Übergang eines Unterhaltsanspruchs auf den Träger der Sozialhilfe
Tatbestand:
Die Klägerin nimmt den Beklagten auf Zahlung von Kindesunterhalt in Anspruch.
Der Beklagte ist der Vater des am 21. Juni 1986 ehelich geborenen Kindes S., das bei den Großeltern mütterlicherseits lebt.
Die Mutter des Kindes ist erwerbsunfähig.
Sie hat keinen Anspruch auf Erwerbsunfähigkeitsrente, weil sie die hierfür erforderliche Wartezeit nicht erfüllt. Die Klägerin
gewährt S. seit 1988 Hilfe zum Lebensunterhalt nach dem Bundessozialhilfegesetz. Über den Sachverhalt wurde der Beklagte unter anderem durch "rechtswahrende Mitteilung" vom 27. Oktober 1994 in Kenntnis
gesetzt. Der Aufforderung der Klägerin, an sie Kindesunterhalt ab November 1994 in Höhe von monatlich 318 DM zu zahlen, kam
der Beklagte unter Hinweis darauf, daß er arbeitslos sei und selbst Sozialhilfe beziehe, nicht nach.
Mit ihrer Klage verlangte die Klägerin die Zahlung von Kindesunterhalt ab November 1994 in dem vorgenannten Umfang von dem
Beklagten. Für die Vergangenheit beanspruchte sie die Zahlung von Unterhalt aus übergegangenem Recht; für die Zukunft machte
sie die Unterhaltsansprüche mit der Begründung geltend, für S. voraussichtlich auf längere Zeit Sozialhilfeleistungen gewähren
zu müssen.
Die Klägerin vertrat die Auffassung, dem Beklagten obliege es, den Barunterhalt seiner Tochter durch Aufnahme einer Erwerbstätigkeit,
die er bei intensiven Bemühungen und gutem Willen finden könne, sicherzustellen; ihm seien deshalb fiktive Einkünfte anzurechnen,
durch die er seinen eigenen notwendigen Lebensbedarf und den Mindestbedarf des Kindes decken könne.
Der Beklagte trat der Klage mit der Behauptung entgegen, sich schon seit 10 Jahren erfolglos um eine Arbeitsstelle zu bemühen.
Er wies darauf hin, daß er über keine abgeschlossene Berufsausbildung verfüge und in der Vergangenheit - unstreitig - mehrere
Freiheitsstrafen wegen Diebstahls und wegen Trunkenheit im Straßenverkehr, zuletzt bis Mai 1994, verbüßt habe, über die er
auf Verlangen habe Angaben machen müssen, was dann stets zur Ablehnung seiner Einstellung geführt habe.
Das Amtsgericht hat der Klage stattgegeben. Hiergegen hat der Beklagte Berufung eingelegt, mit der er die Abweisung der Klage
begehrt hat. Die Klägerin hat sich dem Rechtsmittel angeschlossen und für S. ab 22. April 1996 Unterhalt in Höhe von monatlich
324 DM verlangt. Das Oberlandesgericht hat das angefochtene Urteil auf die Berufung des Beklagten abgeändert und die Klage
unter Zurückweisung der Anschlußberufung der Klägerin abgewiesen. Dagegen hat die Klägerin zugelassene Revision eingelegt,
mit der sie ihre zweitinstanzlichen Begehren weiterverfolgt.
Entscheidungsgründe:
1. Das Oberlandesgericht, dessen Urteil in FamRZ 1997, 90 veröffentlicht ist, hat die Auffassung vertreten, der Klägerin fehle die für die Geltendmachung des Klageanspruchs erforderliche
Aktivlegitimation, weil etwaige Unterhaltsansprüche des Kindes S. gegen den Beklagten nicht auf sie übergegangen seien. Hierzu
hat das Oberlandesgericht im wesentlichen ausgeführt: Ein Unterhaltsanspruch des Kindes gegen den Beklagten komme nur in Betracht,
wenn dem von Sozialhilfeleistungen lebenden Vater fiktive Einkünfte zugerechnet werden könnten. Ob die Voraussetzungen für
eine solche Zurechnung gegeben seien, wofür nach der durchgeführten Beweisaufnahme einiges spreche, könne letztlich dahinstehen.
