Verletzung der Amtsermittlungspflicht im sozialgerichtlichen Verfahren, Unterlassen der Zeugenvernehmung
1. Wenn ein Gericht Zeugen, die vom Kläger zum Beweis für eine günstige Tatsache benannt worden sind, nicht vernimmt, sondern
aufgrund eigener Mutmaßungen unterstellt, dass die Zeugen diese Tatsache nicht bekunden werden, so verletzt es seine Pflicht
zur Erforschung des Sachverhalts.
2. Wenn es auf die unter Beweis gestellten Tatsachen nicht ankommt, diese bereits erweisen sind oder das Beweismittel ungeeignet
oder unerreichbar ist, so darf ein Gericht auf die Vernehmung eines ordnungsgemäß benannten Zeugen verzichten. [Nicht amtlich
veröffentlichte Entscheidung]
Gründe:
I. Mit Urteil vom 20.12.2006 hat das Bayerische Landessozialgericht (LSG) einen Anspruch der Klägerin auf höhere Regelaltersrente
unter Anerkennung weiterer rentenrechtlicher Zeiten in Rumänien nach dem Fremdrentengesetz für die Zeit von Oktober 1988 bis Juli 1990 verneint. Weder "echte" rumänische Beitragszeiten noch rumänische Beschäftigungszeiten
seien glaubhaft gemacht, dies gelte insbesondere auch für die Tätigkeit als Bäckerin in der LPG G..
Mit ihrer Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision in diesem Urteil rügt die Klägerin als Verfahrensfehler bei der
Sachaufklärung ua, das LSG habe ihren im Termin zur mündlichen Verhandlung am 20.12.2006 gestellten Antrag, zur Glaubhaftmachung
eines Beschäftigungsverhältnisses in der streitigen Zeit die Zeugen L. J. und E. H. zum Vorliegen einer ganztägigen Beschäftigung
in Rumänien zu vernehmen, nicht übergehen dürfen.
II. Die Beschwerde ist zulässig und begründet. Der gerügte Verfahrensverstoß liegt vor.
Die Klägerin hat die Verletzung der Amtsermittlungspflicht nach §
103 des Sozialgerichtsgesetzes (
SGG) hinreichend bezeichnet; die Rüge trifft auch zu. Das LSG ist dem von der Klägerin in der mündlichen Berufungsverhandlung
og gestellten Beweisantrag zu Unrecht nicht gefolgt.
Die Klägerin hat in der mündlichen Berufungsverhandlung laut Sitzungsniederschrift vom 20.12.2006 ua den Antrag gestellt:
"zum Nachweis der Tatsache, dass sie von Oktober 1988 bis Juli 1990 gegen Entgelt in der LPG beschäftigt war, die Zeugen L. J. und E. H. zu befragen."
Bei dieser Erklärung der Klägerin handelt es sich um einen prozessordnungsgemäßen Beweisantrag iS des §
160 Abs
2 Nr
3 SGG, der den Beweisgegenstand (Zeugenvernehmung der benannten Personen, deren - deutsche - Anschriften bekannt waren [Bl 76,
77 SG-Akte]) und das Beweisthema (Vorliegen einer maßgeblichen Beschäftigung in der LPG) ausreichend bezeichnet hat. Die Klägerin hat hiermit dem LSG in der mündlichen Verhandlung hinreichend deutlich vor Augen
geführt, dass sie die gerichtliche Aufklärungspflicht in einem bestimmten Punkt noch nicht als erfüllt ansieht ("Warnfunktion",
vgl BSG SozR 3-1500 § 160 Nr 9 S 21).
