Rückwirkende Gewährung einer Rente nach dem ZRBG; Verfassungsmäßigkeit der Begrenzung auf einen Zeitraum von vier Jahren
Gründe:
I
Die Beteiligten streiten über einen früheren Beginn der Regelaltersrente der Klägerin.
Die 1925 in Polen geborene Klägerin ist israelische Staatsangehörige und lebt in Israel. Sie ist anerkannte Verfolgte des
Nationalsozialismus und hat eine Entschädigung nach dem Bundesentschädigungsgesetz erhalten.
Die Klägerin hatte im September 2002 einen Antrag auf Regelaltersrente unter Berücksichtigung im Ghetto Warschau zurückgelegter
Ghetto-Beitragszeiten von Oktober 1940 bis März 1943 nach dem Gesetz zur Zahlbarmachung von Renten aus Beschäftigungen in
einem Ghetto (ZRBG) gestellt. Die Beklagte hatte mit Bescheid vom 23.12.2004 den Anspruch mit der Begründung abgelehnt, es
sei nicht glaubhaft, dass die Klägerin eine entgeltliche Beschäftigung aus freiem Willensentschluss in einem Ghetto ausgeübt
habe; bei den behaupteten Arbeiten habe es sich vielmehr um Zwangsarbeiten gehandelt, die nach dem ZRBG nicht zu berücksichtigen
seien. Der hiergegen erhobene Widerspruch blieb erfolglos (Widerspruchsbescheid der Beklagten vom 24.5.2005).
Auf den im Juli 2009 gestellten Antrag der Klägerin auf Überprüfung des ablehnenden Bescheids erkannte die Beklagte mit Bescheid
vom 29.3.2010 den Zeitraum vom 2.10.1940 bis 31.3.1943 als Beitragszeit nach dem ZRBG an; sie gewährte Regelaltersrente ab
dem 1.1.2005 mit einem Zugangsfaktor 1,840; es ergab sich eine laufende Rentenzahlung iHv 278,04 Euro monatlich ab April 2010
sowie eine Nachzahlung von 18 642,52 Euro für die Zeit vom 1.1.2005 bis 31.3.2010. Der auf einen früheren Rentenbeginn gerichtete
Widerspruch blieb erfolglos (Widerspruchsbescheid vom 24.8.2010). Die Beklagte habe ihre ablehnende Entscheidung (Bescheid
vom 23.12.2004 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 24.5.2005) gemäß § 44 SGB X überprüft und mit dem nun angefochtenen Bescheid die begehrte Rente bewilligt. Nach § 44 Abs 4 SGB X würden bei Rücknahme eines Verwaltungsakts mit Wirkung für die Vergangenheit Sozialleistungen längstens für einen Zeitraum
von bis zu vier Jahren vor der Rücknahme erbracht, vom Beginn des Jahres an gerechnet, in dem die Rücknahme beantragt worden
sei. Ausgehend von dem mit Schriftsatz vom 24.7.2009 gestellten Überprüfungsantrag werde die Rente daher zutreffend ab dem
1.1.2005 geleistet.
Das SG hat die Beklagte unter Abänderung des Bescheids vom 29.3.2010 sowie des Widerspruchsbescheids vom 24.8.2010 verurteilt, unter
Rücknahme des Bescheids vom 23.12.2004 und des Widerspruchsbescheids vom 24.5.2005 die Regelaltersrente der Klägerin insofern
nach Maßgabe der gesetzlichen Bestimmungen neu festzustellen, als die Rente bereits am 1.7.1997 beginne und dementsprechend
eine weitere Nachzahlung für die Zeit vom 1.7.1997 bis 31.12.2004 zu leisten sei (Urteil vom 24.3.2011): Es lägen die Voraussetzungen
einer Neufeststellung der Altersrente gemäß § 44 Abs 1 SGB X vor. Unter Berücksichtigung der geänderten Rechtsprechung des BSG vom 2. und 3.6.2009 (BSG [13. Senat] vom 2.6.2009 - BSGE 103, 190 = SozR 4-5075 § 1 Nr 7; BSGE 103, 201 = SozR 4-5075 § 1 Nr 5 und B 13 R 85/08 R; BSG [5. Senat] vom 3.6.2009 - BSGE 103, 220 = SozR 4-5075 § 1 Nr 8; B 5 R 66/08 R) könne die Klägerin auf ihren im September 2002 gestellten Rentenantrag bereits ab 1.7.1997 Altersrente beanspruchen. Dies
folge aus §
3 Abs
1 ZRBG iVm §
99 Abs
1 SGB VI, wonach ein vor Juli 2003 gestellter Rentenantrag als schon am 18.6.1997 gestellt gelte. Auch aus den Gesetzesmaterialien
(Hinweis auf die BT-Drucks 14/8583 S 3 und 6) folge, dass eine rückwirkende Rentenzahlung ab 1.7.1997 sichergestellt werden
sollte. Diesem Anspruch stünden weder § 44 Abs 4 SGB X noch §
100 Abs
4 SGB VI entgegen, die aus Gründen der allgemeinen Gleichbehandlung (Art
3 Abs
1 GG) im Wege verfassungskonformer Auslegung nicht anzuwenden seien. Vorrangig seien vielmehr die speziellen Vorschriften von