Nach § 91 Abs. 1 Satz 1 BSHG gehe ein Unterhaltsanspruch des Hilfeempfängers für die Zeit, für die Hilfe gewährt werde, zwar kraft Gesetzes bis zur Höhe
der geleisteten Aufwendungen grundsätzlich auf den Sozialhilfeträger über. § 91 Abs. 2 Satz 1 BSHG enthalte jedoch eine Einschränkung dieser Legalzession. Hiernach gehe der Anspruch nur über, soweit ein Hilfeempfänger sein
Einkommen und Vermögen nach den Bestimmungen des Abschnitts 4 mit Ausnahme des § 84 Abs. 2 oder des § 85 Abs. 1 Nr. 3 Satz 2 BSHG einzusetzen habe. Nach den vorliegend maßgebenden Vorschriften der §§ 76 ff. BSHG sei - von hier nicht in Betracht kommenden Ausnahmen abgesehen - nur tatsächlich vorhandenes, nicht dagegen fiktives Einkommen
zu berücksichtigen. Durch die Regelung des § 91 Abs. 2 Satz 1 BSHG solle der Unterhaltspflichtige ebenso geschützt werden wie der Unterhaltsberechtigte. Dieser gesetzgeberische Wille werde
unterlaufen, wenn dem Unterhaltspflichtigen fiktive Einkünfte zugerechnet würden.
Das hält den Angriffen der Revision stand.
2. a) Soweit die Klägerin für die Zeit bis zur letzten mündlichen Verhandlung vor dem Berufungsgericht Sozialhilfeleistungen
für S. erbracht hat, ist sie nur aktivlegitimiert, wenn und soweit die Unterhaltsansprüche des Kindes gemäß § 91 Abs. 1 und 2
BSHG kraft Gesetzes auf sie übergegangen sind. Wegen der nach dem vorgenannten Zeitpunkt gewährten Sozialhilfe sowie für die Zukunft
kann die Klägerin bis zur Höhe der bisherigen monatlichen Aufwendungen nach § 91 Abs. 3 Satz 2 BSHG auf Leistung klagen, wenn die Hilfe voraussichtlich auf längere Zeit gewährt werden muß, was die Klägerin unwidersprochen
geltend gemacht hat. Auch insoweit gelten die sich aus § 91 Abs. 1 und 2
BSHG ergebenden Einschränkungen.
b) Im vorliegenden Fall kann einer Inanspruchnahme des Beklagten durch die Klägerin die Vorschrift des § 91 Abs. 2 Satz 1 BSHG entgegenstehen, nach der ein Anspruchsübergang unter anderem ausgeschlossen ist, soweit ein Hilfeempfänger sein Einkommen
- über Vermögen verfügt der Beklagte unstreitig nicht - nicht einzusetzen hat. Hieraus folgt, daß der Träger der Sozialhilfe
Einkünfte, die ein Hilfeempfänger nicht einzusetzen hätte, auch bei der Heranziehung Unterhaltsverpflichteter außer Betracht
zu lassen hat.
Das sozialhilferechtlich zu berücksichtigende Einkommen ist bei der dem Kind gewährten Hilfe zum Lebensunterhalt nach den
§§ 76 bis 78
BSHG zu ermitteln. Nach § 76 Abs. 1
BSHG gehören zum Einkommen im Sinne dieses Gesetzes alle Einkünfte in Geld oder Geldeswert mit Ausnahme einiger ausdrücklich aufgeführter
Einkünfte, unter anderem der Leistungen nach dem Bundessozialhilfegesetz. Über effektives Einkommen - abgesehen von den nicht zu berücksichtigenden Sozialhilfeleistungen - verfügt der Beklagte nicht.
Ihm sind unterhaltsrechtlich allenfalls fiktive Einkünfte wegen Verletzung seiner Erwerbsobliegenheit anzurechnen.
