Anspruch auf Rente wegen Erwerbsminderung infolge eingeschränkter Wegefähigkeit; Abwendung des Eintritts des Versicherungsfalls
der Erwerbsunfähigkeit durch Maßnahmen zur beruflichen Rehabilitation
Gründe:
I
Im Streit steht der Anspruch auf Rente wegen voller Erwerbsminderung infolge eingeschränkter Wegefähigkeit im Zeitraum vom
1.1.2009 bis zum 18.6.2010.
Die Klägerin führt den Rechtsstreit als Sonderrechtsnachfolgerin (§
56 Abs
1 S 1 Nr
1 SGB I) ihres im Jahre 1956 geborenen und während des Revisionsverfahrens (am 18.6.2010) verstorbenen Ehegatten (im Folgenden: Versicherter)
fort. Der Versicherte erlitt am 20.6.2005 einen Arbeitsunfall, bei dem er sich eine beidseitige Fersenbeinfraktur zuzog.
Der im Februar 2006 bei der Beklagten gestellte Antrag auf Rente wegen Erwerbsminderung blieb erfolglos (Bescheid vom 11.7.2006;
Widerspruchsbescheid vom 21.3.2007). Im Klageverfahren vor dem SG Darmstadt berief sich der Versicherte insbesondere auf die
durch die Berufsgenossenschaft anerkannte Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) von 50 vH als Folge des erlittenen Arbeitsunfalls
(Bewilligungsbescheid vom 4.5.2007) und auf den festgestellten Grad seiner Behinderung (GdB) von 70 sowie die Gewährung des
Merkzeichens "G" durch das Versorgungsamt Darmstadt (Bewilligungsbescheid vom 22.5.2007). Seine eingeschränkte Wegefähigkeit
erlaube es ihm nicht, einen Arbeitsplatz mit zumutbarem Aufwand zu erreichen. Infolge von Medikamenteneinnahme könne er keinen
Pkw führen. Nach Einholung medizinischer Gutachten (Dr. Hohneck vom 11.11.2007; Dr. Koch vom 2.5.2008) räumte die Beklagte
ein, dass der Versicherte nicht mehr in der Lage sei, Fußwege von mindestens 500 m ohne Unterbrechung zurückzulegen. Die Voraussetzungen
für die Gewährung von Leistungen nach der Verordnung für Kraftfahrzeughilfe zur beruflichen Rehabilitation (vom 28.9.1987,
BGBl I 2251 [KfzHV], zuletzt geändert durch Gesetz vom 23.12.2003, BGBl I 2848) seien erfüllt. Hierzu erging der Bescheid
vom 23.6.2008, in dem es im Übrigen wie folgt heißt:
"Wir bewilligen Ihnen deshalb Beförderungskosten im Rahmen der KfzHV. Diese werden übernommen, um den Arbeitsplatz zu erreichen. Beförderungskosten werden auch gezahlt, wenn Sie Wege zur Anbahnung
eines Arbeitsverhältnisses (Vorstellungsgespräch) zurücklegen müssen. Hierunter sind die Übernahme des Fahrpreises eines Taxis
oder die erstattungsfähigen Kosten nach dem Bundesreisekostengesetz für die Fahrt mit einem Pkw durch Dritte zu verstehen.
Darüber hinaus bewilligen wir Ihnen noch folgende Leistungen nach der KfzHV:
- Zuschüsse zur Beschaffung eines Kfz
- falls erforderlich, Zuschüsse zur Erlangung einer Fahrerlaubnis
- Übernahme der Kosten für die behinderungsbedingte Zusatzausstattung
Die vorstehenden Leistungen werden an Stelle der Beförderungskosten dann gewährt, wenn ein Arbeitsverhältnis dauerhaft begründet
wurde (z.B. Ablauf der Probezeit).
Sofern die Aufnahme eines Arbeitsverhältnisses ansteht, bitten wir Sie, sich umgehend mit uns wegen der Leistungsgewährung
in Verbindung zu setzen."
Im Termin zur mündlichen Verhandlung vor dem SG Darmstadt am 17.12.2008 gab die Terminsbevollmächtigte der Beklagten folgende
Erklärung ab:
"Unser Bescheid vom 23.06.2008 ist dahingehend zu verstehen, dass wir in jedem Fall verbindlich auch die Kosten für Taxifahrten
zum Arbeitsplatz und wieder zurück übernehmen, sofern es angesichts des Gesundheitszustandes des Klägers keine billigere Möglichkeit
im Hinblick auf die Beschaffung bzw. Ausrüstung eines Kfz gibt."
