadt von den deutschen Truppen besetzt worden. Die Juden hätten
eine Armbinde mit dem Judenstern tragen müssen. Sie hätten aus ihren Häusern und Wohnungen nicht mehr ohne Genehmigung umziehen
dürfen. Diese seien nach Angaben des Klägers nicht als Judenhäuser gekennzeichnet worden, obwohl die Verhältnisse in dem kleinen
Dorf allen bekannt gewesen sei und alle gewusst hätten, wo Juden gewohnt hätten. Nach den Ausführungen von Prof. Dr. G_________
erfolgte keine Kennzeichnung, die nach der Gutachtenaussage angesichts der überschaubaren örtlichen Verhältnisse überflüssig
gewesen wäre. Die Deutschen, und zwar sowohl die Besatzer als auch die Volksdeutschen, hätten nach Angaben des Klägers, die
von Prof. Dr. G_________ bestätigt wurden, eine wirksame Kontrolle ausgeübt und darauf geachtet, dass die Juden die ihnen
auferlegten Verbote nicht überschritten. Aus dem Grunde hätten diese sich aus den Häusern nicht wegbewegen können, es sei
denn, dass sie zur Arbeit gingen. Dabei hätten sie die Sperrstunden für die jüdische Bevölkerung einhalten müssen. Sie hätten
dem Judenrat in M_____ unterstanden. Prof. Dr. G_________ hat in der Zusammenfassung seines Gutachtens (Seite 13) ausgeführt,
dass die Juden zum zwangsweisen Aufenthalt in ihren Häusern gezwungen und von der übrigen Bevölkerung isoliert worden seien,
wobei zumindest für die Nachtstunden ein Ausgehverbot bestanden habe. Er hat ferner darauf hingewiesen, dass die Verhältnisse
denen in M_____ vergleichbar gewesen seien. Dies kann für die gesamten Dörfer der Umgebung von M_____ angenommen werden (vergleiche
Urteil des Senats vom 4. September 2018 - L 7 R 152/16 zu dem benachbarten Ort Pa____).
Somit kommt der Senat zu dem Ergebnis, dass die Juden in R_________ infolge der Kennzeichnungspflicht gegenüber der deutschen
und polnischen Bevölkerung als solche erkennbar und von ihr abgesondert war. Kontakte zwischen der jüdischen und der deutschen
und polnischen Bevölkerung waren auf ein Minimum reduziert, früher bestehende Kontakte brachen ab. Die Juden unterlagen einem
Wohnungszwang und konnten sich nicht mehr freizügig bewegen. Außerdem unterlagen sie einem verwaltungsrechtlichen sowie tatsächlichen
Zwang zum Aufenthalt in ihrer Wohnung, aus der sie sich zumindest nachts nicht fortbewegen durften und tagsüber aufgrund der
Anfeindungen der volksdeutschen Bevölkerung faktisch nicht fortbewegen konnten.
Diese Lebensverhältnisse erfüllen die Voraussetzungen für das Leben in einem Ghetto. Der Begriff des Ghettos ist im ZRBG oder
in der Gesetzesbegründung hierzu (vergleiche BT-Drs. 14/8583, Seite 1 ff) nicht definiert. Es ist ein unbestimmter Rechtsbegriff,
dessen Auslegung sich maßgeblich an dem Sinn und dem Zweck des ZRBG zu orientieren hat. Es kommt deshalb nicht entscheidend
darauf an, was historisch unter einem Ghetto zu verstehen ist oder von der Besatzungsmacht als solches bezeichnet wurde. Das
ZRBG soll Verfolgten für deren Beschäftigung während ihres Zwangsaufenthalts in einem vom Deutschen Reich zu verantwortenden
Ghetto eine Rente aus der Deutschen Rentenversicherung ermöglichen (BSG v. 2. Juni 2009 - B 13 R 81/08 R - SozR 4-5075 § 1 Nr. 5, Rn. 26; vergleiche Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage von Abgeordneten der Fraktion
DIE LINKE vom 8. Juni 2006, BT-Drs. 16/1955, Seite 1). Zwar ist das ZRBG als Reaktion auf die Ghetto-Rechtsprechung des BSG und in deren Akzeptanz verabschiedet worden (vergleiche BT-Drs. 14/8583, Seite 5; 14/8823, Seite 4; 15/1475, Seite 9; Antwort
der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen vom 20. Juni 2007, BT-Drs. 16/5720, Seite 5).