c) Ob derartige fiktive Einkünfte bei der anzustellenden sozialhilferechtlichen Vergleichsberechnung zu berücksichtigen sind,
ist in Rechtsprechung und Schrifttum streitig. Teilweise wird die Auffassung vertreten, im Rahmen des § 91 Abs. 2 Satz 1 BSHG sei insoweit eine einheitliche Behandlung von Unterhalts- und Sozialhilferecht geboten, bei der der weitergehenden unterhaltsrechtlichen
Beurteilung der Vorrang eingeräumt werden könne (OLG Karlsruhe - 2. Zivilsenat - FamRZ 1995, 615, 616; Hampel FamRZ 1996, 513, 517; Brudermüller FuR 1995, 17, 20 f.; einschränkend in FamRZ 1995, 1033, 1037; Heiß/Hußmann Unterhaltsrecht 16.47, 16.48). Nach überwiegender Meinung scheidet dagegen ein Anspruchsübergang im Falle
der unterhaltsrechtlichen Anrechnung fiktiver Einkünfte aus (OLG Karlsruhe - 16. Zivilsenat - FamRZ 1997, 179, 180; OLG Koblenz FamRZ 1996, 1548, 1549; OLG München FuR 1997, 277; Blaese BRAK-Mitt. 1995, 247, 248; Fröhlich, FamRZ 1995, 772, 773; Künkel, FamRZ 1991, 14, 23; 1996, 1509, 1512; Palandt/Diederichsen,
BGB, 57. Aufl. Rdn. 24 vor §
1601; H. Schellhorn, Das Verhältnis von Sozialhilferecht und Unterhaltsrecht S. 142 f.; W. Schellhorn, FuR 1990, 20, 25; Wendl/Scholz, Das Unterhaltsrecht in der familienrichterlichen Praxis 4. Aufl. § 6 Rdn. 505). Der Senat schließt sich
der zuletzt genannten Auffassung an.
d) Einkommen im Sinne des § 76 Abs. 1
BSHG sind nur die Einkünfte, die tatsächlich zur Verfügung stehen.
Anknüpfungspunkt für die Sozialhilfe ist, wie sich aus den §§ 3, 11, 88 und 90
BSHG ergibt, die tatsächliche Lage des Hilfsbedürftigen. Deshalb können auch nur tatsächliche Einkünfte in Geld oder Geldeswert
Einkommen im Sinne des § 76
BSHG sein. Fiktive Einkünfte sind grundsätzlich nicht zu berücksichtigen (LPK-BSHG 4. Aufl. § 76 Rdn. 12; Knopp/ Fichtner BSHG 7. Aufl. § 76 Rdn. 6; OVG Berlin info also 1992, 203, 204; vgl. auch Schellhorn/Jirasek/Seipp BSHG 15. Aufl. § 76 Rdn. 11).
Aus der Verletzung der Erwerbsobliegenheit, die unterhaltsrechtlich zur Anrechnung fiktiven Einkommens führen kann, sind im
Sozialhilferecht andere Konsequenzen als im Unterhaltsrecht zu ziehen (Wendl/Scholz aaO. § 6 Rdn. 534).
Nach § 25 Abs. 1 Satz 1 BSHG in der Fassung des Gesetzes zur Reform des Sozialhilferechts vom 23. Juli 1996 (BGBl. I S. 1088) hat derjenige, der sich
weigert, zumutbare Arbeit zu leisten oder zumutbaren Maßnahmen nach den §§ 19 und 20
BSHG nachzukommen, keinen Anspruch auf Hilfe zum Lebensunterhalt. Die Hilfe ist in einer ersten Stufe um mindestens 25 % des maßgebenden
Regelsatzes zu kürzen (§ 25 Abs. 1 Satz 3 BSHG). Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts dient § 25 Abs. 1
BSHG dazu, Maßnahmen der in §§ 18 ff. BSHG geregelten Hilfe zur Arbeit zu unterstützen.
Wegen seiner Koppelung mit diesen Hilfenormen ist § 25 Abs. 1
BSHG selbst Hilfenorm. Sein Hilfszweck zeigt sich insbesondere darin, daß die Weigerung, zumutbare Arbeit zu leisten, nicht zur
Folge hat, daß der Hilfesuchende (Hilfeempfänger) aus der Betreuung des Sozialhilfeträgers entlassen wird, sondern lediglich
den Verlust des Rechtsanspruchs auf die Hilfe zum Lebensunterhalt nach sich zieht.
Der Träger der Sozialhilfe wird bei der Gestaltung der Hilfe und ihrer Anpassung an die Besonderheiten des Einzelfalles freier
gestellt. Im Rahmen dieser Gestaltungsfreiheit kann z.B. - mindestens zeitweise - die Kürzung der Hilfe bis auf das Unerläßliche
als ein Mittel in Betracht kommen, den Hilfesuchenden zur Arbeit anzuhalten, um ihn so letzten Endes auf den Weg zur Selbsthilfe
zu führen (BVerwG FamRZ 1996, 106, 107 m.w.N.).