Daraufhin hat das SG Darmstadt die Klage mit Urteil vom 17.12.2008 abgewiesen: Der Versicherte sei nicht erwerbsgemindert;
seine eingeschränkte Wegefähigkeit werde durch die zugesagten Leistungen zur Teilhabe ausreichend kompensiert.
Im Berufungsverfahren hat die Beklagte den Eintritt der vollen Erwerbsminderung ab 20.6.2005 (Tag des Arbeitsunfalls) bis
zum 17.12.2008 (Tag der mündlichen Verhandlung vor dem SG) anerkannt und sich verpflichtet, dem Versicherten Rente wegen voller Erwerbsminderung (§
43 Abs
2 SGB VI) vom 1.2.2006 bis zum 31.12.2008 zu gewähren (angenommenes Teilanerkenntnis vom 18.5.2009; Ausführungsbescheid vom 30.4.2010).
Die weitergehende Berufung, gerichtet auf die Gewährung einer Rente wegen Erwerbsminderung ab 1.1.2009, hat das LSG mit Urteil
vom 19.3.2010 zurückgewiesen. Zur Begründung hat es im Wesentlichen ausgeführt, dass dem Versicherten - nach Erledigung des
Rechtsstreits bis zum 31.12.2008 gemäß §
101 Abs
2 SGG - ein Anspruch auf Rente wegen voller bzw teilweiser Erwerbsminderung über dieses Datum hinaus nicht zustehe. Er könne unter
den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes zumindest noch leichte körperliche Tätigkeiten mit qualitativen Einschränkungen
für mindestens sechs Stunden arbeitstäglich verrichten. Es liege weder eine Summierung ungewöhnlicher Leistungseinschränkungen
noch eine bedeutsame schwere spezifische Leistungsbehinderung vor.
Das Leistungsvermögen sei vor allen Dingen durch die Folgen der am 20.6.2005 erlittenen Sturzverletzung beeinträchtigt, was
die fachärztlichen Gutachten im Wesentlichen übereinstimmend bestätigt hätten. Eine Verschlossenheit des Arbeitsmarktes sei
aber nicht aufgrund eingeschränkter Wegefähigkeit des Versicherten anzunehmen (Hinweis auf BSG SozR 2200 § 1246 Nr 13 und
BSG vom 27.2.1980 - 1 RJ 32/79). Zwar stehe fest, dass der Versicherte aus gesundheitlichen Gründen keine Wegstrecken von 500 m Länge mehr in angemessener
Zeit zurücklegen könne und dass auch die Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel nicht mehr zumutbar sei. Zudem sei er auch
nicht mehr in der Lage, einen Pkw ohne behindertengerechte Zusatzausstattung zu führen und auf diese Weise den Weg von und
zur Arbeitsstätte zurückzulegen, sodass er über kein geeignetes Fahrzeug verfüge. Gleichwohl habe die Beklagte mit Bescheid
vom 23.6.2008 und klarstellender Erklärung vom 17.12.2008 ein konkretes Angebot zur Gewährung von Leistungen zur Teilhabe
abgegeben, das die eingeschränkte Wegefähigkeit des Versicherten ausreichend kompensiert habe. Dies genüge der Rechtsprechung
des BSG, um ausreichende Mobilität des Versicherten herzustellen (Hinweis auf BSG SozR 3-2600 § 44 Nr 10; Senatsurteil vom
14.3.2002 - B 13 RJ 25/01 R).
Offengeblieben sei in der Rechtsprechung des BSG jedoch, wann im Einzelfall ein Mobilitätsdefizit durch Leistungen zur Teilhabe
am Arbeitsleben behoben sei. Bislang sei nur entschieden, wann dies nicht der Fall sei. Für die hier infrage kommenden Mobilitätshilfen
reichten bloße Hinweise auf gesetzlich vorgesehene Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben wie auch auf Förderungsmöglichkeiten
nach der KfzHV nicht aus. Erforderlich sei, dass die Beklagte eine fallbezogene Konkretisierung der im Rehabilitationsrecht normierten Leistungen
vorgenommen habe. Es sei eine Ermessensentscheidung über die nach der KfzHV möglichen Mobilitätshilfen durch den Rentenversicherungsträger erforderlich. Das im Vorfeld eines noch nicht bestehenden
bzw noch nicht in Aussicht gestellten Arbeitsverhältnisses abgegebene Angebot könne allerdings nicht alle zur Konkretisierung
erforderlichen Einzelheiten enthalten, sondern dürfe noch Vorbehalte, Bedingungen und weitere Punkte zur Konkretisierung des
zukünftigen Sachverhalts aufweisen. Zu fordern sei jedoch, dass - im Sinne einer vorweggenommenen Ermessensausübung - eine
über die allgemeine Bindung an Gesetz und Recht hinausreichende Selbstbindung des Rentenversicherungsträgers zu erkennen sei,
aufgrund derer der Versicherte auf die bestimmte Handhabung des konkreten Sachverhalts vertrauen könne.