Es erweitert jedoch in mehrfacher Hinsicht die Reichweite dieser Rechtsprechung, indem es eine unterschiedslose Regelung unabhängig
von lokal anwendbarem Recht, Größe und Struktur der Ghettos schafft (BSG vom 2. Juni 2009 - aaO und vom 3. Juni 2009 - B 5 R 26/08 R - SozR 4-5075 § 1 Nr. 8, Rn. 28).
Umgangssprachlich und unter historischem Bezug wurde unter einem Ghetto ein abgesondertes Wohnviertel verstanden, das ab dem
Spätmittelalter vor allem der Separierung der jüdischen Bevölkerung diente (vgl. Eintrag "Ghetto" bei Wikipedia). Es konnte
sich um einen Stadtteil oder eine Straße handeln, in der ausschließlich Juden wohnten. Es war ein eingegrenzter und von den
anderen Teilen der Stadt abgetrennter Bezirk. Während Ghettos aus historischer Sicht reguläre Wohnbezirke der jüdischen Bevölkerung
waren, dienten die Ghettos in den von den Deutschen im Zweiten Weltkrieg besetzten Gebieten anderen Zwecken; sie waren nicht
als getrennte Wohngebiete für Juden geplant, sondern stellten ein Übergangsstadium im Verlauf der "Endlösung der Judenfrage"
dar. Es gab verschiedene Formen von Ghettos, geschlossene oder offene (Amsterdam) oder einzelne bestimmte Häuser wie in Ba_______
(Gutman u.a., Enzyklopädie des Holocaust, S. 535). Die Rechtsprechung zum ZRBG hat unter dem Blickwinkel der Zielrichtung
des Gesetzes einen weiten Ghetto- Begriff vertreten und es ausreichen lassen, dass der Aufenthalt der Juden rechtlich und
tatsächlich auf ein bestimmtes Wohngebiet beschränkt wurde und diese Beschränkung durch die Androhung schwerster Strafen bis
hin zur Todesstrafe durchgesetzt wurde. Die Aufenthaltsbeschränkung hatte eine Abtrennung der jüdischen von der übrigen Bevölkerung
zum Zweck (BSG vom 14. Dezember 2006 - B 4 R 29/06 R - SozR 4-5075 § 1 Nr. 3, Rn. 84; LSG Baden-Württemberg vom 26. Januar 2010 - L 11 R 2534/09 - juris, Rn. 44). Das LSG Nordrhein-Westfalen hat Kriterien herausgearbeitet, die für ein Ghetto kennzeichnend sind. Danach
zeichnet sich dieses durch die Absonderung, Konzentration und Internierung der jüdischen Bevölkerung aus. Die Absonderung
wird durch die Kennzeichnung mit dem Davidstern erzielt, die Konzentration erfolgt durch die Zusammenfassung der jüdischen
Bevölkerung der Stadt oder der weiteren Umgebung in einem Wohnbezirk, die Internierung durch die Zuweisung bestimmter zwingender
Wohnbezirke (LSG Nordrhein-Westfalen vom 15. Dezember 2006 - L 13 RJ 112/04 - juris, Rn. 32 ff; Urteil vom 13. Februar 2008 - L 8 R 153/06 - juris, Rn. 35). Das zwingende Merkmal der Konzentration in einem begrenzten Wohnbezirk hatte der 4. Senat des BSG aus § 43 Abs. 2 Bundesentschädigungsgesetz (BEG) abgeleitet (BSG vom 14. Dezember 2006, aaO). Das LSG Nordrhein-Westfalen hat jedoch bereits darauf hingewiesen (Urteil vom 1. September 2006
- L 14 R 41/05 - juris, Rn. 27), dass die NS-Machthaber eine vollständige und hermetische Abriegelung der jüdischen Bevölkerung aus verschiedenen
Gründen nicht realisieren konnten. Daraus folgte die große Zahl verschiedener offener Ghettos. (vgl. zu den verschiedenen
äußeren Verhältnissen in den Ghettos: Röhl, Vom historischen zum rechtlichen Ghettobegriff, NZS 2018, S. 514). Gemeinsam war allen Ghettos jedoch die fehlende Freizügigkeit der jüdischen Menschen. Das LSG Nordrhein-Westfalen hielt
es für maßgeblich, dass die Tätigkeit in einem Zeitraum ausgeübt wurde, in dem bereits eine aufgezwungene und kontrollierte
Separierung der jüdischen Bevölkerung in bestimmten Wohnbezirken faktisch realisiert und als Ausdruck behördlicher Beschränkungen
der Bewegungsfreiheit im Zusammenhang mit zunehmenden Verdrängungsmaßnahmen und in dem Zustrom weiterer Juden aufgrund von
Vertreibungsaktionen umgesetzt worden war (LSG Nordrhein-Westfalen vom 1. September 2006 - aaO).