Hieraus wird deutlich, daß § 25 Abs. 1
BSHG, durch den auch der Nachranggrundsatz des 2 BSHG konkretisiert wird (LPK-BSHG aaO. § 25 Rdn. 3), keine allgemeine Sanktion für unsachgemäßes, vorwerfbares Verhalten des Hilfeempfängers darstellt und nicht als
Verwirkungstatbestand verstanden werden kann (Knopp/Fichtner, aaO. § 25 Rdn. 3; LPK-BSHG aaO. § 25 Rdn. 7). Daß der Bestimmung insbesondere nicht der Gedanke einer Anrechnung fiktiver Erwerbseinkünfte zugrunde liegt, ergibt
sich aus der regelmäßig erfolgenden zeitlichen Beschränkung einer Kürzung oder Streichung der Hilfe zum Lebensunterhalt. Wird
erkennbar, daß die Verweigerung jeglicher Hilfe untauglich ist, ist die Hilfe zum Lebensunterhalt gegebenenfalls wieder voll
aufzunehmen (Knopp/ Fichtner aaO; LPK-BSHG aaO.). Abgesehen davon kann die Weigerung eines Unterhaltspflichtigen, über seinen notwendigen Lebensunterhalt hinaus auch
Mittel zur Bestreitung des Bedarfs eines Unterhaltsberechtigten zu erarbeiten, keine Folgen im Sinne des § 25 Abs. 1
BSHG haben (LPK-BSHG aaO. 5 25 Rdn. 4). Entgegen der Auffassung der Revision kann deshalb nicht davon ausgegangen werden, Unterhaltsrecht und
Sozialhilferecht sanktionierten übereinstimmend die vorwerfbar verweigerte Arbeitsaufnahme. Eine Parallelität, die aus diesem
Grund Anlaß zu einer einheitlichen Behandlung im Rahmen des § 91 Abs. 2 Satz 1 BSHG geben könnte, liegt daher nicht vor.
Eine einheitliche Handhabung wäre auch, wie das Berufungsgericht zu Recht ausgeführt hat, mit dem Schutzzweck des § 91 Abs. 2
BSHG nicht zu vereinbaren. Dem Unterhaltspflichtigen soll der gleiche Schutz zugute kommen, den er in der Lage des Hilfeempfängers
hätte. In die Vorschrift des § 91 Abs. 2
BSHG sind durch das Gesetz zur Umsetzung des Föderalen Konsolidierungsprogramms vom 23. Juni 1993 (BGBl. I 944, 952) die Gedanken
der Schutzvorschriften des früheren § 91 Abs. 1 Satz 2 und Abs. 3 Satz 1 BSHG übernommen und zum Teil verstärkt worden (BR-Drucks. 121/93, S. 218). Wenn aber nach der Intention des Gesetzgebers durch
die Neufassung die Schuldnerschutzvorschriften stärkere Beachtung finden sollen (so auch Brudermüller, FamRZ 1995 aaO., darf
der angestrebte Schutz nicht durch eine einheitliche Betrachtungsweise von Unterhaltsrecht und Sozialhilferecht unterlaufen
werden. Auch deshalb muß es bei der Frage der Berücksichtigung fiktiver Einkünfte bei der unterschiedlichen Betrachtungsweise
bleiben. Soweit das Bundesverwaltungsgericht unter der Geltung des Bundessozialhilfegesetzes in der Fassung vom 18. September
1969 (BGBl. I S. 1688) von der früher bestehenden Möglichkeit des Sozialhilfeträgers, den Übergang eines Anspruchs des Hilfeempfängers
gegen einen. nach bürgerlichem Recht Unterhaltspflichtigen durch schriftliche Anzeige gemäß §§ 90, 91
BSHG in der damaligen Fassung zu bewirken, auch für den Fall einer nur zu unterstellenden Leistungsfähigkeit ausgegangen ist (BVerwGE
51, 61, 64), wird durch diese Entscheidung nach der Änderung des § 91
BSHG durch das Gesetz zur Umsetzung des Föderalen Konsolidierungsprogramms die Auffassung des Senats nicht in Frage gestellt.
Unterschiedliche Ergebnisse aus unterhaltsrechtlicher und sozialhilferechtlicher Sicht können im übrigen nicht nur bei der
hier vorliegenden Fallgestaltung auftreten. Sie können vielmehr immer dann zutage treten, wenn die sozialhilferechtliche Vergleichsberechnung
zu günstigeren Ergebnissen für den Unterhaltspflichtigen führt als das Unterhaltsrecht. Auch diesem Umstand ist für die Frage,
ob ein Anspruchsübergang stattgefunden hat bzw. stattfinden wird, Rechnung zu tragen.
Das Berufungsgericht ist deshalb zu Recht davon ausgegangen, daß etwaige Unterhaltsansprüche des Kindes S. gegen den Beklagten
nicht auf die Klägerin übergegangen sind bzw. übergehen werden.