Unter Anlegung dieses Maßstabes sei das von der Beklagten abgegebene Leistungsangebot als noch ausreichend anzusehen. Sie
habe das "Ob" der Gewährung von Mobilitätshilfen bedingungslos anerkannt. Hinsichtlich der Ausgestaltung ihres Ermessens (das
"Wie") habe die Beklagte ebenfalls eine hinreichend konkrete Festlegung getroffen. Sie habe dem Versicherten gemäß § 9 KfzHV vorbehaltlos und in voller Höhe die Übernahme des Fahrpreises eines Taxis oder der erstattungsfähigen Kosten nach dem Bundesreisekostengesetz für die Fahrt mit einem Pkw durch Dritte in Aussicht gestellt für den Fall, dass wegen Anbahnung eines Arbeitsverhältnisses
oder für die Beförderung an den Arbeitsplatz ein entsprechender Beförderungsbedarf bestehe, weil der Versicherte noch nicht
über ein eigenes Kfz verfüge oder angesichts des Gesundheitszustandes außer Stande sei, ein im Rahmen der KfzHV förderungsfähiges Kfz mit behindertengerechter Zusatzausstattung zu führen. Ob die Beklagte mit dieser verbindlichen Kostenzusage
möglicherweise Leistungen versprochen habe, die mit dem Gesetzes- bzw Verordnungsrecht schlechthin nicht zu vereinbaren seien,
könne dahingestellt bleiben, weil die Bescheide der Beklagten bindend geworden seien. Die eingeschränkte Wegefähigkeit des
Versicherten stehe somit der Erzielung von Erwerbseinkünften auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt nicht mehr entgegen. Wenn der
Versicherte gleichwohl keinen Arbeitsplatz finde, realisiere sich das Risiko der Arbeitslosigkeit, das die Arbeitslosenversicherung
bzw der Träger der Grundsicherung für Arbeitsuchende zu tragen habe.
Mit der vom LSG zugelassenen Revision rügt die Klägerin sinngemäß die Verletzung von §
43 Abs
2 SGB VI. Sie ist der Ansicht, dass die Beklagte dem Versicherten unbestimmte Kosten für Taxifahrten zu einem fiktiven Arbeitsplatz
und zurück zugesichert habe, was nicht im Einklang mit dem Gesetzes- bzw Verordnungsrecht stehe. Dadurch werde deutlich, dass
es der Beklagten nicht darum gehe, Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben zu gewähren, die dem besonderen Bedarf und den
besonderen Umständen des Versicherten gerecht würden, sondern darum, die gebotene Einzelfallentscheidung über das beim Versicherten
bestehende Mobilitätsdefizit durch geeignete Leistungen zur Teilhabe leerlaufen zu lassen. Entgegen der Entscheidung des BSG
vom 21.3.2006 (SozR 4-2600 § 43 Nr 8 RdNr 22) könne im Fall des arbeitslosen Versicherten eine Leistungsbewilligung zur Teilhabe
die Wegeunfähigkeit des Versicherten nicht ausschließen. Sollte es - wie hier - keinen konkreten Arbeitsplatz geben, könnten
einzelne Umstände, wie die Wirtschaftlichkeit (Taxikosten), die zeitliche und gesundheitliche Zumutbarkeit (im Hinblick auf
die Entfernung des Arbeitsplatzes), die zumutbare Laufentfernung zwischen Wohnung und Einstieg ins Taxi oder die Entfernung
am Arbeitsplatz zwischen Taxihalt und Arbeitsplatz nicht geprüft werden. Dem Leistungsangebot der Beklagten fehle mithin die
konkrete Prüfung des Sachverhalts in Bezug auf einen konkreten Arbeitsplatz. Dass diese Verfahrensweise lediglich dazu führe,
einen bestehenden Rentenanspruch auszuhöhlen, folge aus der Entscheidung des SG Berlin vom 8.1.2008 (S 6 R 1224/06 - Juris RdNr 21). Der Entscheidung des LSG Niedersachsen-Bremen vom 17.12.2009 (L 10 R 270/08 - Juris RdNr 21) sei zu entnehmen, dass der Besitz und die Benutzung eines Kfz der Annahme einer die volle Erwerbsminderung
begründenden Wegeunfähigkeit nicht entgegenstehe.