§
99 Abs
1 S 2
SGB VI iVm §
3 Abs
1 und
2 ZRBG einschlägig.
Diese Gesetzesauslegung sei geboten, weil ansonsten die Gruppe der "Vorkämpfer" für Ghetto-Renten ungerechtfertigt von den
Vorteilen der geänderten Rechtsprechung zum ZRBG ausgeschlossen bliebe. Diese Konstellation sei mit jener vergleichbar, wie
sie dem Urteil des BSG vom 3.5.2005 (BSGE 94, 294 = SozR 4-2600 §
306 Nr 1) zur Nichtanwendung von §
306 SGB VI bei Bestandsrentnern, die in Ghettos gearbeitet haben, zugrunde gelegen habe. Es sei nicht hinzunehmen, dass ein Teil der
Gruppe, die ihren Rentenantrag fristgerecht noch vor Juli 2003 gestellt habe, Leistungen erst ab Januar 2005 erhalte, während
der andere Teil derselben Gruppe Rentenleistungen rückwirkend schon ab 1.7.1997 erhalte. Dieser Teil profitiere nur davon,
dass über die Rentenanträge nicht mehr vor den Urteilen des BSG vom 2. und 3.6.2009 (aaO) rechtskräftig entschieden worden sei. Diese Ungleichbehandlung beruhe letztendlich auf der zufälligen
Dauer der Verwaltungs- bzw Gerichtsverfahren.
Eine solche Ungleichbehandlung gleich gelagerter Sachverhalte sei nicht zu rechtfertigen. Dies werde durch die Rechtsprechung
des BSG vom 2. und 3.6.2009 (aaO) und die Gesetzesmaterialien (BT-Drucks 14/8583 S 6) bestätigt, wonach möglichst alle Verfolgten,
die in einem Ghetto eine Beschäftigung ausgeübt haben, in den Genuss der nach dem ZRBG vorgesehenen Rentenzahlungen kommen
sollten. Dies gebiete zudem der in den Gesetzesmaterialen (aaO) zum Ausdruck kommende Entschädigungsgedanke. Einer diesem
Zweck Geltung verschaffende Gesetzesauslegung sei der Vorzug gegenüber jeder anderen Gesetzesinterpretation zu geben, die
die Wiedergutmachung erschwere oder zunichte mache. Diese Auslegungsregel folge insbesondere aus der Entscheidung des BGH
vom 22.2.2001 (IX ZR 113/00 - LM BEG 1956 § 35 Nr 37) und des BSG vom 3.5.2005 (BSGE 94, 294 = SozR 4-2600 § 306 Nr 1).