Der Senat ist der Auffassung, dass an der "3-Elementen-Theorie" des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen als Grundsatz
festgehalten werden soll, weil diese im Großen und Ganzen die Lebensumstände widerspiegelt, die in den Ghettos im Generalgouvernement
in der Zeit der deutschen Besatzung während des Nationalsozialismus geherrscht haben. Das Merkmal der Absonderung war auch
bei dem Kläger erfüllt, denn nach den Feststellungen des Senats war auch er nach dem Einmarsch der deutschen Truppen sofort
gezwungen, die Armbinde mit dem Davidstern zu tragen und sich als Jude kenntlich zu machen. Die jüdischen Familien in R_________
waren auch im oben bezeichneten Sinne interniert. Denn sie mussten in ihren Wohnungen verbleiben und durften aus ihnen ohne
Genehmigung nicht wegziehen. Sie waren in ihrer Bewegungsfreiheit auf die Wohnungen bzw. Häuser beschränkt und durften diese
nicht verlassen, es sei denn, dass sie zur Arbeit gingen und - dies unterstellt der Senat - zum Zwecke unerlässlicher Besorgungen.
Dabei standen sie auch unter Kontrolle entweder der deutschen Besatzungstruppen oder der volksdeutschen Bevölkerung. Hierzu
hat der Gutachter G_________ ausgeführt, dass diese als im Ausland lebende Deutsche gelegentlich strenger auf die Einhaltung
der Vorschriften durch die jüdische Bevölkerung achteten als die reichsdeutsche Bevölkerung. Er hat ferner ausgeführt, dass
die "Volksdeutschen" sich häufig die Zwangslage der jüdischen Bevölkerung zu Nutze machten und diese zu ihren eigenen Zwecken
wirtschaftlich ausbeutete (vgl. Urteil des Senats vom 4. September 2018 - L 7 R 152/16 zum Ort Pa____). Dieses hat der Gutachter durch Zeugenaussagen belegt.
Allerdings waren die Juden in R_________ nicht konzentriert. Allein die Zahl von 21 Menschen ließ eine Konzentration in einem
bestimmten, abgegrenzten Wohnbezirk nicht zu und die Überschaubarkeit der örtlichen Verhältnisse erforderte diese auch nicht.