Die Klägerin beantragt, die Urteile des Sozialgerichts Darmstadt vom 17. Dezember 2008 und des Hessischen Landessozialgerichts
vom 19. März 2010 aufzuheben und die Beklagte unter Abänderung des Bescheids vom 11. Juli 2006 in Gestalt des Widerspruchsbescheids
vom 21. März 2007 zu verurteilen, für den Versicherten ab 1. Januar 2009 bis zum 18. Juni 2010 Rente wegen voller Erwerbsminderung
zu gewähren.
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend.
II
Die Revision der Klägerin ist zulässig.
Das Zulässigkeitserfordernis gemäß §
164 Abs
2 S 3
SGG ist - entgegen der Ansicht der Beklagten - erfüllt. Danach muss die Revisionsbegründung einen bestimmten Antrag enthalten
und erkennen lassen, welche Norm des Bundesrechts der Revisionsführer als verletzt ansieht, wobei diese nicht ausdrücklich
genannt werden muss (BSG SozR 4-2500 § 106 Nr 17 RdNr 10). Diesen Anforderungen trägt die Revisionsbegründung ausreichend
Rechnung. Sie enthält einen bestimmten Antrag und lässt die als verletzt gerügte Rechtsnorm erkennen, indem sie ausführt,
das angefochtene Berufungsurteil habe den Anspruch auf Rente wegen Erwerbsminderung gemäß §
43 Abs
2 SGB VI zu Unrecht verneint.
Die Revision hat im Sinne der Aufhebung und Zurückverweisung an das LSG Erfolg (§
170 Abs
2 S 2
SGG). Es kann nicht entschieden werden, ob die Klägerin als Sonderrechtsnachfolgerin des verstorbenen Versicherten Anspruch auf
Rente wegen voller Erwerbsminderung ab Januar 2009 hat (1.). Die Feststellungen des LSG zu den von der Beklagten zugesagten
Teilhabeleistungen reichen hierfür nicht aus (2.).
Nicht mehr streitgegenständlich ist der Zeitraum vor Januar 2009, da die Beklagte den Rechtsanspruch der Klägerin anerkannt
und der Rechtsstreit insofern seine Erledigung gefunden hat (§
101 Abs
2 SGG).
1. Der Rentenanspruch richtet sich gemäß §
43 SGB VI (idF der Bekanntmachung vom 19.2.2002, BGBl I 754).
Auf der Grundlage der nicht mit Revisionsrügen angegriffenen tatsächlichen Feststellungen kann nicht entschieden werden, ob
der Versicherte voll erwerbsgemindert gewesen ist (§
43 Abs
2 SGB VI).
a) Neben der zeitlich ausreichenden Einsetzbarkeit des Versicherten am Arbeitsplatz gehört zur Erwerbsfähigkeit auch das Vermögen,
eine Arbeitsstelle aufzusuchen.
Eine gesundheitliche Beeinträchtigung, die dem Versicherten dies nicht erlaubt, stellt eine derart schwere Leistungseinschränkung
dar, dass der Arbeitsmarkt trotz eines vorhandenen vollschichtigen Leistungsvermögens als verschlossen anzusehen ist (Großer
Senat in BSGE 80, 24, 35 = SozR 3-2600 § 44 Nr 8 S 28). Diese Kriterien hat das BSG zum Versicherungsfall der Erwerbsunfähigkeit entwickelt, wie
ihn § 1247
RVO und § 44
SGB VI in der bis zum 31.12.2000 geltenden Fassung (aF) umschrieben hatten (vgl BSG SozR 3-2200 § 1247 Nr 10 mwN; SozR 3-2600 §
44 Nr 10). Auch der erkennende Senat hat das Vorhandensein eines Minimums an Mobilität als Teil des von §§
43, 44
SGB VI aF versicherten Risikos erachtet (BSG vom 14.3.2002 - B 13 RJ 25/01 R - Juris RdNr 20 mwN). Diese Maßstäbe gelten für den Versicherungsfall der vollen Erwerbsminderung (§
43 Abs
2 SGB VI) unverändert fort (vgl BSG vom 28.8.2002 - B 5 RJ 12/02 R - Juris RdNr 12; BSG SozR 4-2600 § 43 Nr 8 RdNr 15; Senatsurteil vom 12.12.2011 - B 13 R 79/11 R - zur Veröffentlichung in BSGE vorgesehen).