Mit ihrer vom SG zugelassenen Sprungrevision, deren Einlegung die Klägerin zugestimmt hat, rügt die Beklagte die Verletzung von § 44 Abs 4 SGB X, §
99 Abs
1 S 2
SGB VI iVm § 3 Abs 1 S 1 ZRBG. Der Anwendung von § 44 Abs 4 SGB X stünden keine spezialgesetzlichen Sonderregelungen entgegen. Insbesondere treffe § 3 Abs 1 S 1 ZRBG keine von § 44 Abs 4 SGB X abweichende Regelung. Demnach gelte ein bis zum 30.6.2003 gestellter Antrag auf Rente aus der gesetzlichen Rentenversicherung
als am 18.6.1997 gestellt. Der mit Schriftsatz vom 24.7.2009 gestellte Überprüfungsantrag sei daher verfristet iS von § 3
Abs 1 S 1 ZRBG. Der Rentenantrag vom September 2002 sei unmaßgeblich, weil er nach §
77 SGG bindend abgelehnt worden sei. Gegen die Annahme, dass auf einen außerhalb der Frist von § 3 Abs 1 S 1 ZRBG gestellten Überprüfungsantrag
die Rente immer rückwirkend zum 1.7.1997 gezahlt werden müsse, sprächen der eindeutige Wortlaut der Norm, die Gesetzesbegründung
und Entstehungsgeschichte des ZRBG. Eine verfassungskonforme Auslegung unter Rückgriff auf Art
3 Abs
1 GG scheide daher aus. Der sachliche Grund für die Ungleichbehandlung der vom SG gegenübergestellten Vergleichsgruppen sei die bestandskräftige Ablehnung des ersten Rentenantrags. Die vom SG herangezogene zufällige Verfahrensdauer sei unbeachtlich. Das Verfassungsrecht gewichte die Bestandskraft einer Entscheidung
grundsätzlich höher als deren Rechtswidrigkeit. Anhaltspunkte für eine willkürliche Rechtsanwendung lägen nicht vor, weil
sich die als rechtswidrig erkannten Verwaltungsentscheidungen an dem Urteil des BSG vom 18.6.1997 (BSGE 80, 250 = SozR 3-2200 § 1248 Nr 15) orientiert hätten. Die Klägerin könne aus dem Urteil des BSG vom 3.5.2005 (BSGE 94, 294 = SozR 4-2600 § 306 Nr 1) mangels vergleichbarer Fallgestaltung kein für sie günstigeres Ergebnis herleiten. Es liege auch keine planwidrige
Gesetzeslücke vor, die im Wege der richterlichen Rechtsfortbildung durch die Nichtanwendung von § 44 Abs 4 SGB X zu schließen sei. Bei Verabschiedung des ZRBG sei dem Gesetzgeber die Vorschrift von § 44 SGB X bekannt gewesen, deren Anwendung er im Geltungsbereich des ZRBG nicht ausgeschlossen habe.
Die Beklagte beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Düsseldorf vom 24. März 2011 aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Die inzwischen nicht mehr rechtsanwaltlich vertretene Klägerin hat durch ihren vormaligen Prozessbevollmächtigten das angefochtene
Urteil verteidigt und ergänzend darauf hingewiesen, dass die Anwendung von § 44 Abs 4 SGB X einen Verstoß gegen die spezialgesetzlichen Regelungen von §
99 Abs
1 S 2
SGB VI iVm § 3 ZRBG darstelle und hierin auch ein Verstoß gegen den allgemeinen Gleichheitssatz aus Art
3 Abs
1 GG liege.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung des Senats durch Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt
(§
124 Abs
2, §
153 Abs
1, §
165 S 1
SGG).
II
Die Revision der Beklagten ist begründet. Zu Unrecht hat das SG die angefochtenen Bescheide der Beklagten abgeändert und die Altersrente bereits ab 1.7.1997 zugesprochen.
Gegenstand des vorliegenden Verfahrens ist ein Anspruch der Klägerin auf Zahlung ihrer Altersrente auch für die Zeit vor dem
1.1.2005. Die übrigen im Bescheid vom 29.3.2010 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 24.8.2010 enthaltenen Regelungen
sind nicht angefochten.
Die Bescheide der Beklagten sind im streitigen Umfang nicht rechtswidrig. Eine weitergehende Rückwirkung der im Bescheid vom
29.3.2010 bewilligten Rentenzahlung als, wie dort geregelt, ab 1.1.2005 steht der Klägerin nicht zu.
Der Senat verweist zur Begründung seiner Entscheidung im Einzelnen auf sein - den Beteiligten bereits bekanntes - Urteil vom
7.2.2012 (BSGE 110, 97 = SozR 4-5075 § 3 Nr 2) wie auch auf das des 5. Senats vom 8.2.2012 (BSG SozR 4-5075 § 3 Nr 1). Das BVerfG hat die gegen zwei Entscheidungen des 5. Senats in Parallelfällen (Urteile vom 8.2.2012 - B 5 R 42/11 R und B 5 R 76/11 R) gerichteten Verfassungsbeschwerden ohne nähere Begründung nicht zur Entscheidung angenommen (Beschlüsse vom 2.7.2013 -
1 BvR 1444/12 bzw vom 17.6.2013 - 1 BvR 1008/12).
Die Entscheidung über die Kosten folgt dem Verfahrensausgang (§
193 SGG).