Vielmehr verblieben die Juden in ihren angestammten Häusern oder es wurden ihnen andere einzelne Häuser zugewiesen, in denen
sie leben mussten und die sie mit den oben genannten Ausnahmen nicht verlassen durften. Dies hindert jedoch nicht die Annahme,
dass die Juden in R_________ gleichwohl in einem Ghetto gelebt haben. Denn wenn man an dem Erfordernis der Konzentration unter
allen Bedingungen festhalten würde, wären die Juden in den kleinen Landgemeinden, in denen eine sofortige Konzentration der
jüdischen Bevölkerung nach der Besetzung der polnischen Gebiete kurzfristig gar nicht möglich war, von der Anwendung des ZRBG
ausgeschlossen. Es ist zu berücksichtigen, dass es sich bei der "Ghettoisierung" der Juden um einen längerfristig gestreckten
Vorgang handelte, der die verschiedenen Zwischenformen der Ghettobildung hervorrief. Dies belegt die Tatsache, dass auch der
Kläger wie die übrige jüdische Bevölkerung von R_________ und der anderen umliegenden Gemeinden im März 1942 in das Zwangsarbeitslager
B_______ kam. Diese Umsiedlungen dienten der Konzentration der gesamten jüdischen Bevölkerung des Kreises M_____. Ein Ausschluss
der Bevölkerung der Landgemeinden von der Anwendung des ZRBG würde jedoch dem Zweck des ZRBG nicht entsprechen.
Zweck des Gesetzes soll es sein, im Rentenrecht den Rest an (Vertrags-)Freiheit der jüdischen Bevölkerung bei der Ausübung
von Tätigkeiten zu berücksichtigen, der diese einerseits von Zwangsarbeiten in Zwangsarbeitslagern und Konzentrationslagern
abgrenzt und andererseits nicht die erforderlichen Merkmale der freien Willensbetätigung und des Entgelts für eine Beschäftigung
im Sinne des §
7 Abs.
1 Viertes Buch Sozialgesetzbuch (
SGB IV) aufweist ( vgl. BSG vom 18. Juni 1997 - 5 RJ 66/95 - SozR 3-5050 § 14 Nr. 1, Rn. 17; BSG vom 14. Dezember 2006 - B 4 R 29/06 R - SozR 4-5075 § 1 Nr. 3, Rn. 104; vgl. auch BSG vom 3. Juni 2009 - aaO, Rn. 20 bis 22). Maßgeblicher Hintergrund für die Gesetzesregelung ist die Ausübung einer Beschäftigung
jenseits einer Zwangsarbeit unter weitestgehender Einschränkung der Freizügigkeit im Übrigen. Die Abgrenzung eines Ghettos
von einem Zwangslager oder Konzentrationslager ist bereits aufgrund deren struktureller Organisationsform hinreichend möglich,
jedoch ist eine Abgrenzung von einer freien Lebensform ohne obrigkeitlichen Ordnungszwang nur schwer vorzunehmen, in der Beschäftigungen
im Sinne des §
7 Abs.
1 SGB IV ausgeübt werden können. Sie muss sich an der Zielbestimmung des ZRBG ausrichten (Röhl, aaO, S. 16). Das bedeutet, dass es
auf die Einschränkung der Freizügigkeit, nicht jedoch auf die äußeren Organisationsmerkmale ankommt, mit denen diese Einschränkung
verbunden ist. Diese Merkmale gleichen bei dem Versicherten denjenigen, bei denen das Ghetto mit "Mauer und Stacheldraht"
(vgl. LSG Nordrhein-Westfalen vom 31. März 2008 - L 3 R 20/06 - juris, Rn. 37) abgegrenzt war. Die jüdische Bevölkerung im Kreis M_____ war in der Lebensführung nach der insgesamt glaubhaften
Darstellung des Klägers auf die bewohnten Häuser beschränkt und durfte sich abgesehen vom Weg zur Arbeit nicht daraus fortbewegen.