Konkret gilt: Hat wie hier der Versicherte keinen Arbeitsplatz und wird ihm ein solcher auch nicht konkret angeboten, bemessen
sich die Wegstrecken, deren Zurücklegung ihm möglich sein müssen - auch in Anbetracht der Zumutbarkeit eines Umzugs - nach
einem generalisierenden Maßstab, der zugleich den Bedürfnissen einer Massenverwaltung Rechnung trägt (vgl BSG SozR 3-2200
§ 1247 Nr 10 S 30; BSG SozR 2200 § 1247 Nr 53 S 106, Nr 56 S 111; Senatsurteil vom 14.3.2002 - B 13 RJ 25/01 R - Juris RdNr 21). Dabei wird angenommen, dass ein Versicherter für den Weg zur Arbeitsstelle öffentliche Verkehrsmittel
benutzen und von seiner Wohnung zum Verkehrsmittel sowie vom Verkehrsmittel zur Arbeitsstelle und zurück Fußwege absolvieren
muss. Eine (volle) Erwerbsminderung setzt danach grundsätzlich voraus, dass der Versicherte nicht vier Mal am Tag Wegstrecken
von über 500 m mit zumutbarem Zeitaufwand (also jeweils innerhalb von 20 Minuten) zu Fuß bewältigen und ferner zwei Mal täglich
während der Hauptverkehrszeit mit öffentlichen Verkehrsmitteln fahren kann. Bei der Beurteilung der Mobilität des Versicherten
sind alle ihm tatsächlich zur Verfügung stehenden Hilfsmittel (zB Gehstützen) und Beförderungsmöglichkeiten zu berücksichtigen
(vgl BSG SozR 3-2200 § 1247 Nr 10 S 30 f). Dazu gehört zB auch die zumutbare Benutzung eines eigenen Kfz (vgl BSGE 24, 142, 145 = SozR Nr 56 zu § 1246
RVO Bl Aa 44 Rückseite; Senatsurteil vom 14.3.2002 - B 13 RJ 25/01 R - Juris RdNr 21).
b) Auf dieser Grundlage tragen die tatsächlichen Feststellungen des LSG seine Annahme, dass der Versicherte nicht mehr über
die erforderliche Mobilität verfügt hat, um eine Arbeitsstelle des allgemeinen Arbeitsmarktes aus eigener Kraft aufzusuchen.
Er konnte weder Wegstrecken von 500 m Länge in angemessener Zeit zurücklegen, noch war ihm die Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel
mehr zumutbar. Er war auch nicht in der Lage, einen Pkw ohne behindertengerechte Zusatzausstattung zu führen.
Diese Feststellungen sind für den Senat bindend (§
163 SGG), da sie nicht mit zulässigen und begründeten Verfahrensrügen angegriffen worden sind. Auch die Beklagte geht davon aus,
dass dem Versicherten kein geeignetes Fahrzeug zur Bewältigung des Weges von und zur Arbeitsstätte zur Verfügung gestanden
hat.
2. Es kann nicht entschieden werden, ob die rentenrechtliche Wegefähigkeit nach der Rechtsprechung des BSG wiederhergestellt
worden ist (a). Es fehlt an ausreichenden Feststellungen des LSG, ob das Mobilitätsdefizit durch die von der Beklagten im
Bescheid vom 23.6.2008 und in ihrer Erklärung vom 17.12.2008 zugesagten Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben beseitigt
worden ist (b).
a) Nach der Rechtsprechung des BSG ist die Beseitigung der rentenrechtlichen Wegeunfähigkeit möglich, wenn der Rentenversicherungsträger
durch geeignete Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben eine ausreichende Mobilität des Versicherten wiederherstellt (vgl
BSG SozR 3-2600 § 44 Nr 10 S 38; Senatsurteil vom 14.3.2002 - B 13 RJ 25/01 R - Juris RdNr 23).