Das LSG ist dem Beweisantrag ohne hinreichende Begründung nicht gefolgt. Es hätte sich gedrängt fühlen müssen aufzuklären,
ob mit Hilfe der beantragten Beweiserhebung eine maßgebliche Beschäftigung in der streitigen Zeit glaubhaft gemacht werden
kann. Es durfte den og Beweisantrag der Klägerin nicht mit der Begründung übergehen, eine Vernehmung der Zeugen L. und E.
sei nicht erforderlich, weil aufgrund der schriftlichen Zeugenaussagen unterstellt werde, dass die Klägerin in der streitigen
Zeit bei der LPG G. gegen Entgelt als Aushilfskraft beschäftigt gewesen sei; nach den vorliegenden Beweismitteln und den früheren Angaben
der Klägerin sei aber bereits überwiegend wahrscheinlich, dass die Klägerin ab Oktober 1988 nicht täglich in der LPG G. beschäftigt gewesen sei.
Zur Begründung des Beweisantrags hat die Klägerin in der mündlichen Verhandlung laut Sitzungsniederschrift vorgetragen, dass
die Zeugen bereits schriftlich eine tägliche Arbeitsleistung bestätigt hätten; Zweifel daran könnten bei persönlicher Befragung
ausgeräumt werden. Damit bezog sich das Beweisthema darauf, ob die Klägerin in der Zeit von Oktober 1988 bis Juli 1990 täglich
gegen Entgelt in der LPG beschäftigt war. Gegenstand des Beweisantrags war auch nach der Auffassung des LSG eine ganztägige Vollzeitbeschäftigung
in der LPG und nicht nur eine ganztägige Teilzeitbeschäftigung. Auf die Vernehmung eines ordnungsgemäß benannten Zeugen darf ein Gericht
nur in engen Ausnahmefällen verzichten, etwa wenn es auf die unter Beweis gestellten Tatsachen nicht ankommt, diese bereits
erwiesen sind oder das Beweismittel ungeeignet oder unerreichbar ist (BSG vom 16.5.2007 - B 11b AS 37/06 B -, veröffentlicht in Juris). Diese Voraussetzungen lagen vorliegend nicht vor. Die Tatsache der täglichen Arbeit der Klägerin
als mehr als geringfügig Beschäftigte, die unter Beweis gestellt war, hat das Berufungsgericht gerade nicht unterstellt, vielmehr
hat es nur als wahr unterstellt, dass die Klägerin ganztags als Aushilfskraft beschäftigt gewesen sei. Soweit das LSG dem
Beweisantrag mit der Begründung nicht nachgekommen ist, die Zeugen hätten in ihren schriftlichen Erklärungen keine tägliche
Arbeit, sondern nur eine ganztägige Arbeit bescheinigt, hat das LSG das Ergebnis der Beweisaufnahme unzulässig vorweggenommen.
Ein Gericht verletzt seine Pflicht zur Erforschung des Sachverhalts (§
103 SGG), wenn es Zeugen, die von dem Kläger zum Beweis für eine günstige Tatsache benannt worden sind, nicht vernimmt, sondern aufgrund
eigener Mutmaßungen unterstellt, dass die Zeugen diese Tatsache nicht bekunden werden (BSGE 2, 273; BSG vom 9.10.2001 - B 1 KR 12/01 R -, veröffentlicht in Juris). Vorliegend ist das LSG offenbar davon ausgegangen, die Zeugen würden - wie es das LSG ihren
schriftlichen Angaben entnommen hatte - nur bestätigen, dass die Klägerin ganztags beschäftigt gewesen sei und nicht, dass
die Klägerin täglich mehr als nur geringfügig gearbeitet habe. Nach dem Beweisantrag war es jedoch nicht ausgeschlossen, dass
die Zeugen bei Befragung zu dem Beweisthema des Umfangs des Beschäftigungsverhältnisses erklärt hätten, die Klägerin habe
täglich gearbeitet.
Auf dem oben aufgezeigten Verfahrensmangel kann die Entscheidung des LSG beruhen. Es ist nicht auszuschließen, dass das Berufungsgericht
nach weiteren Ermittlungen zu einem für die Klägerin günstigeren Ergebnis gekommen wäre.
Zur Vermeidung weiterer Verfahrensverzögerungen hat der Senat die Sache im Beschlusswege nach §
160a Abs
5 SGG zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückverwiesen.
Die Kostenentscheidung bleibt der das Verfahren abschließenden Entscheidung vorbehalten.