Damit war sie in weitaus stärkerem Maß in der Bewegungsfreiheit eingeschränkt als in einem Ghetto im Sinne eines weitläufigeren
Wohnbezirkes (vgl. Ghetto Warschau). Denn dort stand es der jüdischen Bevölkerung frei, sich wenigstens innerhalb des Wohnbezirks
auf der Straße zu bewegen. Diese Möglichkeit hatte der Versicherte nicht. Wie oben ausgeführt, verlangt die Zielrichtung des
ZRBG, auf die Freiheitsbeschränkung als Grundlage für die Anerkennung der Beschäftigungszeiten abzustellen. Diese Beschränkung
war unter den Lebensverhältnissen in den kleinen Gemeinden des Kreises M_____ - hier R_________ - in gleicher Weise gegeben,
wie in großen Ghettos mit einer Konzentration der Juden der Stadt oder des Umlands. Allerdings muss diese Einschränkung der
Freizügigkeit auch tatsächlich gegeben sein, um die Beschäftigung in einem Ghetto im Sinne des § 2 Abs. 1 ZRBG von allen anderen
Beschäftigungs- und Lebensformen abzugrenzen und den Begriff des Ghettos nicht in Beliebigkeit ausufern zu lassen. Diese Voraussetzungen
sind dann gegeben, wenn die entsprechenden Teile der Bevölkerung als solche gekennzeichnet waren, ihre Freizügigkeit, der
Wohn- und ihr Lebensbereich eng begrenzt waren und sie keine oder allenfalls eine aufs Äußerste eingeschränkte Wahlmöglichkeit
hinsichtlich ihres Lebensbereichs hatten. Der Senat gelangt daher zu dem Schluss, dass es sich bei dem Merkmal der Konzentration
der Juden um einen historisch typischen Wesensbestandteil eines Ghettos handelt, der im Sinne des ZRBG weit auszulegen ist
und in kleinen Gemeinden auch Wohnformen umfasst, in denen das Leben der Juden auf ihre Häuser oder Wohnungen beschränkt ist.
Zwar hat Prof. Dr. G_________ in seinem Gutachten die Annahme von Ghettos für R_________ und die weiteren umliegenden Ortschaften
verneint. Dabei ist er jedoch von einem formalen Ghetto-Begriff ausgegangen und hat dem Merkmal der Konzentration auf einen
Stadtteil oder ein Stadtgebiet wesentliche Bedeutung beigemessen. Aus den oben genannten Gründen folgt der Senat diesem Ansatz
nicht und hält die faktische Beschränkung der Freizügigkeit für das maßgebliche Merkmal. Die übrigen Voraussetzungen für ein
Ghetto, die die bisherige Rechtsprechung aufgestellt hat, hat der Sachverständige hingegen bejaht.
Diese Auffassung wird durch die Tatsache gestützt, dass für R_________ und die weiteren umliegenden Ortschaften der Judenrat
für M_____ zuständig war. Damit war auch für diese Gemeinden eine Organisationsform gegeben, die üblicherweise für die Eigenverwaltung
der Lebensbedürfnisse in den Ghettos vorgesehen war. Dagegen ist es unerheblich, dass die jüdische Bevölkerung mangels einer
Konzentration mit den Volksdeutschen "Tür an Tür" wohnte. Denn die Ghettobildung nach den oben bezeichneten Vorgaben verlangt
keine Separierung der Juden in eigenen Stadtteilen oder Vierteln, sondern auch einzelne offene Straßenzüge oder Straßenseiten
erfüllen den Ghettobegriff, also Wohnformen, in denen die Juden und die anderen Bevölkerungsteile nah beieinander lebten.
In gleicher Weise hat der Senat es für glaubhaft erachtet, dass der Kläger in der Zeit, in der er in R_________ im Ghetto
gelebt hat, einer freiwilligen entgeltlichen Beschäftigung nachgegangen ist. Der Kläger hat geschildert, dass er in Wohnungen,
eventuell von Militärangehörigen geputzt hat, ferner auf dem deutschen Militärgelände gereinigt hat und die Militär-LKWs gewaschen
hat. Der Sachverständige Prof. Dr. G_________ hat diesen Vortrag des Klägers vor dem Hintergrund der weiteren historischen
Erkenntnisse für glaubhaft erachtet. Dieser Einschätzung folgt der Senat. Die Tatsache ist zwischen den Beteiligten nicht
umstritten.
Die Kostenentscheidung folgt aus §
193 SGG.
Der Senat hat gemäß §
160 Abs.
2 Nr.
1 SGG die Revision wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache zugelassen, da für den Gettobegriff des ZRBG höchstrichterlich
eine weitergehende Abklärung erforderlich ist.