Rehabilitationsleistungen des Rentenversicherungsträgers richten sich nach §
9 Abs
1 S 1 Nr
2 und Abs
2 SGB VI, wonach Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben zur möglichst dauerhaften Wiedereingliederung in das Erwerbsleben erbracht
werden können, wenn die persönlichen und versicherungsrechtlichen Voraussetzungen (§§
10,
11 SGB VI) erfüllt sind und kein gesetzlicher Leistungsausschluss (§
12 SGB VI) vorliegt. Die Entscheidung der Frage, "ob" einem Versicherten Rehabilitationsleistungen zu gewähren sind, ist anhand der
og Vorschriften zu beurteilen. Erst die Entscheidung, "wie" die Rehabilitationsleistungen, etwa nach Art, Dauer, Umfang, Beginn
und Durchführung (§
13 S 1
SGB VI) zu erbringen sind, dh welche Leistungen in Betracht kommen, steht im pflichtgemäßen Ermessen des Rentenversicherungsträgers
(stRspr, vgl BSGE 85, 298, 300 = SozR 3-2600 § 10 Nr 2 S 3; BSG SozR 3-5765 § 10 Nr 1 S 3 f; Nr 3 S 15; BSG SozR 3-1200 § 39 Nr 1 S 3 f; BSG SozR 4-3250
§ 14 Nr 3 RdNr 35; BSG SozR 4-5765 § 7 Nr 1 RdNr 11). Der Rentenversicherungsträger erbringt Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben
nach den bereichsübergreifenden Vorschriften der §§
33 bis
38 SGB IX (§
16 SGB VI). Die Leistungen nach §
33 Abs
3 Nr
1 und Nr
6 SGB IX (Hilfen zur Erhaltung oder Erlangung eines Arbeitsplatzes; sonstige Hilfen zur Förderung der Teilhabe am Arbeitsleben, um
eine angemessene Beschäftigung oder eine selbständige Tätigkeit zu ermöglichen oder zu erhalten), umfassen ua die Kraftfahrzeughilfe
nach der KfzHV (§
33 Abs
8 S 1 Nr
1 SGB IX). Die KfzHV enthält eigene Leistungsvoraussetzungen (zu §§ 3, 4 KfzHV, vgl Senatsurteil vom 9.12.2010 - BSGE 107, 157 = SozR 4-5765 § 4 Nr 1, RdNr 16 ff) und besondere Ermessensregelungen (§ 9 KfzHV, vgl BSG SozR 4-5765 § 7 Nr 1 RdNr 11 mwN).
Hierzu hat der 5. Senat des BSG klarstellend ausgeführt, dass nicht bereits das Angebot von Maßnahmen zur beruflichen Rehabilitation
genüge, um den Eintritt des Versicherungsfalls abzuwenden, sondern erst mit deren erfolgreicher Durchführung die den Versicherungsfall
begründende fehlende Mobilität effektiv wiederhergestellt sei. Offengelassen hat der 5. Senat, unter welchen Voraussetzungen
ausnahmsweise Fälle denkbar seien, in denen nicht erst die Durchführung einer Rehabilitationsmaßnahme, sondern bereits eine
geeignete Leistungsbewilligung die Wegeunfähigkeit eines arbeitslosen Versicherten beseitige. Eine Fortentwicklung der bisherigen
Rechtsprechung könne daher nur in Betracht kommen, wenn die bewilligte Leistung den Versicherten in eine Lage versetze, die
derjenigen eines Versicherten gleiche, der einen Führerschein und ein privates Kfz besitze und dem die Anbahnung eines Arbeitsverhältnisses
sowie die Aufnahme einer Erwerbstätigkeit auch an einem über 500 m entfernt liegenden Arbeitsplatz zuzumuten sei, weil er
mit einigermaßen verlässlich einzuschätzendem Aufwand an Zeit und Kosten dorthin gelangen könne. Nur wenn der gehbehinderte
Versicherte jederzeit ein Kfz tatsächlich nutzen könne, sei es ihm möglich, trotz der Beschränkung seiner Wegefähigkeit ein
neues Arbeitsverhältnis einzugehen, sodass bei vollschichtigem Leistungsvermögen der Arbeitsmarkt trotz Wegeunfähigkeit nicht
als verschlossen angesehen werden könne (BSG SozR 4-2600 § 43 Nr 8 RdNr 16, 22).
Diesen aufgezeigten Maßstäben schließt sich der erkennende Senat an.
b) Ob demnach hier die Ausnahme - von dem Grundsatz, dass die zum Rentenanspruch führende Wegeunfähigkeit erst durch die erfolgreiche
Durchführung einer vom Leistungsträger bewilligten Maßnahme zur Teilhabe am Arbeitsleben behoben ist - vorliegt, dass die
rentenrechtliche Wegefähigkeit bereits durch eine geeignete Bewilligung von Teilhabeleistungen wiederhergestellt ist, kann
mangels ausreichender Feststellungen des LSG nicht entschieden werden.
Dem LSG kann insoweit noch gefolgt werden, als es dem Bescheid vom 23.6.2008 eine konkrete Bewilligung der Übernahme von Beförderungskosten
(einschließlich Taxikosten) in voller Höhe zur Anbahnung eines Arbeitsverhältnisses (Vorstellungsgespräche) entnimmt. Ob allerdings
die Übernahme der Beförderungskosten (einschließlich Taxikosten) in voller Höhe auch für den Fall der Aufnahme eines Arbeitsverhältnisses
im Bescheid vom 23.6.2008 geregelt worden ist, bleibt zweifelhaft.
Offensichtlich hat diese Unklarheit die Beklagte in der mündlichen Verhandlung vor dem SG zu dem Teilanerkenntnis und zu der Erklärung vom 17.12.2008 veranlasst, wonach "wir in jedem Fall verbindlich auch die Kosten
für Taxifahrten zum Arbeitsplatz und wieder zurück übernehmen". Der dieser Erklärung unmittelbar angefügte Zusatz, "sofern
es angesichts des Gesundheitszustandes des Klägers keine billigere Möglichkeit im Hinblick auf die Beschaffung bzw. Ausrüstung
eines KFZ gibt", zieht die vorangegangene, eindeutige Aussage des ersten Halbsatzes aber erneut in Zweifel. Denn die wortgetreue
Auslegung ("sofern") deutet auf einen Vorbehalt hin, unter den die Beklagte die Kostenzusage für Fahrten zum Arbeitsplatz
gestellt hat. Dann aber läge - unabhängig von der Frage der Rechtsnatur der Erklärung - eine Ungewissheit über die finanziellen
Hilfen bzw den eigenen Kostenaufwand des Versicherten bei Aufnahme eines Arbeitsverhältnisses vor, solange die Beklagte noch
nicht über denkbare "billigere" Möglichkeiten entschieden hätte. Bereits diese Unsicherheit hätte den Versicherten daran gehindert,
eine vergleichbare Lage mit der eines Versicherten einzunehmen, der einen Führerschein und ein privates Kfz besitzt und dem
die Anbahnung eines Arbeitsverhältnisses sowie die Aufnahme einer Erwerbstätigkeit auch an einem über 500 m entfernt liegenden
Arbeitsplatz zuzumuten ist, weil er mit einigermaßen einzuschätzendem Aufwand an Zeit und Kosten dorthin gelangen kann (BSG
SozR 4-2600 § 43 Nr 8 RdNr 16, 22). Soweit das LSG davon ausgegangen ist, dass die Beklagte dem Versicherten "vorbehaltlos"
die Übernahme von Taxikosten in voller Höhe zur Anbahnung eines Arbeitsverhältnisses und zum Arbeitsplatz zugesagt habe (S
19 Entscheidungsgründe LSG), ist der Senat hieran nicht gebunden. Denn hierin liegt keine tatsächliche Feststellung iS des
§
163 SGG. Vielmehr hat das LSG als Tatsachengericht den von ihm (S 6 des Berufungsurteils) festgestellten Wortlaut der Erklärung vom
17.12.2008 ohne Sachverhaltsermittlungen und ohne weitere Begründung in einer mit ihrem Wortlaut in Widerspruch stehenden
Weise ausgelegt. Dies ist keine Tatsachenfeststellung, sondern eine (fehlerhafte) Rechtsanwendung, weil das LSG die von ihm
selbst festgestellten Umstände nicht vollständig verwertet hat (s hierzu BSGE 75, 92, 96 = SozR 3-4100 § 141b Nr 10 S 47).
Andererseits kann auch nicht ausgeschlossen werden, dass die Erklärung in der konkreten Situation der mündlichen Verhandlung
vor dem SG - nach dem "wirklichen Willen" (§
133 BGB) der Beklagten, soweit aus dem Empfängerhorizont erkennbar (vgl BSG vom 26.1.1983 - 1 RA 11/82 - Juris RdNr 15, insoweit nicht in SozR 1300 § 31 Nr 3 abgedruckt) - anders zu verstehen war, als es ihr Wortlaut nahelegt.
Denn möglich ist auch, dass die Übernahme von Taxikosten ohne Eigenbeteiligung für den Hin- und Rückweg zum Arbeitsplatz so
lange zugesichert werden sollte, bis die Beklagte nach Begründung einer dauerhaften Erwerbstätigkeit unter Berücksichtigung
der dann gegebenen individuellen, wirtschaftlichen Verhältnisse des Versicherten über Leistungen nach der KfzHV (§ 2 Abs 1) unter Festlegung eines ggf zu tragenden Eigenanteils (vgl dazu BSG SozR 3-5765 § 9 Nr 2) oder über Zuschüsse zu den Beförderungskosten nach der Härtefallregelung (§ 9 KfzHV; vgl BSG SozR 4-5765 § 9 Nr 1; BSG SozR 3-4100 § 56 Nr 10) endgültig entscheiden würde. Bescheide solchen Inhalts hätten im Übrigen der Arbeitsanweisung
der Deutschen Rentenversicherung (R9.8 zu § 9 KfzHV, Stand Dezember 2011) entsprochen. Für den Versicherten hätte dann Gewissheit bestanden, welche konkreten Mobilitätshilfen
ihm bis zur Begründung eines dauerhaften Arbeitsverhältnisses (nach Ablauf der Probezeit) zur Verfügung gestanden hätten.
Dann hätte nach der Rechtsprechung des BSG (BSG SozR 4-2600 § 43 Nr 8 RdNr 16, 22) hinreichende Verlässlichkeit bestanden,
mit welchem Aufwand an Zeit und Kosten er zum Arbeitsplatz hätte gelangen können. Das LSG wird daher Feststellungen zu treffen
haben, wie die Erklärung der Beklagten vom 17.12.2008 in der mündlichen Verhandlung vor dem SG zu verstehen war.
Bei der Prüfung, ob die Beklagte die Mobilität des Versicherten wiederhergestellt hat (zu den Anforderungen vgl Senatsurteil
vom 12.12.2011 - B 13 R 79/11 R - zur Veröffentlichung in BSGE vorgesehen), kommt es entgegen der Ansicht der Klägerin nicht darauf an, ob ein Arbeitsverhältnis
bereits besteht oder zumindest konkret in Aussicht gestellt ist (so aber Sächsisches LSG vom 21.1.2003 - L 5 RJ 190/01; dem folgend SG Berlin vom 8.1.2008 - S 6 R 1224/06, beide in Juris). Ein solches Erfordernis widerspräche bereits dem Wortlaut von §
33 Abs
3 Nr
1 SGB IX, wonach Leistungen der Teilhabe am Arbeitsleben ua als Hilfen zur "Erlangung eines Arbeitsplatzes" erfolgen können. Auch
die Härtefallregelung von § 9 Abs 1 S 1 Nr 2 KfzHV sieht Hilfen zur "Aufnahme einer beruflichen Tätigkeit" vor. Dem Rehabilitationsrecht lassen sich keine rechtlichen Anhaltspunkte
für die Sichtweise entnehmen, mit der Prüfung von Teilhabeleistungen müsse so lange zugewartet werden, bis der Versicherte
zumindest eine konkrete Aussicht auf eine Erwerbstätigkeit hat. Dem stünde im Übrigen der aus §
9 Abs
1 S 2
SGB VI abgeleitete Grundsatz "Rehabilitation vor Rente" entgegen (vgl Senatsurteil vom 12.12.2011 - B 13 R 79/11 R - zur Veröffentlichung in BSGE vorgesehen - mwN).
Weiter kann dahingestellt bleiben, ob der Bescheid vom 23.6.2008 mit Gesetzes- und Verordnungsrecht im Einklang steht. Denn
der Versicherte hat diesen Bescheid nicht angefochten, er ist mithin bindend geworden (§
77 SGG). Aus diesem Grund können auch die weiteren Einwände der Klägerin offenbleiben. Wenn sie der Meinung ist, die Teilhabeleistungen
seien ungeeignet oder dem Versicherten aus gesundheitlichen oder zeitlichen Gründen nicht zuzumuten gewesen, um die ausreichende
Mobilität von der Wohnung bis an den Arbeitsplatz zu gewährleisten, hätte sie den Teilhabebescheid anfechten müssen. Das ist
jedoch nicht geschehen.
Sollte das LSG nach Durchführung der nachzuholenden Ermittlungen zu dem Ergebnis kommen, dass die Beklagte die rentenrechtliche
Wegefähigkeit des Versicherten nicht wiederhergestellt hat, so wird es weiter zu prüfen haben, ob der Unfallversicherungsträger
als zuständiger Träger für gleichartige Leistungen (vgl Hirsch in LPK-
SGB VI, 2. Aufl 2010, §
12 RdNr
3) einen entsprechenden Bescheid entweder über Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben (§
35 Abs
1 SGB VII iVm §
33 Abs
3 Nr
1 und 6, Abs
8 Nr
1 SGB IX) oder über ergänzende Leistungen zur Teilhabe (§
39 Abs
1 Nr
1 SGB VII iVm §
40 SGB VII) erteilt hat, mit dem das Mobilitätsdefizit des Versicherten ab 1.1.2009 wirksam beseitigt worden sein könnte. Da nach den
bindenden Feststellungen des LSG die volle Erwerbsminderung ab dem Tag des Arbeitsunfalls (20.6.2005) aufgrund eingeschränkter
Wegeunfähigkeit eingetreten ist, wäre die - an sich vorrangige - Leistungszuständigkeit des Unfallversicherungsträgers für
Teilhabeleistungen zu prüfen (§
12 Abs
1 Nr
1 SGB VI).
Das LSG wird abschließend über die gesamten Kosten des Rechtsstreits nach §
193 SGG zu befinden haben (BSG SozR 5870 §
2 Nr 62 S 201 f).